1. Systematik.

 bing                                                         

Gebt mir einen festen Punkt, und ich hebe euch die Welt aus den Angeln.
Archimedes
Im Universum gibt es keinen festen Punkt. Nur
in der Vorstellung: den Vorstellenden.
 Und daher in jeder möglichen Vorstellung von der Welt

Das letzte große System der Philosophie war das Hegel'sche. Es umfasste alles Denkbare und alles Erfahrbare. Nichts blieb unberührt. Der sang- und klanglose Untergang der Schu-le ließ daher ebenfalls nichts unversehrt. Zurück blieb nur verbrannte Erde.

In philosophischer Hinsicht. In faktischer Hinsicht war der Weg für die positiven Wissen-schaften so frei wie nie zuvor. Als philosophischer Ersatz diente der flachestmögliche Ma-terialismus, und als nach Jahrzehnten Philosophie sich wieder zu regen wagte, tat sie es mit Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus: mit der Rückbesinnung auf die Kant'sche Kritik, die alle Metaphysik ein für allemal unmöglich gemacht hatte – jedenfalls, seit Langes Nachfolger die Flause vom Ding an sich auch noch beiseite getan hatten.

Und damit jeden Gedanken an ein philosophisches System: Denn nur metaphysisch war ein System denkbar, das doch alles, was den Sinnen oder der Intelligenz erscheint, auf einen einzigen Grund zurückführen musste. Seither war jeder Gedanke an Systematik in der aka-demischen Diskussion verpönt, und im außerakademischen Feld beherrschten Lebensre-form und Theosophie längst die Szene.

Es wird geklagt, seither habe sich alles rationelle und von einer fachkundigen Öffentlich-keit begleitete Philosophieren in bodenlose mikrologische Philologie verlaufen, deren Funde man wie in der bildenden Kunst mit Ah! und Oh! bestaunen kann, die in der Sache aber keinen um nur einen Punkt klüger machen. Bücher kann man immer noch schreiben, auch um Lehrstühle wetteifern. Doch wird sich die Öffentlichkeit irgendwann fragen, wo-zu sie sich das leisten soll.

Das gegenwärtige Hallo um die "kontinentale" Philosophie kommt also nicht von Unge-fähr. Naseweise Ungeduld angelsächsischer Pragmatiker, denen das Büffeln lästig ist, haben beim Aufkommen der transatlantischen Gegenströmung sicher eine Rolle gespielt. Aber deren rasanter Erfolg bei den jüngeren 'Kontinentalen' zeigt an, dass die Kritik an ihrem fleißigen Philologismus nicht so unbegründet ist.

Umso unbegreiflicher ist aber, wie bereitwillig sie die improvisierte Alternative überneh-men: "Systematisch" soll fortan gedacht werden. Dass irgendeiner der Protagonisten allen Ernstes daran ginge, aus den analytisch gesäuberten Begriffen ein System zu bauen, ist aber gar nicht abzusehen. Die Verwendung der Vokabel ist durchaus nicht einem Zweck ge-schuldet, sondern offenbar nur ganz kleinteilig der verwendeten Methode: dass sie nämlich, was immer durch einen Begriff bezeichnet wird, derselben Behandlung unterziehen - in der Hoffnung wohl, dass man (in einer Zukunft) einmal alle Begriffe lupenrein auf ihren kri-stallinen Kern reduziert haben wird, um sie fein säuberlich, einen am andern, nach dem Alphabet aufzureihen und als Das Ganze Wissen an eine große Glocke zu hängen.

Das wäre nicht herleitend systematisch, sondern beiordnend kaleidoskopisch, und recht besehen nur lexikalisch, weil nämlich die Vorstellung, aus einer unbegrenzten Zahl von an-sich-selbst bestimmten Bedeutungsatomen nur ein inintelligibles Chaos entstehen kann, aber kein geordnetes Ganzes.

Ihr Verfahren ist pedantisch und mikrologisch wie das der Kontinentalen, aber Funde, die das Publikum zu einem Ah! und Oh! begeistern können, werden ihnen nicht einmal ver-gönnt sein. 

Als Alternativen - wenn nicht diese, dann die andere - erscheinen sie nur, sofern sie den Grundfehler teilen - den Begriffsfetischismus. Aber Begriffe fallen nicht vom Himmel; es gab sie nicht, bevor einer sie gefasst hat. Am Historischen führt kein Weg vorbei.

*

Dabei war nicht nur die Kritik am akademischen Philologismus richtig, sondern im Prinzip  auch der propagierte Gegensatz: systematische Philosophie. Nur entscheidet sich der systematische Charakter nicht erst an den verwendeten Verfahren, sondern schon am verfolgten Ziel. Und da reicht es nicht, dass man es bestimmt, sondern es kommt darauf an, wie man es bestimmt. Nämlich nicht positiv - das war ja der Fehler der Metaphysik -, sondern negativ: indem es nämlich alles ausschließt, was jenseits der Erfahrung liegt - und sich stattdessen konzentriert auf das, was diesseits der Erfahrung liegt.

Eine kritische Philosophie braucht sich den Umfang ihres Systems nicht auszudenken: Es ist ihr vorgegeben als das zum gegebenen Zeitpunkt tatsächlich vorliegende System der Vernunft. Systematisch einander zugeordnet kann nicht das Mannigfaltige der Erfahrung sein. Das kann lediglich Zwecken zugeordnet, genauer: untergeordnet werden. Das ergibt wenigstens so viele Systeme, wie Zwecke in Anschlag kommen. Ein System kann lediglich aus dem entstehen, was die Mannigfaltigen zusammenfasst; das, was Zwecke setzt, näm-lich diesen besonderen oder jenen andern besonderen, und alle andern auch. Hergeleitet kann das wirkliche System unserer Vernunft nicht aus seinen möglichen mannigfachen Gegenständen, sondern allein aus dem Vermögen, Zwecke zu setzen.

Dies ist, in wenigen Worten, das, wozu J. G. Fichte in der Wissenschaftslehre Kants Ver-nunftkritik ausgebaut hat. Er hat sie selber nicht ganz vollenden können, und so bleibt den Nachgeborenen noch manches Stück Arbeit, das noch manches Ah! und Oh! befeu-ern und auch manchen Kopf um manches klüger machen kann.

14. 8. 2022

 

Corollaria 

Philosophieren im System.

                      
Kant unterscheidet zwei Klassen von Philosophen - die "nach dem Schulbegriff" und die "nach dem Weltbegriff". Nach dem Schulbegriff, das sind die, die Philosophie an der Uni-versität betreiben. Einen Philosophen "nach dem Weltbegriff" hingegen darf sich keiner selber nennen, das können höchstens Andere tun, denn das wäre einer, der jenen zeigt, wo es lang geht.

Ein Schulphilosoph bin ich nicht geworden, bin aber, nachdem ich meinen Erwerbsberuf beendet hatte, zum Philosophieren zurückgekehrt. Dabei ist es mir widerfahren, meine Vorstellungen zu einem System zu ordnen - nur im Kopf, nicht auf dem Papier, denn das ist schwierig. - Nun gilt systematisches Philosophieren in Fachkreisen heut ohnehin als dumm und anmaßend, und wenn ich dort überhaupt eine Chance haben will, muss ich gewissenhaft vorzeigen, dass ich 'mein System' weißgott nicht mutwillig konstruiere, son-dern nur auf Schritt und Tritt mir zuziehe, ohne es hindern zu können. Darum die Form der täglich fortzuschreibenden Blogs und deren Zerstreuung in ein gutes halbes Dutzend. 

Die [Fichtianaund die hiesigen Philosophierungen sind das Kernstück, sie erläutern ein-ander. Und da am empirisch-anthropologischen Anfangspunkt meines pp. Systems 'das Ästhetische' als Spezifikum des poietischen Vermögens alias produktive Einbildungskraft, an seinem spekulativ-transzendentalen Endpunkt aber 'das Absolute' als die ästhetische Idee schlechthin steht, ist das Blog Geschmackssachen der Dritte im Bund.

Der fragmentarische Vortrag macht die Beschäftigung mit 'meinem System' abwechs-lungsreich und unterhaltsam, aber übersichtlich ist er nicht. Allerdings vermute ich, wer sein System übersichtlich darstellen kann, hat es nicht richtig verstanden.

30. 4. 15



Zwei mögliche Systeme.


Zwei gedankliche Systeme könnte es geben: ein System der Welt und ein System der Vorstellung.

Diese Unterscheidung ist nicht so einfach, wie es scheint: Die Welt ist nicht das physikali-sche Universum - Physik, Kosmologie, Teilchenphysik. Das sind nur jeweils mögliche Blicke auf und in die Welt. Die Welt selber ist "alles, was vorkommt". Als solches ist sie keine Ge-gend, sondern nur ihr Horizont. Horizont wovon? Der Vorstellung.

Es gäbe also ein System dessen, was in der Vorstellung vorkommt.

Und das System der Vorstellung selbst: der Tätigkeit des Vorstellens.

Die ist unendlich. Was in ihr vorkommt und vorkommen wird, ist es ebenso. Also kann es nicht (von der Vorstellung!) umfasst werden. Als System kann es 'die Welt' daher nicht ge-ben...

Die Welt der Vorstellung ist realdenn real sind die Vorstellungen. Die Vorstellung von der vorstellenden Tätigkeit ist idealSie kann sich reflektierend selbst 'umfassen': sich als Sys-tem vorstellen.

1. 6. 2015



17. August 2022

Fragmentarisches System.

Keplers Systeml                                                            zu Philosophierungen                                              
Je systematischer das Denken ist, umso weniger eignet es sich zu systematischer Darstel-lung.

