10. Wissenschaft von der Politik?

aus Die philosophische Wendeltreppe

Ich sage nicht, dass jenseits der wissenschaftlichen kritischen Philosophie jedes praktische Urteil in concreto ästhetisch motiviert ist. Ich sage nur, dass das “poietische Vermögen” – also dasjenige, das den Menschen zum Qualifizieren befähigt – selber ästhetischer Qua-lität ist.

Erstens glaube ich, dass dem historisch so ist, und zweitens meine ich, dass dem von Rechts wegen so sein soll. Insofern meine ich “das Ästhetische” überhaupt nicht psycho-logisch sondern ‘transzendental’:


“Das ästhetische Vermögen ist die Fähigkeit, Qualitäten wahr-, d. h. wert zunehmen. Die Urteilskraft ist das Vermögen, Erscheinungen auf Qualitäten zu beziehen.” 

Das Politische ist nicht selbst ‘ästhetisch’


In jedes einzelne, ‘historische’, empirische Urteil praktischer Natur – das heißt: in jede politische Entscheidung – fließen in concreto stets eine Unmenge konkreter ‘idio tischer’ Daten ein, die ‘auf Qualitäten bezogen’ sein wollen; aber das muss eben immer

Die Politik selber als praktische Disziplin kann nicht theoretisch oder gar wissenschaftlich sein. Wissenschaftlich kann die Kritik sein. Nicht die Kritik an dieser oder jener konkre-ten Entscheidung, sondern an dem ‘Modell’, auf das sie sich (u. U.) bezieht. Die mehr oder weniger theoretischen Modelle, auf die politische Akteure ihr Handeln beziehen mögen, können selber nur in einem idiographischen Sinn ‘wissenschaftlich’ sein. Das heißt beschreibend und empirisch verallgemeinernd, nicht aber nomothetisch-’gesetz-gebend’. Die Situation, wo man in ein theoretisches Modell (der Gesellschaft) nur noch die empirischen Daten einzutragen bräuchte, um heraus zu lesen, was zu tun ist, wird... niemals eintreten.


An dieser Stelle wird unweigerlich – sei es höhnisch, sei es nostalgisch – an die Marx’sche Theorie von der Weltrevolution

“Historischer Materialismus”

Da trafen zwei theoretische Perspektiven zusammen. Zuerst die kritische: Die Kritik der politischen Ökonomie hatte zum Ergebnis, dass das theoretische Modell des ‘Wertgeset-zes’ wissenschaftlich nicht haltbar war, weil der vorgeblichen Regel des Äquivalenten-tauschs ein ungleicher Tausch zwischen Kapital und Arbeit zu Grunde liegt. Damit wurde die Rechtfertigung der kapitalistischen Gesellschaftsform durch das ‘Klassische Modell’ der Politischen Ökonomie, das sie zu einem ‘System’ metaphysiziert, hinfällig. Ein eignes positives Modell vom Funktionieren der bürgerlichen Gesellschaft findet man bei Marx nicht. Er hatte es ursprünglich im Sinn; aber da ahnte er noch nicht, dass seine beabsich-tigte Vollendung der Politischen Ökonomie in deren Kritik umschlagen würde; das hat er erst gemerkt, als er das (fälschlich so genannte) ‘Formen-Kapitel’ der (fälschlich so ge-nannten) ‘Grundrisse’ niederschrieb.

Der andere theoretische Strang ist die “materialistische Geschichtsauffassung”. Auch die ist ursprünglich kritisch. Sie richtet sich nämlich gegen die hergebrachte Auffassung, dass in der Menschheitsgeschichte Gesetze wirksam wären, die ihr von außerhalb auferlegt wären: von übersinnlicher Instanz. Ihre eigne ‘Voraussetzung’ ist lediglich, dass sie diese Voraussetzung zurückweist. ‘Materialistisch’ bedeutet schlicht und einfach nicht-spiritua-listisch. Ihr selber liegt allein das empirische Prinzip ‘zu Grunde’, dass die Menschen ihre Geschichte selber machen. Ab da tut sie das, was Geschichtsschreibung zu tun hat: Sie beschreibt. Dafür ist wiederum besagtes ‘Formen’-Kapitel das beste Beispiel. In der lite-rarischen Darstellung muss diese wie jede andere Beschreibungen schematisieren, die Fakten bestimmten Handlungsfäden zuordnen; wobei sie erklärtermaßen nicht ‘Alles’ beschreibt, sondern ihr Augenmerk auf die Herausbildung und dem Verhältnis der Ge-sellschaftsklassen richtet.

