Dienstag, 30. April 2024

Der Philosoph und das Individuum.

byzant., Elias     zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Dieses Ich sieht die Welt und die Dinge auch an, / diese seine Ansicht wird auch von dem Gesichtspunkte des Idealismus erblickt, der Idealist sieht, wie dem Individuum die Dinge werden müssen, die Sache ist also für das Individuum anders als für den Philosophen. Für das Individuum nun sind die Dinge, Menschen usw. unabhängig von ihm vorhanden. Der Idealist aber sagt: Dinge außer mir und unabhängig von mir vorhanden, gibt es nicht. 

Beide sagen also das Gegenteil und widersprechen sich doch nicht, denn der Idealist zeigt von seinem Gesichtspunkte aus die Notwendigkeit der Ansicht der Individuen. Wenn der Idealist sagt: außer mir, so heißt dies: außer der Vernunft; bei dem Individuum heißt es: außer der Person.

Den Gesichtspunkt des Individuums kann man den gemeinen nennen, oder den der Er-fahrung. Wird er genetisch angesehen a priori, wenn
[hier: wie] man auf ihn kommt, so findet sich, dass man durch das Handeln auf ihn komme, er heißt daher der praktische. Alle philo-sophische Spekulation ist nur möglich, in wie fern abstrahiert wird (im Handeln findet keine Abstraktion statt), und heißt darum der ideale Gesichtspunkt. Der praktische Gesichtspunkt steht unter dem idealen.

Wenn der Philosoph auf dem praktischen Gesichtspunkt steht, so handelt er wie jedes an-dere Vernunftwesen, und wird nicht durch Zweifel gestört, weil er weiß, wie er auf diesen Standpunkt kommt. Die Spekulation kann nur den stören, der erst angefangen hat zu spe-kulieren, aber noch nicht im Reinen ist; dem kritischen Philosophen kann so etwas nicht einfallen, weil die Resultate der Erfahrung und der Spekulation immer zusammentreffen.

Es gehört aber Festigkeit dazu, sich von dem einen Gesichtspunkt auf den andern zu setzen; hierin fehlt oft der Anfänger, der durch realistische Zweifel in der Spekulation gestört wird, der wird auch im Handeln durch idealistische gestört.

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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Zweite Einleitung,  S. 24f.

 

Nota. - Während des Handelns reflektieren: das kann sich nur leisten, wer den ständigen Perspektivwechsel gewöhnt ist; wer etwa das Denken berufsmäßig treibt. Jeder andere sollte beherzigen: Alles zu seiner Zeit!
JE

Montag, 29. April 2024

Wie das Denken diskursiv wurde.

                                                                   aus Philosophierungen

Erst durch den Begriff wird das Denken diskursiv; nämlich sobald es um der Verständigung willen geschieht – zuerst mit den Andern; daraus folgend schließlich: mit mir selbst. Das ist dann Reflexion in specie: Reflexion für sich, während sie vorher bloß 'an sich' geblieben war.

Diskursiv wird das Denken, indem es in Begriffen gefasste Vorstellungsinhalte nach regel-mäßigen Verfahren miteinander verknüpft und daraus Schlüsse zieht, um sie in zu einem Argument zu entwickeln. Es ist ein unfreies Verfahren, indem die Gehalte der Begriffe eben so vorgegeben sind wie die Regeln der Verknüpfung ('Logik'). Der diskursiv Denkende un-terwirft sich dieser Unfreiheit, weil sie allein ihm ermöglicht, den Zuhörer ebenderselben Unfreiheit zu unterwerfen: ihn zum Einverständnis zu zwingen.

Wissenschaft ist diskursiv, das System des diskursiven Denkens ist Wissenschaft, wenn und weil es allgemein geschieht: öffentlich.
 