Das ist nur scheinbar paradoxal. Denn System bedeutet in der Vorstellung etwas anderes als in der Mitteilung. Im Denken ist das System auf einmal und ganz gegeben. Es ist syn-chron, ein jeder Satz im System bedingt jeden anderen Satz. Es ist weniger gleich-zeitig als – jenseits von Zeit und Raum – gleich-gültig. Eigent-lich nicht synchron, sondern achro-nisch. Mitteilung geschieht dagegen in der Zeit, diachron, eins nach dem andern.


Man müsste das gedachte System – das hat schon Fichte bemerkt – von jedem beliebigen einzelnen Satz aus rekonstruieren und von da aus zu jedem andern Satz im System gelan-gen. Die Mitteilung muss dagegen ein Anfang wählen, einen Ober-Satz: principium. Dar-aus müssen die Folgesätze nach den Regeln der diskursiven Rede her-geleitet werden. Im dargestellten System gelten die Sätze nicht a-chronisch und gleichsondern sind hierar-chisch geordnet.

Im gedachten System erscheint ein jeder Satz der nachträglichen Reflexion wie eine Figur vor ihrem Hintergrund. Im dargestellten System erscheint jeder Satz als logischer Schluss aus dem Vorangehenden und Grund für alles Folgende. Das dargestellte System müsste, um vollständig zu sein, dieselbe Operation von jedem denkbaren (Ober-)Satz zu jedem denkbaren (Folge-)Satz wiederholen und synop-tisch zu einander stellen. Da die Anzahl der denkbaren Sätze aller Voraussicht nach unendlich ist, wird die Aufgabe... unendlich sein. Mit andern Worten, als ein Ganzes würde sich das System auf diesem Wege niemals darstellen lassen.

Nun könnte man auf die Idee kommen, die Ganze Gestalt des Systems so, wie es sich – ob vollendet oder nicht – von außen präsentiert, ihm als seinen In-Begriff zu Grunde zu legen; den Umfang in sein Zentrum zu verkehren. Dann müssten sich alle einzelnen Sätze aus diesem her- und zu diesem hinleiten lassen.

Allerdings läge dieses logische 'Zentrum' dann außerhalb des Systems! Jenes mag 'in sich schlüssig' sein. Aber ob und wozu es was taugt, bleibt ganz offen.


*

Dass ein Denken Anspruch auf Systematik erhebt, ist in den Wissenschaften heute ohnehin sittenwidrig. Wozu also diese Erörterung?

Ich bin in der glücklich unglücklichen Lage, ein System vortragen zu können – also zu sollen, wie mir scheint. Ich habe einmal die Neigung, in alles, was in meiner Vorstellung vorkommt, Ordnung zu bringen; nicht um der Ordnung willen, sondern um die Übersicht nicht zu verlieren. Die Solidarität der andern Gedanken möge mich daran hindern, mich von dem einen Gedanken in den Abgrund ziehen zu lassen. Darauf, ein System hinein zu bringen, habe ich es nie angelegt. Aber es ist im Lauf der Jahre und Jahrzehnte so gekom-men. Es traf sich, dass manche Denkfigur sich auf dem einen wie auf dem anderen Ge-dankenfeld aufnötigte und bewährte – und mich einen logischen Zusammenhang zwischen ihnen vermuten ließ.


So trage ich sie nun vor; als Fragmente eines unvollendeten Ganzen, von denen sich jedes selbst behaupten muss und doch auf die Solidarität der andern rechnen kann; als Wendel-treppe. Ob es nun  ein vollendetes System und Ganzes ist, davon hängt gar nichts ab. Es mag so sein oder anders. Wer meinen Vortrag auf dieser oder jener Windung kritisiert, weil ich da eine durch nichts belegte Prämisse verwende, muss sich lediglich gefallen las-sen, dass ich ihn auf diese oder jene (synchrone) Windung verweise, wo eben jene Prä-misse begründet wird.

Und wenn der Leser auf der vierten absteigenden Windung eine Denkfigur wieder zu erkennen meint, die ihm auf der achten aufsteigenden Windung schon einmal begegnet ist, bin ich’s zufrieden. 
20. 1. 14

Stufen

Nachtrag. 
Das obige ist, wie es sich in der Philosophie gehört, zugleich richtig und falsch. Die Argu-mentation ist richtig, aber falsch ist die Prämisse. Ich hatte zum Zeitpunkt der Nieder-schrift den Gral der Transzendentalphilosophie noch nicht aufgefunden. Nämlich: Ein kritisches System der Vernunft ist nicht in definierten Begriffen und geprüften Schluss-regeln darstellbar - dann müsste es allerdings als zeitlos vorgetragen werden, so dass kein Satz 'vor' einem anderen gälte. Sondern es werden Vorstellungen auseinander entwickelt, und da kommt allerdings die eine vor der andern und die andere nach der einen. Es wird erwirkt, und es ist Einbildungskraft, die wirkt. Das System der Vernunft ist nicht gegeben, sondern muss erschaffen werden, da setzt der zweite Schritt einen ersten voraus - wobei sich der erste freilich als gültig nur erweist, indem er den zweiten 'zeitigt'. Nicht nach der Dauer fällt die Genesis der Vernunft in die Zeit, wohl aber aber nach der Folgerichtigkeit - aber auch das nur, wenn sie wirklich gewollt wird; und dies allerdings in Raum und Zeit.

Fichte selbst hatte in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre  noch eine rein logische Darstellung aus Begriffen und Schlüssen gegeben, doch die scholastische Herleitung, wo im direkten Widerspruch zur sachlichen Aussage ein theoretischer Teil einem praktischen vorausgesetzt wird, war ihm schon nach dem Ende der Niederschrift aufge-stoßen. Darum ist die darauffolgende Darstellung nova methodo nicht einfach eine formale, womöglich didaktische Verbesserung, sondern trägt ein neues Denken vor. Ein System aus Begriffen und Schlüssen wär erst nach der vollständigen Rekonstruktion der Vernunft aus der Prämisse des freien Willens möglich, aber nicht als ihre Begründung. Da aber andererseits die Re konstruktion der Vernunft nicht vollendet werden kann, solange ihre Konstruktion selbst stets unvollendet ist, ist sie von Seiten historisch-sinnlicher Iche nicht möglich.
17. 8. 22


Mein System.

Le Corbusier

Lieber Leser, 'mein System', von dem ich immer wieder rede und von dem Sie vielleicht doch noch nicht viel erkennen konnten, nimmt langsam Gestalt an; weniger literarisch als sachlich. Das Ästhetische schimmert immer öfter aus dem Strom der Wörter hervor, und nicht bloß als thematischer roter Faden oder als Hintergrundrauschen, das alle andern Töne einfärbt, sondern als das Bindemittel ;zwischen der Anthropologie auf der empirischen und der Transzendentalphilosophie auf der theoretischen Seite.

Das klingt nun ebenso eitel wie trivial; wenn man nämlich von dem Ästhetischen einen trivialen Begriff hat. Ich fasse aber das Ästhetische (wie Fichte an Schiller schrieb) so weit, wie Sie es sich nicht einmal träumen lassen. So weit und so scharf, wie ich ergänzend hin-zufüge, und dann ist es nicht mehr trivial.

*

Auf den ersten Blick ist es freilich das Thema der Vernunft, durch das die Anthropologie mit der Transzendentalphilosophie zusammenhängt; als das specificum humanum hier und als Medium und Gegenstand dort: Selbstreflexion der Intelligenz.

Die Intelligenz selber zeichnet das Humane schon lange nicht mehr aus. Je länger die Etho-logen observieren, um so weiter wird das Feld der tierischen Intelligenz. Angefangen hat es mit dem Werkzeuggebrauch der Schimpansen, inzwischen sind wir bei absichtlicher Täu-schung und Perspektivenwechsel bei den Rabenvögeln, und wer weiß, was noch kommt.

Es ist wohl wahr, tierische Intelligenz manifestiert sich immer punktuell und momentan, nur bei der Familie Homo ist ihr Gebrauch habituell und ubiquitär. Wäre das kein Unter-schied? Es wäre keiner, der sich bestimmen lässt. Denn dazu müsstest du eine Grenze ziehen. Doch auf welchen Punkt du immer reflektierst, der Übergang ist fließend.

Qualitativ dagegen ist dieser Unterschied: Im Tierreich steht aller Intelligenzgebrauch im Dienste der Selbst- oder der Arterhaltung, auch da, wo er nicht genetisch, sondern kulturell vererbt wirbt. Allein Homo sapiens bemüht - und je länger seine Geschichte auf Erden dauert, umso wissentlicher - Zwecke, die abseits der Erhaltungsfunktion liegen: Verum, bonum, pulchrum.

Das ist es, was den Menschen vor andern Lebewesen auszeichnet: Er kann nicht nur wahr-, sondern auch wertnehmen. Und recht eigentlich muss er wertnehmen, so dass Max Scheler sagen konnte: Wertnehmen kommt vor wahrnehmen, es ist seine Bedingung. 

Das ist ein Satz, der der Anthropologie ebenso angehört wie der Transzendentalphiloso-phie, die das Praktische vor und über das Theoretische stellt. Wertnehmen ist das Wahrneh-men von Qualitäten, und so nennen wir Eigenschaften, die schlechterdings - "ohne Inter-esse" - von einem Urteil des Beifallens oder der Missbilligung begleitet sind. Und eben das ist das Ästhetische.

Was morphologisch der aufrechte Gang für die Hominisation bedeutete, bedeutet für die geistige Hominisation die Entwicklung seines ästhetischen Vermögens. Es ist der Stoff der Vernunft.



So weit die Anthropologie.