Die Epigonen – nicht erst Stalins Hofschranzen, sondern schon ein früher Dogmatiker wie Karl Kautsky – haben dann die ‘Handlungsfäden’ zu historischen Gesetzen entma-terialisiert. Und so ein kritische und revolutionäre Theorie in ihr staatserhaltendens Ge-genteil verkehrt: Stalins terroristisch-totalitäre Monstrum brauchte eine Offenbarungsleh-re, durch die es als letztes Wort “des Gesetzes” imponieren konnte; “Vorsehung”, echote Stalins Spiegelbild im Führerbunker.

Modelle

Wenn aber die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Politik ohnehin nie dahin kommt, Gesetze aufzustellen – wozu taugen dann noch ihre theoretischen Modelle?

Ein Modell ist kein Gesetzbuch. Ein Gesetzbuch ist dafür da, den Fall einer Regel zu sub-sumieren. Das ist der Zeck der Naturwissenschaft. Das Modell ist Abbild eines idion. Es ist nicht die naturgetreue Nachbildung von ‘allem, was dazu gehört’, sondern ein Schema; ein Sinnbild, das wiedergibt, worauf es an dem Idion dem Modellbauer angekommen ist; worauf er es abgesehen hat.

Zum Modellbauen gehört erstens die ‘Eingrenzung’ des Idion, und zweitens seine ‘Struk-tur’. Das bedeutet nichts anderes als Extensio und Intensio des Begriffs. Der Begriff hat – nämlich als Problem, wenn es ihm auch anders vorgekommen sein mag – dem Modell-bauer ‘vorgeschwebt’. Die Sistierung, Fixierung des Vorschwebenden ist eben: die Aus-führung des Modells. Das Modell ist die De-Finitio des Begriffs.

Hier wird klar: Das Idion ist kein Singulare; kein Einzelding, sondern eine Ganze Gestalt. Von einem Einzelding gibt es keinen Begriff, de singularibus non est scientia, da braucht man kein Modell. Einen Begriff braucht man für ein Mannigfaltiges, das von anderm Mannigfaltigen unterschieden werden soll. Er ist die Sinnbehauptung eines inneren Zu-sammenhangs; einer Struktur, wenn man diesen Ausdruck mag. Er ist keine Formel, in die man das konkrete Datum einträgt, um ein Ergebnis heraus zu rechnen, sondern eine Form, die man an eine lebendige Gestalt heranträgt, um zu sehen, ob sie passt.

Begriff ist Absicht, und die ist praktisch.

Der Begriff ist ein Sinnträger. Wer ihn verwendet, muss vorher wissen, wozu. Im Begriff ist ein Absehen ‘gemerkt’. Die Verwendung des Begriffs ist die Aktualisierung dieser Ab-sicht. Wer ihn verwendet, muss wissen, dass er kein Gesetz anwendet, sondern einer Ab-sicht folgt.

Kritik – die Wissenschaft – ist dazu da, ihn jedes Mal daran zu erinnern, wenn der “dia-lektische Schein” ihm schon wieder Mal eine metaphysische Substanz vorgaukeln will.

Absichten sind qualitativ. Das Vermögen, Erscheinungen auf Qualitäten, Tatsachen auf Absichten zu beziehen, ist die Urteilskraft. Das Vermögen, Qualitäten wahr-, d. h. wertzunehmen, heißt das ästhetische. 

25. 8. 13

 siehe auch:

 öffentliche Angelegenheiten 


 

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