Mittwoch, 1. Mai 2024

Hat das Denken ein Gesetz?

                                        aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Das ist wieder das kitzliche Thema Denkgesetz. Es ist das verbleibende Mysterium der Wissenschaftslehre, nämlich das Paradox der Freiheit. Freiheit ist das Vermögen, absolut anzufangen. Doch kaum hat das Denken angefangen, erweist es sich als in allerlei Gesetze verfangen. Das wäre nur so zu verstehen, dass jeder Schritt, den es wirklich tut, von nun an in Ewigkeit gültig ist und auch von der absolut freien Reflexion im Nachhinein nicht revi-diert werden kann. Und so würde Schritt für Schritt ein Denkgesetz aus dem andern her-vorgehen.

Doch immer wieder finden sich bei Fichte Stellen, aus denen herausklingt, dass der letzte Zweck der Vernunft der vernünftigen Tätigkeit vorgegeben sei. Dies Schwanken hat seine Wurzel in einer vorwissenschaftlichen romantischen Grundanschauung, die gar nicht in die Philosophie gehört, sondern in Fichtes Lebensbeschreibung. Wer sich heute der Wissen-schaftslehre zuwendet, lässt sie füglich außer Acht.

Damit ist das Schwanken behoben, nicht aber das Paradox: die fortschreitend sich fesselnde Freiheit - die aber doch eine unendliche bleiben soll.

Zurück auf Anfang: Die Wissenschaftslehre soll sein die Vollendung der Kant'schen Ver-nunftkritik; soll erhellen, wie, nämlich aus welchem Rechtsgrund Vernunft im 18. Jahrhun-dert* ihren Herrschaftsanspruch erhebt. Wie weit die Transzendentalphilosophie ihre Ab-straktionen auch immer treibt: Ihr Gegenstand ist die historische Realität. Was bei Fichte die 'Reihe vernünftiger Wesen' ist, ist in der Wirklichkeit das Modell der bürgerlichen Ge-sellschaft, in der die Gelehrten den öffentlich Ton angeben. In der Wissenschaftslehre er-scheint die Reihe vernünftiger Wesen an einer Stelle dem Ich vorgegeben, von ihnen geht die Aufforderung zur Selbstbestimmung alias Vernunft allererst aus. 

Was Vernunft in specie ist, nämlich nach welchen Regeln sie verfährt, finde ich als gegeben vor. Es ist (reell) eine lange Geschichte zweckmäßiger Wechselwirkungen. Vernünftig werde ich handeln, indem ich dieser pro- zessierenden Wechselwirkung beitrete, denn nur in der Welt der Reihe vernünftiger Wesen, der intelligiblen Welt, kann ich vernunftgemäß wirken. Vernunft ist selber keine Denkweise, sondern eine Weise des Handelns in der Welt.

Das Forstschreiten der Vernunft ist das Fortschreiten in der gemeinsamen Bestimmung des Unbestimmten, das Medium der Bestimmung ist der Zweckbegriff. Vernünftig ist eine Welt, in der die Zweckbegriffe fortschreitend vergemeinschaftet werden. Das geschieht reell nicht durch Deliberation, sondern praktisch durch gemeinsames Handeln. Allgemein geltend sind diejenigen Bestimmungen, die gemeinsames Handeln ermöglichen, und das ist eine Sache der Erfahrung und nicht (erst) der Reflexion. Erfahrung geschieht durch Widerstand; auch durch den Widerstand anderer vernünftiger Wesen.

Das gemeinsame Bestimmen der Zweckbegriffe ist zugleich die fortschreitende Selbstbe-stimmung der Reihe vernünftiger Wesen. Da die Bestimmung der Zwecke in der Welt ins Unendliche geht, tut es die Selbstbestimmung der Reihe vernünftiger Wesen desgleichen. Sie ist die treibende Kraft. Ihr Treibstoff ist die Reflexion, die frei und unendlich ist. Zum Wesen der Vernunft gehört Kritik.

*) eigentlich seit dem 17. Jahrhundert
24. 10. 18 

 

 

Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

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