22. 10. 15   



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Sonntag, 28. April 2024

Der Begriff des Seins ist kein ursprünglicher, sondern ist von der Tätigkeit abgeleitet.

                    aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik
§2                                                                                          

Man werde ferner finden, wird behauptet, dass man sich im Entwerfen des Begriffs vom Ich nicht tätig setzen könne, ohne diese Tätigkeit als eine durch sich selbst bestimmte, und diese nicht ohne ein Übergehen von der Unbestimmtheit oder Bestimmbarkeit zu setzen, welches Übergehen eben die bemerkte Tätigkeit ist ( N. 1 et 2 supra). 

Den durch die bestimmte Tätigkeit entstandenen Begriff könne man gleichfalls nicht fassen, ohne ihn durch ein entgegengesetztes NichIch zu bestimmen, das Bestimmbare sei dassel-be, was oben das Ruhende war (§1), weil es eben zur Tätigkeit bestimmt wird, und das, was in Beziehung auf die Anschauung des Ich Begriff desselben sei, sei [in Beziehung] auf das Nicht-Ich Anschauung. / Es sei nämlich Begriff des Anschauens (N. 4). 

Dem NichtIch komme zu Folge der Entgegensetzung zu der Charakter der Negation der Tätigkeit, das ist der des Seins, welcher der Begriff aufgehobener Tätigkeit, sonach nicht ein irgend ursprünglicher, sondern ein von der Tätigkeit abgeleiteter und negativer sei.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, S. 43f.   


Nota. -
Das ist der wesentliche Unterschied zwischen der rationellen Dialektik Fichtes und ihrer Hegel'schen Mystifikation: Positio und Negatio sind nicht gleich-ursprünglich; Sein setzt Tätigkeit voraus, die sie negiert, und beide setzen voraus einen Tätigen und Negieren-den, für den sie sind. - Den Tätigen und die Tätigkeit scheidet Hegel aus, für ihn sind Sein und Nichts 'an sich' da, Tätigkeit entsteht erst aus dem Gegensatz beider; bei H.'s Subjekt-Objekt ist auch die subjektive Seite ein Objektivum.
JE
, 23. 4. 16

 

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Samstag, 27. April 2024

Genetisches Verfahren und dogmatische Begriffsdialektik.

                                 aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

1. Insofern das Nicht-Ich gesetzt ist, ist das Ich nicht gesetzt; denn durch das Nicht-Ich wird das Ich völlig aufgehoben.

Nun ist das Nicht-Ich im Ich gesetzt: denn es ist entgegengesetzt; aber alles Entgegenge-setzte setzt die Identität des Ich, in welchem gesetzt und den Gesetzten entgegengesetzt wird, voraus.

Mithin ist das Ich im Ich nicht gesetzt, isofern das Nicht-Ich darin gesetzt ist.

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J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, Hamburg 1979, S. 26


[ad Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, S. 26, N.1] Da nun Entgegengesetztes beisammen bestehen soll, so muss das Ich das Vermögen haben, Entgegengesetztes zu-sammen zu setzen in demselben Akt des Bewusstseins, weil eins ohne das andere nicht möglich ist. Im Ich ist das Vermögen, synthetisch zu verfahren.

Synthesis soll heißen zusammensetzen; nun kann aber nur zusammengesetzt werden, was entgegengesetzt ist. Soll nun in einem Akt zusammengesetzt werden, so muss
[das Ich] in einem Akte Entgegengesetztes, also ein Mannigfaltiges zu Stande bringen können; mithin muss ein solcher Akt einen Umfang haben. Dieser Umfang des Akts nun, in welchem Man-nigfaltiges zusammengesetzt wird und wodurch es möglich wird, wird im Buch [Grundlage] genannt Quantitäts fähigkeit.