Vernunft nennen wir nun diejenige Intelligenz, die nicht nur die Wirkzusammenhänge der Dinge in Hinblick auf unsere Zwecke beurteilt, sondern die Zwecke selbst. Eine Intelligenz, die sich als einem Maß unterworfen vorstellt. Vernünftig nennen wir ein Handeln, das seine Zwecke als einer obersten Instanz, als einem Zweck der Zwecke verantwortlich erachtet. Dies genetisch herzuleiten aus dem idealen Ursprung der Vernunft selbst, jener Tathand-lungin der sich das Ich als frei setzt, ist wiederum Sache der Transzendentalphilosophie. Die Fiktion eines obersten Zwecks - verum, bonum, pulchrum - ist eine ästhetische Idee. Sie ist nicht bedingt, sondern durch Freiheit möglich. Und recht besehen, ist am äußersten Ende der Vernunft nur sie noch durch Freiheit möglich.

*

Das sind die beiden Pole, zwischen denen "mein System" verläuft.*

________________________________________________ 
*) Wie es verläuft, sehen Sie, wenn Sie meinen Links folgen. 


27. 6. 14
 

 

 

Bedingung der Möglichkeit.

                                                            
Gegenstand der Transzendentalphilosophie sind keine Sachverhalte, sondern allein Vor-stellungen. Sie sucht daher nicht nach wirkenden Ursachen, sondern nur nach Bedingun-gen von Möglichkeiten. Bedingung der Möglichkeit von Vorstellungen sind ihrerseits Vor-stellungen. Am unteren Ende der Bedingungsreihe findet sie das vorstellende Vermögen selbst. 

Ihr unabdingbares Apriori ist die Freiheit des Wollens. Sie muss angenommen werden, wenn Vorstellen möglich sein soll. Dass vorstellen geschieht, ist nicht notwendig. Wenn es aber geschah, dann aus freiem Wollen.

Das einzige, was Transzendentalphilosophie zu erweisen hat, ist dies: ob diese eine Voraussetzung genügt, um eine intelligible Welt vollständig zu erklären. Wenn ja, dann ist ihr System geschlossen.




Das problematisch-pragmatische System.

oder doch nicht?                                                          aus Philosophierungen 
Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. 
Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden. 
_________________________________________________
Friedrich Schlegel, Athenaeums-Fragmente N° 53


Nota. - Die Athenaeums-Fragmente stammen aus der Zeit, als das Ehepaar Schlegel in Jena mit Fichte unter einem Dach wohnte. Dieses hier kommentiert offenbar die Wissen-schaftslehre: Sie ist ein System und ist doch keins. Genauer gesagt, sie ist ein problemati-sches System; nämlich eins, das nur unter einer Bedingung möglich ist. Und sie ist ein pragmatisches System, nämlich eines, dessen Bedingung man sich selber setzen muss.
JE, 
20. 2. 19




Die Darstellung und die Sache selbst.

                                                           

"Die Darstellung erkläre ich selbst für höchst unvollkommen und mangelhaft", schrieb Fichte zu Ostern 1796 im Vorbericht zur ersten Buchausgabe der Grundlage. Und doch hat er sie bis zu seinem Tod in seinen Kollegien als Begleitschrift zu den mündlichen Darstellungen der Wissenschaftslehre verwendet - wie ja auch in den Vorlesungen nova methodoZeitlebens habe er 'nie etwas anderes gelehrt', hat er stets versichert... 

Lediglich die Darstellungsweise sei ungeschickt gewesen und habe zu vielerlei Missver-ständnissen Anlass gegeben: "So kann ich allerdings Unrecht gehabt haben, dass ich die bei mir durch das ganze System bestimmten Grundsätze desselben hingab, ohne das System; und mir von den Lesern und Beurtheilern die Geduld versprach, alles so unbe-stimmt zu lassen, als ich es gelassen hatte." 


Es ist aber nicht nur eine didaktische Frage, ob man die Grundsätze des Systems auf-stellen könne, bevor man dieses selbst aus- und durchgeführt hat. Bei einem spekulativ konstruierten metaphysischen System mag das möglich sein. Ein transzendental philoso-phisches System darf nicht einmal den Gedanken aufkommen lassen, dass es so verfahren sei. Es muss, wie die Nova methodo es ja tut, sein Vorgehen Schritt für Schritt vorführen, weil es nicht (logisch) fertige Begriffe aneinander knüpft, sondern (genetisch) lebende Vorstellungen auseinander hervorbringt.

In specie: Dass das menschliche (welches wohl sonst?) Wissen auf einem "absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz" beruhe, den man (in ihm selbst?) nur "auffinden" müsse, ist eine Voraussetzung, die er an dieser Stelle ohne alles Recht macht. Zwar hatte er, bevor er seine Vorlesungen in Jena begann, die Schrift Über den Begriff der Wissen-schaftslehre vorgelegt, die eben davon handelt. Deren Kenntnis durfte er vielleicht bei seinen Hörern voraussetzen; doch wir werden finden, dass die Wissenschaftslehre nicht eine Kenntnis nach der anderen - woher auch immer - herbeizieht und auf einander schichtet, sondern aus notwendigen Vorstellungen weitere Vorstellungen entwickelt.

Das ist kein Unterschied in der Darstellungsweise, sondern in dem, was dargestellt wird. Fichte spricht diesen Unterschied später in der Nova methodo immer wieder an, nament-lich dort, wo er an die Grenzen der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten stößt; doch nie spricht er aus, dass es dieser Unterschied ist, der sein philosophisches System wesentlich von allen vorhergegangenen unterscheidet.  


Nachtrag. Ob ich in einem System die Welt beschreibe und erkläre, wie ihre Teile unter-einander zusammenhängen, oder die Vorstellungen beschreibe, die ich mir - zuerst wohl von der Welt - mache und zeige, wie sie auseinander hervorgegangen sind, ist kein Unter-schied in der Darstellungweise, sondern es wird ein jeweils Anderes dargestellt. 

Bei der Niederschrift der Grundlage als Begleittext zu seinem ersten Vortrag der Wissen-schaftslehre in Jena war - der Erwartung seiner Hörer entgegenkommend oder weil es ihm nicht anders einfiel? - Fichte vorgegangen, wie man bis dahin beim Vortrag eines rationalistischen metaphysischen Systems vorgegangen war: zuerst die Prinzipien auf-stellend, aber dozierend und nicht entwickelnd, darauf zweitens einen 1., theoretischen Teil aufbauen und dann einen 2., praktischen Teil anfügen.

Dass er, anders als die rationalistische Metaphysik und noch der kritische Kant, nicht mit vorgegebenen Begriffen konstruiert, sondern lebendige Vorstellungen aus einander her-vortreibt, war ihm als Differentia specifica seines Philosophierens noch gar nicht klar geworden, und wurde es erst im Verlauf seiner Vortragstätigkeit an der Universität. Mit dem Vortrag nova methodo in den Jahren 1798/99 wurde diesem sachlichen Unterschied nun auch formal Rechnung getragen, aber der geriet in den Atheismusstreit hinein und blieb für Fichtes weiteres Denken leider ohne Folgen.

JE 13. 4. 19



Ein pragmatisches System.

 

Der gesunde Menschenverstand ist die pragmatische Gebrauchsform der Vernunft. Sie ist überall an ihrem Platz, wo es um Fragen geht, die aus der Erfahrung zu beantworten sind. Im täglichen Leben geht es um Ungefähres, und die Erfahrungen, die es haben kann, sind ebenso ungefähr. Darum werden im Alltag Fragen gar nicht gelöst, sondern konsensuell unschädlich gemacht; das reicht in den meisten Fällen, äußersten Falls versucht man es noch mal.

Um in Genua oder sonstwo eine Brücke zu bauen, reicht kein Ungefähr. Technische Fra-gen müssen gelöst werden. Dafür haben wir die Wissenschaft. Die nimmt es, anders als der Alltagsverstand, ganz genau. Darum ist ihr grundlegendes Verfahren das Experiment - was sie vor Irrtümern nicht schützt: Tatsachen können auch mal übersehen werden. Doch grundsätzlich steht auch die exakteste Wissenschaft im Modus des gesunden Men-schenverstands. Das hindert sie nicht am abstrakten Theoretisieren. Wo praktische Ver-suche nicht machbar sind wie im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich, entwirft sie Modelle, wo begriffliche Extrapolationen die empirischen Daten ersetzen müssen, und denkt sich an und mit ihnen das Faktische, das ihr unmittelbar nicht zugänglich ist. So aber auch in der Theoretischen Physik. Was in der Wirklichkeit nicht anschau- und folglich nicht messbar ist, wird zusammen mit bekannten reellen Daten in eine mathe-matische Formel gebracht, mit der sich rechnen lässt. Die so neu gewonnenen Daten lassen sich wenn nicht direkt, dann mittelbar experimentell überprüfen - und sei es nur, dass das Modell den Rechnungen standhält. So ist es möglich, dass wir uns Dinge denken, die wir uns doch nicht vorstellen können.

Denn unterste Grundlage bleiben ja die experimentell gesicherten reellen Daten.

Die grundsätzlichen Fragen der Menschheit - Wie sollen wir unsere Welt einrichten? - sind nicht experimentell zu klären. Da reicht es nicht, zu erproben, wie was funktioniert; es kommt darauf an, Zwecke zu setzen. Modellrechnungen mögen erst recht notwendig werden, und die konkreten Daten, die in sie eingehen, müssen erst recht gesichert sein. Das bleibt Sache der realen Wissenschaft und ihres gesunden Menschenverstands. Aber die Frage, welches Modell man will und welche Gefahren man zugunsten welcher Mög-lichkeiten einzugehen bereit ist, ist eine Frage der Vernunft im strengen Sinn. Da gilt kein Ungefähr und kein Konsens, das wird man entscheiden müssen.

*

Muss sich aber die Vernunft rechtfertigen - etwa um ihrer selbst willen?