Im Bewusstsein dieses Handelns liegt das, wovon übergegangen wird; das, wozu übergegan-gen wird, und das Handeln selbst. Das Bewusstsein ist kein Akt, es ist ruhend, in ihm ist Mannigfaltigkeit, über welche das Bewusstsein gleichsam hinüber geführt wird. Im Bewusst-sein ist alles zugleich vereinigt und getrennt. Dies
bedeutet die Schranken, Teilbarkeit, Quan-titätsfähigkeit. [vgl. Grundlage, S. 29, N. 8]
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ders., Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 48 



8. Etwas einschränken heißt: die Realität desselben durch Negation nicht gänzlich, sondern nur zum Teil aufheben. Mithin liegt im Begriff der Schranken, außer dem der Realität und der Negation, noch der der Teilbarkeit (der Quantitätsfähigkeit überhaupt, nicht eben einer bestimmten Quantität). Dieser Begriff ist das gesuchte X, und durch die Handlung Y wird demnach schlechthin das Ich sowohl als das Nicht-Ich [als] teilbar gesetzt.
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ders., Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, Hamburg 1979, S. 29


Nota. - Nichts ist "überhaupt" oder an sich gesetzt. Es ist gesetzt von einem für einen an einer Stelle: anders ist gesetzt sein ohne Bedeutung. Wenn also ich mich in mich hinein 'set-ze', kann ich in mich nicht zugleich ein Nich-Ich setzen, weil es mein Ich aufhöbe. Doch so soll - und muss, wenn ein Bewusstsein zustande kommen soll - es geschehen. Dem setzen-den Ich muss also das Vermögen zugeschrieben werden, Entgegengesetzte in sich neben einander zu setzen, ohne dass sie sich aufheben: 'synthetisch'.

Hier wird der substanzielle Unterschied von Fichtes genetischem analytisch-synthetischen Verfahren zur Dogmatik der Hegel'schen Begriffslogik deutlich. Knüpfen wir die Begriffe mit logischer Folgerichtigkeit aneinander, dann entsteht ein Widerspruch. Das eine kann nicht bestehen, wenn das andere besteht. Logisch würden sie einander aufheben und es bliebe... nichts übrig. So soll es bei Hegel aber nicht sein. Sie heben einander 'auf' heißt: auf eine höhere Stufe. Es wird etwas Neues daraus von einer Höheren Qualität. Verstehe, wer kann, das ist mystisch, das ist Hokuspokus, das kann man allenfalls glauben; muss man aber nicht.

Die genetische Methode bedient sich nicht vorgegebener Begriffe, sondern [treibt] tätig Vor-stellungen aus einander hervor. Ich stelle mir zwei Entgegengetzte vor; ich soll sie mir zu-gleich und an derselben Stelle vorstellen ('setzen'). Dann muss ich sie mir als bestimmte Mengen vorstellen, die nebeneinander im selben Raum Platz haben. 

Das wäre eine triviale Lösung, blieben sie auf diese Weise in meiner Vorstellung nicht ein-ander immer noch auf engstem Raum entgegen gesetzt! Zur Ruhe können sie so nicht kommen, da muss ich mir eine Energie vorstellen - und dass sie mich zu weiterem Vor-stellen antreibt.

Der Unterschied ist: Beim genetischen Verfahren Fichtes bleibt stets das vorstellende Ich tätig; während in der dogmatischen Dialektik das tätige Subjekt in den Begriffen begraben wird.
JE, 6. 6. 19





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Freitag, 26. April 2024

Im Bewusstsein ist alles zugleich vereinigt und getrennt.

Universum                   aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Synthesis soll heißen zusammensetzen; nun kann aber nur zusammengesetzt werden, was entgegengesetzt ist. Soll nun in einem Akt zusammengesetzt werden, so muss [das Ich] in einem Akte Entgegengesetztes, also ein Mannigfaltiges zu Stande bringen können; mithin muss ein solcher Akt einen Umfang haben. Dieser Umfang des Akts nun, in welchem Man-nigfaltiges zusammengesetzt wird und wodurch es möglich wird, wird im Buch [Grundlage...] genannt Quantitäts fähigkeit.
_______________________________________________________                               J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 45