Dazu ist sie gar nicht da. Mich soll sie rechtfertigen, dafür habe ich sie zur Welt gebracht.
3. 3. 19



Apologie der Vernunft.

 Escher                                                                     aus Philosophierungen

Unter Vernunft verstehen wir - unausgesprochen, denn das ist seine Bedingung - unser System geprüfter und im geistigen Verkehr bewährter Begriffe. Es ist ein System in pro-cessu und nur darum sind wir bereit, es als System anzunehmen: Begriffe, die ihren Dienst nicht mehr tun, werden ausgemustert oder als zu vieldeutig einstweilen auf die Reservebank verwiesen (aber wir haben ein gutes Gedächtnis, und mancher Begriff, der verworfen wur- de, kommt gelegentlich wieder zu Ehren)Und: Es kommen allezeit neue hinzu.

So aber nehmen wir das System als gegeben an - so selbstverständlich, dass die Frage Woher? und Wozu? seit gut einem Jahrhundert als 'metaphysisch' schon gar nicht mehr statthaft ist. Ist es vom Himmel gefallen, hat es sich autopoietisch ex nihilo selbst kreiert? Hat es sich aus bloßer Erfahrung angesammelt?

Das wäre völlig gleichgültig, wenn seine Geltung heute nur pragmatisch gerechtfertigt ist. Tut es den Dienst, den man ihm vernünftiger Weise unterstellen darf?

Die Frage lässt sich nicht erörtern, wenn wir die Begriffe, aus denen es besteht, zu seiner Überprüfung auf das System selber anwenden. Es könnte immer nur antworten Ick bün all do. Wir müssen vielmehr eine Voraussetzung aufsuchen, unter der allein die Begriffe zu dem werden konnten, was sie (uns heute) sind.

Die Wissenschaftslehre behauptet, die allgemeine Prämisse aufgefunden zu haben, auf der alle unsere Begriffe in letzter Instanz beruhen, auf die sie alle letztendlich zurückzu-führen sind, und vor der sie sich alle praktisch bewähren müssen. Sie heißt: Vernünftig ist der Mensch, wenn und insofern er sich ursprünglich als wollend vorstellt. Lässt sie sich überprüfen? Historisch, empirisch, faktisch nicht; nur pragmatisch: Lässt sich unter dieser Voraussetzung das Leben vernünftig führen?


Das wäre ein Zirkelschluss?

Nun ja. Aber es ist ein zirkulärer Rückschluss, und das ist, worum es uns zu tun war: Hat Vernunft einen Grund? Quod erat demonstrandum: Ihr Grund ist ihr Zweck.

19. 12. 17



Die Wissenschaftslehre erzählt nicht, wie das Bewusstsein entsteht, sondern entwirft einen Kanon der Vernünftigkeit.

                                                           zu Philosophierungen

Die Wissenschaftslehre beschreibt nicht, wie ein Mensch tatsächlich zu Bewusstsein kommt, sondern postuliert, welche Weise des bewusst-Seins als vernünftig gelten soll. Die Vorstellungswelt des Wahnsinnigen ist, welche Beiwörter man ihm sonst wohl anheften mag, auch ein Bewusstsein. Die Wissenschaftslehre entwirft nun ein Schema, und wenn einer so handelt, dass es im Sinne dieses Schemas gedeutet werden kann, soll es vernünf-tig heißen.uchung nahm ihren Ausgang an einem, das wirklich ist: 'Es gibt' in der bürgerlichen Gesellschaft ein Normalbewusstsein, das sich selbst als vernünftig auffasst. Dieses wird analytisch (phänomenologisch) auf seine Voraussetzungen geprüft. Die aufgefundene Erste Voraussetzung, ohne die alles Weitere grundlos wäre, ist das Ich, das 'sich setzt, indem es sich ein(em) Nichtich entgegensetzt'.

Ob dieser Gründungsakt wissentlich geschah oder nicht, spielt keine Rolle, denn 'mit Be-wusstsein' konnte er doch wohl nicht geschehen, da er dem Bewusstsein ja zu Grunde liegen soll – sofern es vernünftig wurde.

In der Philosophie kommen Fakten nicht vor, sagt Fichte. Das Schema stellt, was gesche-hen soll, nicht als historischen Vorgang, sondern als System dar: Doch im System ist die Zeit untergegangen. Das System kann man nur zeitlos, ideal, 'logisch' darstellen. Das Sys-tem ist 'auf einmal und mit einem Schlag' da.

"Aber das, was nicht im Gebiete der Erfahrung liegt, hat keine Wirklichkeit im eigentli-chen Sinn, es darf nicht in Raum und Zeit betrachtet werden, es muss betrachtet werden als etwas notwendig Denkbares, als etwas Ideales."

Seine Rekonstruktion kann nicht historisch geschehen, sondern nur genetisch. Auch nicht logisch im Sinne von diskursiv: Da müsste auch ein Schritt auf den anderen folgen, und die Schritte sind im diskursiven Verfahren als Begriffe vorgegeben – deren Entstehen soll aber erst erklärt werden. Auf Begriffe muss also noch verzichtet werden, man muss dem Vorstellen selbst zuschauen. Aber eben nicht im (historischen) Individuum, sondern im zeitlosen Modell.

Wann und wo sollte es in der Geschichte denn passiert sein, dass ein 'Ich sich selbst setzt, indem es sich ein(em) Nichtich entgegensetzt'? In der Geschichte nie, aber heute jederzeit immer und immer wieder. Es ist ein Erklärungsgrund und kein reell (nach Raum und Zeit) identifizierbares Ereignis. Wenn es aber nicht als wirklich stattgefunden vorausge-setzt würde, ließe sich das Wissen (Vorstellung, Bewusstsein, Denken, Begriff...) nicht er-klären. Alles, was historisch (empirisch) geschehen ist, muss im zeitlosen System irgendwo wieder vorkommen, wenigstens als Funktion – freilich nicht am selben Ort** und nicht unterm selben Namen. Und umgekehrt: Phantasiegebilde, denen in Raum und Zeit gar nichts entspricht, gehören nicht in die Transzendentalphilosophie.

*

Indem sie also einen Kanon der Vernünftigkeit aufstellt, definiert sie zugleich die Welt als das Feld ihrer Geltung: Sie ist keine begrenzte Gegend, sondern ein Horizont, der so weit reicht, wie die mögliche Wirksamkeit vernünftiger Wesen. Das ist nicht 'überall, wo Men-schen sind'. Denn da, wo Vernünftigkeit nicht hin reicht, ist nicht mehr Welt jedenfalls nicht unsere Welt, in der wir als Vernünftige zusammen wirken; sondern immer nur je 'meine' Welt, wo Menschen wohl auch sind, aber wo die Vernunft nichts mehr zu sagen hat.

*) WL nova methodo, S. 23
**) Orte gibt es im System so wenig wie die Zeit. Sie erscheinen erst in der diskursiven Dar-stellung, die die Vorstellungen nach einander ordnet, weil sie sie durch einander nicht veran-schaulichen kann

10. Januar 2016


Die Wissenschaftslehre entsteht nicht notwendig, sondern aus Freiheit.

                                    zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Das Object der Wissenschaftslehre ist nach allem das System des menschlichen Wissens. Dieses ist unabhängig von der Wissenschaft desselben vorhanden, wird aber durch sie in systematischer Form aufgestellt. Was ist nun diese neue Form; wie ist sie von der Form, die vor der Wissenschaft vorher vorhanden seyn muss, unterschieden; und wie ist die Wissen-schaft überhaupt von ihrem Objecte unterschieden?

Was unabhängig von der Wissenschaft im menschlichen Geiste da ist, können wir auch die Handlungen desselben nennen. Diese sind das Was, das vorhanden ist; sie geschehen auf eine gewisse bestimmte Art; durch diese bestimmte / Art unterscheidet sich die eine von der anderen; und dieses ist das Wie. Im menschlichen Geiste ist also ursprünglich vor unse-rem Wissen vorher Gehalt und Form, und beide sind unzertrennlich verbunden; jede Hand-lung geschieht auf eine bestimmte Art nach einem Gesetze,* und dieses Gesetz bestimmt die Handlung. Es ist, wenn alle diese Handlungen unter sich zusammenhängen, und unter allgemeinen, besonderen und einzelnen Gesetzen stehen, für die etwanigen Beobachter auch ein System vorhanden.

Es ist aber gar nicht nothwendig, dass diese Handlungen wirklich der Zeitfolge nach in je-ner systematischen Form, in welcher sie als von einander dependirend werden abgeleitet werden, eine nach der anderen, in unserem Geiste vorkommen; dass etwa die, welche alle unter sich fasst, und das höchste, allgemeinste Gesetz giebt, zuerst, sodann die, welche we-niger unter sich fasst u.s.f. vorkommen; ferner ist auch das gar nicht die Folge, dass sie alle rein und unvermischt vorkommen, so dass nicht mehrere, die durch einen etwanigen Beob-achter gar wohl zu unterscheiden wären, als eine einzige erscheinen sollten. 

Z.B. die höchste Handlung der Intelligenz sey die, sich selbst zu setzen, so ist gar nicht nothwendig, dass diese Handlung der Zeit nach die erste sey, die zum deutlichen Bewusst-seyn komme; und eben so wenig ist nothwendig, dass sie jemals rein zum Bewusstseyn komme, dass die Intelligenz je fähig sey, schlechthin zu denken: Ich bin, ohne zugleich et-was anderes zu denken, das nicht sie selbst sey. 

Hierin liegt nun der ganze Stoff einer möglichen Wissenschaftslehre, aber nicht diese Wis-senschaft selbst. Um diese zu Stande zu bringen, dazu gehört noch eine, unter jenen Hand-lungen allen nicht enthaltene Handlung des menschlichen Geistes, nemlich die, seine Hand-lungsart überhaupt zum Bewusstseyn zu erheben. Da sie unter jenen Handlungen, welche alle nothwendig, und die nothwendigen alle sind, nicht enthalten seyn soll, so muss es eine Handlung der Freiheit seyn. – 

Die Wissenschaftslehre entsteht also, insofern sie eine systematische Wissenschaft seyn soll, gerade so, wie alle möglichen Wissenschaften, insofern sie systematisch seyn sollen, durch eine / Bestimmung der Freiheit; welche letztere hier insbesondere bestimmt ist, die Hand-lungsart der Intelligenz überhaupt zum Bewusstseyn zu erheben; und die Wissenschaftsleh-re ist von anderen Wissenschaften nur dadurch unterschieden dass das Object der letzteren selbst eine freie Handlung, das Object der ersteren aber nothwendige Handlungen sind. 

Durch diese freie Handlung wird nun etwas, das schon an sich Form ist, die nothwendige Handlung der Intelligenz, als Gehalt in eine neue Form, die Form des Wissens, oder des Bewusstseyns aufgenommen, und demnach ist jene Handlung eine Handlung der Refle-xion. Jene nothwendigen Handlungen wer den aus der Reihe, in der sie etwa an sich vor-kommen mögen, getrennt und von aller Vermischung rein aufgestellt; mithin ist jene Handlung auch eine Handlung der Abstraction. Es ist unmöglich zu reflectiren, ohne abstrahirt zu haben.

*) ['Gesetz' ist dasjenige, was die Handlung bestimmt; es wird sich finden, dass es sich um das Wollen und den Zweckbegriff handelt. JE]
____________________________________________________
J. G. Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre, SW I, S. 70ff.


Nota I. - Dass die wirklichen Wissenschaften, die wir kennen, aus einem Akt der Freiheit entstanden wären, ist mehr als diskutabel. Medizin und Astronomie sind aporetisch, durch Ansammeln empirischer Beobachtungen anhand gegebener praktischer Probleme entstan-den; Mechanik und Ballistik nicht minder. Arithmetik und Geometrie dürften von Beginn einen spekulativen Anteil gehabt haben. Zu sagen, Wissenschaft im eigentlichen Sinn wur-den sie erst, als die disparaten Einzelbefunde unter einem Grund-Begriff in ein System gefasst wurden, wäre richtig; wäre aber Wortspielerei. Wahr ist aber zum Beispiel, dass die Chemie erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zur Wissenschaft wurde, als ihr die Unterscheidung in organische und anorganische unterlegt wurde. 


*

Das ist aber nicht, worauf es ankommt. Der entscheidende Gedanke ist, dass das tatsäch-liche menschliche Wissen ein System ist. Nicht so, dass das Wissen eines jeden Menschen ein System wäre oder er es sich als ein solches auch nur vorstellte. Dass es ein System ist, erweist sich daran, dass es von den Wissenschaftlern als ein solches darstellbar ist. Das be-deutet nicht, dass es keine Lücken hätte oder ohne Widersprüche sei. Die Widersprüche besagen nur, dass zwischen zwei einander widersprechenden Forschungsergebnissen das vermittelnde Glied noch nicht gefunden ist. Dass es einmal gefunden werden kann, ist je-doch die Prämisse der Wissenschaft - nämlich die, dass Vernunft herrschen kann, weil sie herrschen soll. Denn wenn nicht, gäbe es kein Wissen noch Wissenschaft.
 

'Dem diskursiven Denken liegt als Prämisse die ungeahnte Fiktion zugrunde, der logische Raum – Ein und Alles – sei eine geschlossene Sphäre, deren Umfang lückenlos von Begrif-fen angefüllt ist, die einander wechselseitig bestimmen. 

In unserer wirklichen Vorstellung ist die Welt hingegen ein – 'zwar endlicher, aber unbe-grenzter' – Raum, in dem Bedeutungen teils so nah bei einander liegen, dass sie einander berühren, ineinander verfließen und bei genauem Hinschauen gar nicht recht zu unterschei-den sind; und teils ganz beziehungslos neben einander liegen ohne ein Drittes, an dem sie wenigstens zu vergleichen wären.

Das logische Ein und Alles verhält sich zum wirklichen Vorstellen etwa so, wie die Welt des naturwissenschaftlichen Labors zu den Dingen unseres Mesokosmos.'


*

Und wenn auch keiner mehr das Wort Vernunft in den Mund nehmen mag - dass sie sich der diskursiven Methode befleißigen, nehmen alle in Anspruch. Die Wissenschaftslehre als 'echter durchgeführter Kritizismus' macht sich zur Aufgabe, die Pämisse auf ihre Berechti-gung zu prüfen. Das tut sie aus Freiheit und ohne Notwendigkeit.
13. 7. 18


Nota II. - Der Haken ist allerdings, dass sich eine so aus Begriffen aufgebaute Welt sich als System nicht darstellen ließe. Denn wo sollte man anfangen? Am Grund, gewiss, aber wel-ches ist der Grund der - nämlich aller - Begriffe? Das Begreifen selbst, sagt ein Gewitzter. Doch mit welchem der - nicht unendlich, aber unbegrenzt - vielen Begriffe sollte es ange-fangen haben, um daraus ein System zu bauen? Und umgekehrt: Welchen Begriff könnte es - und aus welchem Grund? - als ersten gefasst haben?

Man sieht: Eine in Begriffen gefasste Welt lässt sich gerade als System nicht darstellen, und das Begreifen selbst lässt sich nicht... begreifen.

Das Problem sollte Fichte noch zu schaffen machen und gab den Anlass zur Wissenschafts-lehre nova methodoEs müssen die Begriffe aus dem lebendigen Vorstellen selber erst ent-wickelt werden. Dann gewinnt auch der Vorstellende Fleisch und Blut


Die rationale Fiktion.

                                                                                          aus Philosophierungen

Dem diskursiven Denken liegt als Prämisse die ungeahnte Fiktion zugrunde, der logische Raum – Ein und Alles – sei eine geschlossene Sphäre,  deren Umfang lückenlos von Begrif-fen angefüllt ist, die einander wechselseitig bestimmen. 

In unserer wirklichen Vorstellung ist die Welt hingegen ein – 'zwar endlicher, aber unbegrenz-ter' – Raum, in dem Bedeutungen teils so nah bei einander liegen, dass sie einander berüh-ren, ineinander verfließen und bei genauem Hinschauen gar nicht recht zu unterscheiden sind; und teils ganz beziehungslos neben einander liegen ohne ein Drittes, an dem sie we-nigstens zu vergleichen wären.

Das logische Ein und Alles verhält sich zum wirklichen Vorstellen etwa so, wie die Welt des naturwissenschaftlichen Labors zu den Dingen unseres Mesokosmos.


ca. 2009



Die ungeahnte Fiktion nehmen wir in Anspruch, wenn und wo wir uns vernünftig verhalten wollen. Nicht, dass wir glaubten, dass es wirklich so ist; aber wir handeln doch so, als ob es so sei. 

Das sind die sonntäglichen Momente in unserm geschäftigen Alltag. Normalerweise reicht uns ein Ungefähr, um tagein tagaus zurechtzukommen. Der scharfe Konflikte, der nur auf Messers Schneide zu entscheiden wäre, ist gottlob die Ausnahme. Doch nur, weil Vernunft uns ausnahmsweise in jedem Fall zuhanden oder doch zu Kopfe ist, können wir unser all-tägliches Ungefähr riskieren.*

Das ändert nichts daran, dass ein fertiges System der Vernunft immer eine Fiktion bleibt. Nur weil wir meinen, an sich sei die Welt ein wechselwirkendes System aus realen Teilchen, die zugleich Bedeutungs-Partikel darstellen, und insgesamt einen Sinn hat, der unabhängig davon ist, ob ihn jemand einsieht - nur darum ist es möglich, dass wir uns in unserer All-tagsroutine regelmäßig verständigen und nach heftigem Kampf am Ende meist noch eine Friedenslösung finden. Indem sie zeigt, wie sie zustande kam, stellt die Transzendentalphi-losophie klar, dass es sich um eine Fiktion handelt.

Wozu ist das gut? Um dem Missverständnis abzuhelfen, im Sein der Dinge sei irgend ein Sinn eingeschlossen.

"Ihr Hauptnutzen ist negativ und kritisch. Es mangelt in dem, was nun gewöhnlich für Le-bensweisheit gehalten wird, nicht daran, daß sie zu wenig, sondern daran, daß sie zu viel enthält. Man hat eben die erräsonierten Sätze der oben beschriebenen erschaffenden Meta-physik hereingetragen – und diese sollen [wieder heraus] gesondert werden. Sie hat die Bestim-mung, die gemeine Erkenntnis von aller fremden Zutat zu reinigen... Für die theoretische Philosophie, Erkenntnis der Sinnenwelt, Naturwissenschaft ist sie regulativ. Sie zeigt, was man von der Natur fragen müsse.**

Ihr Einfluß auf die Gesinnung des Menschengeschlechts überhaupt ist, daß sie ihnen Kraft, Mut und Selbstvertrauen beibringt, indem sie zeigt, daß sie und ihr ganzes Schicksal ledig-lich von sich selbst abhängen; indem sie den Menschen auf seine eignen Füße stellt."

*) Das so genannte Zeitalter der Vernunft begann, als in den Verträgen von Münster und Osnabrück der Westfälische Frieden geschlossen wurde. Nachdem GOtt dreißig Jahre lang für Mord und Verwüstung gesorgt hatte, musste als vertrauenswürdiger Bürge nun die Vernunft in die entstandene Lücke treten..