Nota I. - Zwar zieht sich 'Bewusstsein' wie eine Leitmelodie durch den ganzen Text. Doch thematisch wird es nur ganz selten, en passant, wie hier. Warum? 'Real' ist es immer nur als Tätigkeit, als voranschreiten in der Bestimmung eines noch Unbestimmten. Nur 'ideal', in der Reflexion, wird es angeschaut 'in Ruhe', als ein Zustand. In diesem Zustand wiederum kommen alle Bestimmungen des Bewusstseins, die realiter als ein Nacheinander, als ein Aus/einander, als ein Fortschreiten in der Vorstellung erscheinen, zugleich und als das Neben/einander eines Mannigfaltigen vor. Mehr wäre über das Bewusstsein als solches nicht zu sagen.
22. 6. 16

Nota II. - Hier ist wohlbemerkt vom tatsächlichen Bewusstsein der wirklichen vernünftigen Wesen die Rede und nicht von transzendentalen Abstraktionen.
JE

Donnerstag, 25. April 2024

Das wirkliche Subjekt ist gespalten.

  Soehnée                                                                                                                 zu Philosophierungen

Das autonome Subjekt ist kein Naturdatum. Es muss sich bilden. Das Bilden geschieht durch das Einordnen alles Wirklichen (Erlebten) in das Spannungsfeld zwischen zwei Polen: 'Ich' und 'die Welt'. (Beide haben ein 'Sein' nur als Pole dieses Feldes.)

Unsere Welt ist die Wirklichkeit, betrachtet vom Pol 'Welt' aus, meine Welt ist die Wirklich-keit, betrachtet vom Pol 'Ich' aus. Beide sind Abstraktionen: nämlich vom wirklich-Erlebten.
Persönlichkeitsstörungen sind das Aufgeben des einen Pols zugunsten des andern.

aus e. Notizbuch, 5. 9. 08

 

Als Absolutes Ich fasst die Transzendentalphilosophie die historisch-wirklichen Subjekte auf insofern, als sie vernünftig sind. Vernünftig sind sie als Bürger unserer Welt. Nur da hat Vernunft etwas zu bestellen.

1. 4. 22

Mittwoch, 24. April 2024

Der Begriff und sein dogmatischer Schein.

nachträglicher Vortrag zum Eintrag von gestern:

  Toma-Volk, Guinea                                     Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Um mich selbst als mich selbst wahrnehmen zu können, müsste ich mich schon als gesetzt voraussetzen. 

Zu der Tätigkeit, mit der ich mich setze, ging ich über von einer Ruhe, Untätigkeit, die ich der Tätigkeit entgegensetze. Anders konnte man die Vorstellung der Tätigkeit nicht bemer-ken; sie ist ein Losreißen von einer Ruhe, von welcher zur Tätigkeit übergegangen wird. Al-so nur durch Gegensatz war ich vermögend, mir meiner Tätigkeit klar bewusst zu werden und eine Anschauung derselben zu bekommen.

Handeln ist gleichsam Agilität, Übergehen im geistigen Sinne, dieser Agilität wird im Be-wusstsein entgegengesetzt ein Fixiertsein, ein Beruhen. Umgekehrt kann ich mir auch der Ruhe nicht bewusst werden, ohne dass ich mir der Tätigkeit bewusst bin. Man muss daher beide zugleich ansehen, um eine von beiden einzeln ansehen zu können. Nur durch Gegen-satz ist ein bestimmtes klares Bewusstsein möglich. Wir haben es hier aber nicht mit diesem Satze überhaupt, sondern mit dem einzelnen bestimmten Falle zu tun, der hier in Frage kommt.
 

Ich richte meine Aufmerksamkeit auf den Zustand der Ruhe, / in dieser Ruhe wird das, was eigentlich ein Tätiges ist, ein Gesetztes. Es bleibt keine Tätigkeit mehr, es wird ein Produkt; aber nicht etwa ein anderes Produkt, als die Tätigkeit selbst, kein Stoff, kein Ding, welches vor der Tätigkeit des Ich vorherging; sondern bloß das Handeln wird dadurch, dass es ange-schaut wird, fixiert. So etwas heißt ein Begriff, im Gegensatz der Anschauung, welche auf die Tätigkeit als solche geht. 