**) aus Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 123]
JE, 30. 1. 19

 




Wissen ist nur im System möglich.
 Leonhardskirche, Frankfurt a. M.                       zu Philosophierungen

Wissen ist wahr, sofern es System ist. Es ist System, sofern es in einem Grundsatz zu-sammenhängt - so dass Jedes seinen Platz von allen Andern angewiesen bekommt und seinerseits allen andern ihren Platz anweist; sofern sie nämlich alle aus demselben Grund-satz folgen.*

Zuerst ist aber das reale Wissen dagewesen; jedes für sich. Der Satz bedeutet also in Wahrheit: Das in der Geschichte verstreut angesammelte Wissen wird wahres Wissen, wenn es zu einem System gebildet wird. Das wiederum ist nicht möglich, indem man "die Sammlung vervollständigt" - alle möglichenWissenssätze ausfindig macht und zusam-menstellt -, sondern indem man den jedem wirklichen Wissensakt zu Grunde liegenden "Grund"-Satz herausfindet.

Wenn sich ein solcher Satz auffinden lässt, kann das Wissen zu einem System gebildet werden, 'in dem jedem Satz sein Platz von allen andern Sätzen angewiesen ist', bevor noch "jeder Satz" ausgesprochen wurde. Lässt sich zeigen, dass der aufgefundene Grund-Satz nicht bloß tatsächlich (summativ: das ginge ja gar nicht!), sondern notwendig allen Wissensakten zugrundeliegt, dann ist das Wissen "wahr" in dem Sinne, dass außer ihm nichts gewusst werden kann. Also - wenn es Wissen gibt (Wahrheit gibt), dann innerhalb dieses Systems. Wenn nicht innerhalb dieses Systems, dann überhaupt nicht (wovon man allerdings nichts wissen könnte).
*) Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre, SW I, S 57-62, 70ff.

aus e. Notizbuch, 26. 6. 03


Wissen ist entweder richtig - wenn es dazu taugt, die Operation auszuführen, die ich be-absichtige; oder es ist wahr - dann ist es end gültig: Es gilt unter allen möglichen Bedin-gungen. Was falsch und unwahr ist, gilt nicht als Wissen, sondern als Irrtum oder Lüge.

Richtige Sätze gelten so lange, bis die Operationen, für die sie taugen sollen, erfolgreich abgeschlossen sind. Alle wahren Sätzen gelten über Raum und Zeit hinaus. Ihnen muss eines gemeinsam sein, das sie gelten macht und in diesem Einen hängen sie miteinander zusammen. - Das ist eine Prämisse, die jeder, der sich auf eine vernünftige Erörterung einlässt, tatsächlich macht, und sei es stillschweigend oder gar unter der Behauptung, that anything goes.
18. 1. 15


Nachtrag.
Und dass ich es nicht vergesse:
Nur im Wissen gibt es System. Die Vorstellung von System im Gewussten ist, wie die Vorstellung von der Kausalität, lediglich ein Quiproquo.
JE, 24. 8. 22



Das System der Vernunft ist uns gegeben.
   Newton, Philosophiae naturalis Principia mathematica

Die Wissenschaftslehre hat zum Gegenstand das uns heute gegebene System des Wissens. Dieses will sie verstehen: zurückführen auf seine immanenten Prämissen. Sie beschreibt nicht, wie dieses System in der historischen Wirklichkeit entstanden ist. Entstehen konnte es nur, indem aus den wirklich vorkommenden Vorstellungen progressiv alles für die Sys-tembildung Unbrauchbare ausgeschieden wurde. Es ist Material einer historischen Dar-stellung. In einer Darstellung des fertigen Systems hat es nicht zu suchen.

Der gegenwärtige Teilhaber dieses Systems - einer 'Reihe vernünftiger Wesen' - kann nicht anders, als seine Vorstellungen mit dem ihm als Apriori gegebenen System ins Verhältnis zu setzen: Seine Vorstellungen drängen zum Begriff. Dass sie von ihm "unzertrennlich" wären, trifft aber nur in der einen Richtung zu: Die Begriffe sind von den in ihnen gefass-ten Vorstellungen unzertrennlich. Doch nicht gilt die Umkehrung. Nicht jede Vorstellung bedarf ihrer Bestimmung; sondern nur diejenige, die mit den Andern (='vernünftigen Wesen') geteilt werden soll. Was ich ganz für mich behalten darf, mag unbestimmt und begriffslos bleiben.

In einer historischen Darstellung müsste gezeigt werden, dass und wie die Vorstellungen zu Begriffen erst wurden - durch progressives Ausscheiden des Unbrauchbaren im Ver-kehr.
3. 7. 17


Sprachspielnetz
  

Das Wort (Klangbild) ist ein Symbol. Die Sprache ist ein System von Symbolen; System im Vollzug, indem sie gebraucht wird in der Sprachgemeinschaft; "Sprachspiel"; diachro-nisch. Es läßt sich aber als System darstellen, synchronisch: als kodifizierter Verweisungs-zusammenhang. Doch jeweils nur als endlicher Verweisungszusammenhang: Lexikon, Grammatik, "Logik". Das Wort "bezeichnet", benennt ein Ding als "das, was" es ist; aber das Ding kann selber Symbol sein: etwas "bedeuten", das sich seinerseits nicht "endlich darstellen" läßt; Gedankending, "Begriff". – Das gilt für das System der Sprache selbst: Es "sieht so aus, als ob" es Alles umfaßt. "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Gren-zen meiner Welt", Tractatus [5.6] [aber was heißt hier "bedeuten"? Bezeichnen? "Darstel-len"? "Sein"?] 

Die Besonderheit dieses Systems ist, daß es – historisch und logisch! – unbegrenzt erwei-terbar ist. Es ist Bild der Welt. In der Welt sind nicht nur die Dinge, die die Wörter benen-nen, sondern auch ihre... (und andere) Bedeutungen! Die Sprache ist ein (historisch je) endliches Symbol für ein "unendliches" Ding. Nicht nur können immer neue Wörter ein-gefügt werden; es können auch neue Sätze gebildet werden, in denen die Wörter neu ver-wendet, "umgewidmet", d. h. umgedeutet werden. Denn sie sind Symbole, Bilder, keine Abbilder.

Und sie können auch sinnwidrig verwendet werden: "uneigentliches" Sprechen z. B. Man kann die Wörter regelwidrig verwenden: das "Spiel" stören. Sprach-Spielverderber.
Januar 15, 2009

Nachtrag. Eine 'Welt' gibt es überhaupt nur als Bild.
2. 8. 16







Gewärtigkeit - eine Revolution in Permanenz.

Riesenrad; Wien, Prater

Wir nehmen keine Erscheinungen wahr. Wir nehmen keine Bedeutungen wahr. Wir nehmen Dieses oder Das wahr. Was ist Dies oder Das? Eine Erscheinung, die etwas bedeutet. Könnte sie mir nichts bedeuten, würde sie mir nicht erscheinen.

Die Unterscheidung geschieht nicht in der Anschauung, sondern in der Reflexion. Wahr-nehmung ist das Produkt beider. Die Reflexion rechnet auf eine Bedeutung. Wenn sie keine erkennen kann, fragt sie; sogar, wenn sie döst. Reflexion ist Absicht.

In seiner Wirklichkeit ist unser Wahrnehmen kein linearer Ablauf in Stufenfolge – erst anschauen, dann reflektieren, dann wahrnehmen in specie; oder andersrum. Sondern, wie die zeitgenössische Hirnforschung nahelegt, ein systemischer Prozess “in Permanenz”. Es wird nicht erst diese, dann jene und schließlich eine dritte Hirnregion aktiv, sondern sie interagieren “apriori”; und sie warten regelrecht darauf, zu tun zu kriegen, sie suchen sich ihren Stoff. Darum spielt es auch keine Rolle, welche der jeweils beteiligten Regionen stammesgeschichtlich die ältere und welche die jüngere ist. Heute agieren sie allezeit uno actu als Ein Ganzes System.
.
system
So geschieht das Bewerten des unmittelbar durch die Sinnesreize Gegebenen – was man das ‚ästhetische Erleben’ nennen könnte – gleichzeitig in mehreren Hirnarealen, insbesondere dem Limbischen System, das aus mehreren entwicklungsgeschichtlich sehr alten Teilen besteht, und der als Gustatorischer Cortex bezeichneten ‚Inselrinde’, die in der entwicklungsge-schichtlich viel jüngeren Fissura Lateralis liegt. Und zugleich spielen in noch immer unverstandener Weise die Reaktionen des Plexus solaris hinein, der überhaupt nicht zum Zentralen System ge-hört, sondern aus einem Nervenknoten in der Bauchhöhle besteht – und insofern „uralt“ ist.

Wenn also Baumgarten seinerzeit das ästhetische Erleben als das „niedere“ Erkenntnis-vermögen bezeichnet hat, war das in neurophysiologischer Hinsicht grundfalsch. Es spielt in die „höheren“ Erkenntnisvorgänge jederzeit hinein, so wie jene in diese.

ketteAber in philosophischer Hinsicht ist es diskutabel. Die Philoso-phie betrachtet das Wissen – als Inbegriff all unseres Gewärtig-seins – nicht in seinem physiologischen oder psychologischen Vorkommen, sondern nach seinem logischen Aufbau. Logisch kommt von logos, und bezeichnet alles auf Sinn und Vernünf-tigkeit Bezogene (und nicht lediglich die Regeln des korrekten Schlussfolgerns). Zwar ist auch in logischer Hinsicht das Wissen (wenn es da ist) jederzeit ‚ganz und auf einmal’ da. Aber zugleich ist es ‚geworden’.

Allein in logischer Hinsicht folgt notwendig eines aus dem an-dern, nur in logischer Hinsicht gibt es ‚Begründung’ (und in der Naturwissenschaft wird die Vorstellung der Kausalität nur ‚sozusagen’ verwendet, zu heuristischen Zwecken). In logischer Hinsicht ‚gibt es’ also zuerst und danach. Da müssen die Sinnesreize zuerst ‚da’ sein, bevor sie ‚gemerkt’, und gemerkt werden, bevor die ‚gewertet’ werden können. Die logisch-genetische Betrachtung ist etwas anderes als die historisch-empirische.

Allerdings ist in logischer Hinsicht die Begründungskette umkehrbar (was sie in der Naturwissenschaft, wo Begründung nur ‚sozusagen’ vorkommt, nicht ist). Wenn das eine notwendig das andere zur Folge hat, dann hat das andere notwendig das eine als Grund. Mit andern Worten, der Schluss ‚begründet’  in logischer Hinsicht den Anfang ebenso, wie jener ihn. Stellen wir uns das Wissen als einen unbegrenzten Prozess vor – was es genetisch sicher ebenso ist wie historisch -, dann ist das wirkliche Wissen eine endlose Umbegründung alles wechselseitig Begründeten.

Das Gewärtigsein ist, wenn alles klappt, eine Revolution in Permanenz.

Dass alles klappt, ist in Ansehung unserer engen bürgerlichen Verhältnisse selten. Das ist schlecht für die Verhältnisse.
24. 8. 13
Erdriss

Die Frage nach dem System stellt sich beim Philosophieren von allein.

M. Großmann, pixelio.de                                                                       aus Philosophierungen

Subjektiv betrachtet, fängt die Philosophie doch immer in der Mitte an, wie das epische Gedicht. 
______________________________________________________________
Friedrich Schlegel, Athenaeum, Ersten Bandes Zweytes Stück. Berlin 1798 


– Ein hübscher Aphorismus zum Thema philosophischer Systematik. 

Jeder Philosoph fängt mit seinem Philosophieren irgendwo mittendrin an. Ganz einfach, weil er vor dem Entschluss zu philosophieren schon allerlei gewusst und seinem gesunden Menschenverstand unterzogen haben muss. Das nimmt er naiv als Startkapital und fängt an zu wirtschaften. Erst nachträglich, in dem Maße nämlich, wie er auf unerwartete ge-dankliche Probleme stößt, denkt er daran, sein Kapital zu inventarisieren – ob es wirklich so reichlich war, wie er dachte, und wie große Risiken er sich damit leisten kann. Das ist Meta philosophie, und obwohl sie logisch an den Anfang gehörte, kommt sie immer erst nachträglich.

Und dann, wenn er sich fragt, welches Risiko seinen Einsatz wert ist, taucht erstmals in klarer Kontur die Frage auf, worauf er eigentlich hinauswill. Und siehe da, das praktische Problem verhält sich auf einmal zum metaphilosophischen wie Kopf und Zahl. Unmög-lich zu sagen, welches den Vorrang hat. Und nun erscheint auch all das, was er bisher schon geschafft hatte, geschafft zu haben meinte, als der theoretische Teil eines aufzustel-lenden Systems. Der hängt jetzt aber in der Luft, nämlich mitten zwischen den komple-mentären Vorbehalten des praktischen und des metaphilosophischen Teils. Eine General-revision ist nötig; eine Kritik des theoretischen Teils. Und wenn man schonmal so weit ist, wird sich in der Durchführung der Kritik erweisen, dass recht eigentlich sie selber den theoretischen Teil ausmacht!

Nun aber erscheint sie als das Hauptstück, plat de résistance, des ganzen Systems. Weil nämlich nur durch sie Metaphilosophie und praktische Philosophie zusammengeführt werden konnten. Der praktische alias Meta-Teil ist zwar der, auf den es am Ende an-kommt. Aber möglich wurde er erst durch die Kritik, als deren Klammer.


Merke:
Die Absicht, Philosoph zu werden, und der Entschluss zu philosophieren sind nicht dasselbe.
2. 9. 14

Die immanente Genesis der Vernunft.

                                                       zu Philosophierungen 

Die Wissenschaftslehre ist also der Versuch eines vernünftigen Wesens, sich sein Bewusst-sein zu erklären. Zu verstehen, was es ist, nämlich wie es verfährt. Nicht, wie es geworden ist: Entstanden ist es einmal, nun habe ich damit zu tun, wozu es geworden ist. Heute ver-fährt es so, als sei es immer so verfahren. Ich muss es auffassen als ein Ganzes: ein Sys-tem.

Es mag wohl sein, dass unser Gehirn tatsächlich wie ein System funktioniert. Aber darum geht es bei der Vernunft nicht. Da geht es darum, sie aus sich selbst zu erklären: aus ihren eigenen Voraussetzungn und ohne auch nur in einem Moment einen äußeren Beitrag in Anspruch zu nehmen: Wer die Vernunft nicht immanent erklärt, erklärt sie gar nicht. Ver-nünftig ist dabei nicht, dass kausal eines aus dem vorigen folgt, sondern dass sich eine Richtung ergibt, weil sie einen Zweck anstrebt. Vernünftig ist daran, dass sie jederzeit ur-teilt, welcher Zweck gelten soll.

Ihre Voraussetzung ist das Noumenon eines unbestimmt-bestimmbaren Wollens-über-haupt, am Zielpunkt muss folglich das Noumenon eines unbestimmt-bestimmbaren Zweckes-überhaupt stehen. Nur so ist Vernunft als System möglich. 

Dass ein Bewusstsein sich als schlechterdings wollend auffasst; dass ein Bewusstsein sich als vernünftig begreift; dass ein Bewusstsein sich als schlechterdings zielgerichtet be-stimmt: das alles bedeutet dasselbe. Ob aber diese Bedingungen gegeben sind, ist eine Frage an die historische Realität

Dass sie jedoch sein soll, folgt aus ihr, sobald sie möglich geworden ist
.
6. 6. 17


Eine Korrektur habe ich in den letzten Tagen allerdings vorgenommen: Ganz ohne einen "äußeren Beitrag" kommt auch die Wissenschaftslehre bei ihrer Rekonstruktion der Ge-nesis der Vernunft nicht aus. Die Aufforderung durch eine Reihe vernünftiger Wesen ist keine immanente Hervorbringung des sich-selbst-bestimmenden Ichs, sondern greift in jene von außen ein. Aber eben nicht transzendent, nicht als ein 'erstes Individuum' und 'höheres, unbegreifliches Wesen', wie Fichte selbst es tat (und nicht anders konnte). Viel-mehr muss die Perspektive umgekehrt werden: Die Vorstellung des einen sich selbst set-zenden und fortbestimmenden Ichs muss in der Wirklichkeit aufgefasst werden als Ab-straktion der sich zusammenfindenden und gemeinsam ausbildenden 'Reihe vernünftiger Wesen'. 

In der historische Wirklichkeit entsteht Vernunft nicht als Begegnung von zu-Bewusst-sein-gekommenen Einzelnen, sondern das Bewusstsein der Einzelnen erwächst aus dem tatsächlichen Verkehr historischer Individuen miteinander, der ihren realen - sei es vorstel-lenden, sei es sinnlichen - Tätigkeiten vorgegeben ist, und der durch ihre Wechselwirkung den Übergang zu idealer Tätigkeit - Reflexion - ermöglicht hat. 

Sorum betrachtet handelt es sich dann doch um eine immanente Genesis.

31. 5. 19

Die rationale Fiktion; oder Das urwüchsige System.

                                                                               aus Philosophierungen

Dem diskursiven Denken liegt als Prämisse die ungeahnte Fiktion zugrunde, der logische Raum – Ein und Alles ['alles, was der Fall ist'] – sei eine geschlossene Sphäre, deren Um-fang lückenlos von Begriffen angefüllt ist, die einander wechselseitig bestimmen.

In unserer wirklichen Vorstellung ist die Welt hingegen ein – 'zwar endlicher, aber unbe-grenzter' – Raum, in dem Bedeutungen teils so nah bei einander liegen, dass sie einander berühren, ineinander verfließen und bei genauem Hinschauen gar nicht recht zu unter-scheiden sind; und teils ganz beziehungslos neben einander liegen ohne ein Drittes, an dem sie wenigstens zu vergleichen wären. Das logische Ein und Alles verhält sich zum wirklichen Vorstellen etwa so, wie die Welt des naturwissenschaftlichen Labors zu den Dingen unseres Mesokosmos.
ca. 2009

Die ungeahnte Fiktion nehmen wir in Anspruch, wenn und wo wir uns vernünftig ver-halten wollen. Nicht, dass wir glaubten, dass es wirklich so ist; aber wir handeln doch so, als ob es so sei.

Das sind die sonntäglichen Momente in unserm geschäftigen Alltag. Normalerweise reicht uns ein Ungefähr, um tagein tagaus zurechtzukommen. Der scharfe Konflikt, der nur auf Messer Schneide zu entscheiden wäre, ist gottlob die Ausnahme. Doch nur, weil Vernunft uns ausnahmsweise in jedem Fall zuhanden oder doch zu Kopfe ist, können wir unser alltägliches Ungefähr riskieren.*

Das ändert nichts daran, dass ein fertiges System der Vernunft immer eine Fiktion bleibt. Nur weil wir meinen, an sich sei die Welt ein wechselwirkendes System aus realen Teil-chen, die zugleich
 Bedeutungs-Partikel darstellen, und insgesamt einen Sinn hat, der un-abhängig davon ist, ob ihn jemand einsieht - nur darum ist es möglich, dass wir und in unserer Alltagsroutine regelmäßig verständigen und nach heftigem Kampf am Ende meist noch eine Friedenslösung finden. Indem sie zeigt, wie sie zustande kam, stellt die Transzendentalphilosophie klar, dass es sich um eine Fiktion handelt.

Wozu ist das gut?

Um dem Missverständnis abzuhelfen, im Sein der Dinge sei irgend ein Sinn eingeschlos-sen. "Ihr Hauptnutzen ist negativ und kritisch. Es mangelt in dem, was nun gewöhnlich für Lebensweisheit gehalten wird, nicht daran, daß sie zu wenig, sondern daran, daß sie zu viel enthält. Man hat eben die erräsonierten Sätze der oben beschriebenen erschaffenden Metaphysik hereingetragen – und diese sollen
 [wieder heraus] gesondert werden. Sie hat die Bestimmung, die gemeine Erkenntnis von aller fremden Zutat zu reinigen... Für die the-oretische Philosophie, Erkenntnis der Sinnenwelt, Naturwissenschaft ist sie regulativ. Sie zeigt, was man von der Natur fragen müsse.

Ihr Einfluß auf die Gesinnung des Menschengeschlechts überhaupt ist, daß sie ihnen Kraft, Mut und Selbstvertrauen beibringt, indem sie zeigt, daß sie und ihr ganzes Schick-sal lediglich von sich selbst abhängen; indem sie den Menschen auf seine eignen Füße stellt."

*) Das so genannte Zeitalter der Vernunft begann, als in den Verträgen von Münster und Osna-brück der Westfälische Frieden geschlossen wurde. Nachdem GOtt dreißig Jahre lang für Mord und Verwüstung gesorgt hatte, musste als glaubwürdiger Bürge die Vernunft nachrücken
.

23. 1. 19

Das System und das Absolute.

                                                           zu Philosophierungen

Ein System ist nur denkbar unter Voraussetzung eines Absoluten: entweder als sein Ausgangs- oder als sein Fluchtpunkt; das aber ist am besten denkbar als beides.
3. 9. 22
 
 

Kleines System der Philosophie.

                                                                      aus Philosophierungen  
 
Philosophie ist wissenschaftlich nur als Kritik. Und nur als Kritik sollte sie sich zu einem System ordnen lassen. Negativ zwar, sofern ihr letzter Grund darin aufgefunden wird, dass ein realer Urgrund des Wissens sich nicht nachweisen lässt. 

Sie ist Wissen des Wissens und endet in der Einsicht, dass das Wahre als beabsichtigter Gegenstand des Wissens nicht auf-gefunden, sondern postuliert wird. Ein solches Wissen vom Wissen ist in seiner Negativität rein formal und hat keinen Inhalt. 

Das war aber nicht die Absicht, aus der heraus die Philosophie entstanden ist. Sie wollte im Gegenteil ein positives Wissen, das als Wegweiser zur richtigen Lebensführung taugt. Die Kritik zeigt nun: Mit theoretischen Mitteln ist das nicht zu haben. Die richtige Lebens-führung lässt sich nicht ergründen, sondern kann nur entworfen werden. Sie muss frei er-funden werden, und ihr einziger Maßstab* ist Schönheit – nämlich ob sie vor allem Inter-esse gefälltDa kann die theoretische, wissenschaftliche, kritische Philosophie allerdings sekundär behilflich werden: indem sie die Interessen ans Licht zieht und abweist.

Die Kritik fügt dem Wissen sachlich nichts hinzu. Sie macht aber durch ihre Distinktio-nen das Wissens selbst – nicht erst das Gewusste – zu einem möglichen Gegenstand des Urteils: Was ist vor-, was ist nachgeordnet? Sie prüft den Wert des Wissens und ist also selber praktisch.

Daraus erhellt aber zugleich, dass der Maßstab zur Beurteilung des Wissens nicht in ihm selber aufzufinden ist, sondern ihm 'vor'-, d. h. übergeordnet war. Die 'Begründung' des Wissens geschieht actu im 'metaphilosophischen' Raum – und hat sich in der praktischen oder Lebensphilosophie zu bewähren. Sie ist eine pragmatische Fiktion, und insofern eben doch: 'Hypothese', genauer: Hypostase. Ist nicht proiectio, sondern proiectum. Und dies ist das einzige 'Interesse', das der Kritik standhält. 

*) Einen Urteilsgrund gibt es nicht. Und ein Urteil ohne Grund nennen wir 'ästhetisch': Es hat als Anhaltspunkt nichts als den Geschmack.

irgendwann in 2010


Nachtrag. Wenn Sie, wie ich nur wünschen kann, schon öfter auf diesem Blog waren, werden Ihnen diese Zeilen nicht ganz unbekannt vorkommen. Das liegt an meiner unver-meidlich fragmentarischen Darstellungsweise:  Wenn nicht alles linear und diskursiv aus einem einzigen Blickwinkel hergleitet wurde, muss man ab und zu hinter sich greifen, um die sinnhafte Einheit wieder herzustellen. Dabei wird es dann möglich und fast nötig, schon dagewesene Gedanken pointierter zusammenzufassen als beim erstenmal.

23. 10. 22

 

Ganz und auf einmal

                        aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

"Wenn wir zu unserer Hauptaufgabe zurückkehren, so werden wir sehen, dass noch nichts gewonnen ist":* Das hören wir immer wiedermal in seinem Vortrag. Es bedeutet nur, dass das Entwerfen des Gesamtmodells des vernünftigen Bewusstseins nicht Stück für Stück, durch schrittweises Aufhäufen positiv bestimmter Bausteine geschieht, sondern dass spekulativ die Bedingungen aufgesucht werden, unter denen ein Gesamtmodell mög-lich würde; und eine jede gilt nicht für sich, sondern nur unter der Prämisse, dass das Ge-samtmodell wirklich zustande kommt; also hypothetisch, bedingt, "problematisch". 

Sollte am Ende das Gesamtmodell doch nicht gelingen, war alles vergeblich und entfällt. Das heißt: Gültig wird es erst zum Schluss, aber dann 'ganz und auf einmal'. Nicht die Einzelnen begründen das Ganze, sondern das Ganze rechtfertigt die Einzelnen; damit sie es begründen können.
 

Ob etwas aber ein Ganzes ist (d. h. sein soll) oder nur ein Teil, ist Sache der Reflexion - nämlich ihrer ersten und einfachsten Form, der Anschauung.


*) Fichte, WL nova methodo, S. 161 
21. 7. 17

Oder andersrum: Das wirkliche Vernunftsystem, das Gegenstand der Kritik ist und von dem die transzendentale Analyse ausgeht, ist uns als System gegeben. Es begegnet uns auf einmal und mit einem Schlag.

So lässt es sich freilich nicht darstellen. Es besteht virtualiter aus Begriffen und Schluss-regeln; Regeln für das Schließen von Einem auf das Folgende, Regeln für das Aneinander-knüpfen in der Zeit. Denn so, wie es ist, ist das System geworden, historisch. Wenn ich es so darstellen wollte, müsste ich die Begriffe so darstellen, wie sie gewesen sind, bevor sie begriffen wurden.

Das tut die Wissenschaftslehre und das macht ihre Besonderheit aus: Sie demonstriert, wie die Begriffe aus Vorstellungen hervorgegangen sind, sein müssenweil anders sie als gegeben und vom Himmel gefallen vorausgesetzt werden müssten, was entgegen der Aufgabe ist. Auch die transzendentale Rekonstruktion des Systems der Vernunft muss also ein Nacheinander darstellen. Es ist das genetische Nacheinander der Gehalte, in dem das ideale Aus einander so dargestellt wird, als ob es realiter geschehen sei. Im realen Aus- und Nacheinander der Gehalte müsste die Form des Schließens hinzukommen - und mit ihr die Dauer in der Zeit; denn das Schließen ist ein Tun und dauert als solches wirklich; während die Gehalte nur gedacht sind.

Kurz gesagt, das System der Wissenschaftslehre stellt das genetische Auseinander der Ge-halte logisch dar als ein Nacheinander unter Absehung vom historischen Moment der Tä-tigkeit. Es stellt dar eine Zeit ohne Dauer.  

Der Nachteil ist, dass da, wo es noch unfertig ist, nicht einfach weitergebaut werden kann wie das zweite Geschoss aufs erste. Solange nicht alles fertig ist, ist auch kein Teil fertig.

Vorstellen wird als kontinuierlich geschehendes Tun aufgefasst; der Begriff ruht und ist für sich selbst.
28. 4. 19



Das System der Vernunft ist uns gegeben.

                         zu Philosophierungen

Die Wissenschaftslehre hat zum Gegenstand das uns heute gegebene System des Wissens. Dieses will sie verstehen: zurückführen auf seine immanenten Prämissen. Sie beschreibt nicht, wie dieses System in der historischen Wirklichkeit entstanden ist. Entstehen konnte es nur, indem aus den wirklich vorkommenden Vorstellungen progressiv alles für die Systembildung Unbrauchbare ausgeschieden wurde. Es ist Material einer historischen Darstellung. In einer Darstellung des fertigen Systems hat es nicht zu suchen.

Der gegenwärtige Teilhaber dieses Systems - einer 'Reihe vernünftiger Wesen' - kann nicht anders, als seine Vorstellungen mit dem ihm als Apriori gegebenen System ins Verhältnis zu setzen: Seine Vorstellungen drängen zum Begriff. Dass sie von ihm "unzertrennlich" wären, trifft aber nur in der einen Richtung zu: Die Begriffe sind von den in ihnen gefass-ten Vorstellungen unzertrennlich. Doch nicht gilt die Umkehrung. Nicht jede Vorstellung bedarf ihrer Bestimmung; sondern nur diejenige, die mit den Andern (='vernünftigen Wesen') geteilt werden soll. Was ich ganz für mich behalten darf, mag unbestimmt und begriffslos bleiben.

In einer historischen Darstellung müsste gezeigt werden, dass und wie die Vorstellungen zu Begriffen erst wurden - durch progressives Ausscheiden des Unbrauchbaren im Ver-kehr
3. 7. 17


 


'Mein System' in extenso:

 

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