In dieser in sich zurückgehenden Tätigkeit, als ruhend angeschaut, fällt Subjekt und Objekt zusammen, und dadurch entsteht das Positive, Fixierte. Dieses Zusammenfallen beider, und wie dadurch die Anschauung in einen Begriff verwandelt wird, lässt sich nicht anschauen, sondern nur denken. Nur die Anschauung lässt sich anschauen, nicht denken; das Denken lässt sich nur denken, nicht anschauen. Jede Äußerung des Gemüts lässt sich nur durch sich selbst auffassen. Dies bestätigt die oben aufgestellte Theorie des Bewusstseins.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982,
S. 32f.

 

Nota. -  Breve: Was eigentlich Agilität ist, erscheint im Begriff als ruhendes Sein - vor der Tätigkeit und als ihre zu realisierende Bedeutung.
JE

Dienstag, 23. April 2024

Der Begriff ist der metaphysische Pferdefuß und das Medium seiner Kritik.

Toma-Volk, Guinea                                                     zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Die Rede ist wie immer von der Vorstellung. Nicht die Dinge unterscheiden sich von ein-ander, sondern ein Vorstellender unterscheidet. Einen Unterschied zwischen Vielen nehme ich als Mannigfaltigkeit wahr. Den Unterschied zwischen Zweien nehme ich wahr als Ge-gensatz; zum Gegensatz wird ein Unterschied, indem ich auf ihn reflektiere: ihn mir als sol-chen zu Bewusstsein bringe. Reflektiere ich auf Eines im Unterschied zu Vielen, setze ich das Eine zu Allem Andern als einem Totum in einen Gegensatz.

Wenn das Ich sich selber wahrnehmen soll, muss es sich von sich unterscheiden. Wenn es darauf reflektiert, setzt es sich sich-selbst entgegen. Wenn das Ich, das wahrnimmt, auf das Ich blickt, welches es wahrnehmen soll, findet es dieses als schon da seiend vor. Findet es sich vor als tätig, so nur, indem es sich einen Zustand voraus-setzt, in dem es ruhend war.

Ruhend heißt: außerhalb des Zeitverlaufs; bloß im Raum heißt: als reine Form der Tätigkeit. - Es ist überhaupt nur dieses Vermögen, ein Tun 'als ruhend', als bloße Form aufzufassen und zum Begriff zu bilden, das die Vorstellung von einem An sich - des  Phänomens als Noumenon - möglich macht. Im Vorstellen ist das Ich allenthalben tätig. Wo es sich als sich begreift, begreift es sich als seinem Tätigsein vorausgesetzt. Der Begriff ist das Gedanken-bild des Phänomens, nicht mehr und nicht weniger, und als solches steht er außerhalb von Raum und Zeit - und ist ganz selbstgenügsam "an sich". Der Begriff ist die Falle der Vor-stellung. Im Begriff erscheint dem Vorstellenden das, was er sich vorstellt, als ihm voraus-gesetzt. Er ist der metaphysische Pferdefuß, er ist der harte Kern alles Dogmatismus'. 

Er ist allerdings auch das scharfe Messer der Kritik. Er markiert die Unterschiede - s. o. - und verhindert, dass alles unter einen Hut kommt. Er ermöglicht die Frage nach dem Grund und berechtigt zur Abweisung der Mystifikationen. Er ist das Medium des dialek-tischen Scheins so wohl, als das Medium seiner Zerstreuung.
JE, 14. 10. 18

Wo bleibt Kant?

 

Musikschule                                 zu Philosophierungen

Wie kann das sein, dass ich bei den vielen geräuschvollen Kant-Dithyramben dieser Tage nicht kräftig mit ins Horn stoße?

Kant hat eine neue Epoche eröffnet, indem er die Vernunft nicht einfach als gege-ben hinnahm, sondern sich zur Frage nach ihrem Woher und Wohin erkühnte, und das wird gefeiert. Doch hat er sie nur zur Hälfte ins Auge gefasst, er hat das Apriori aufgedeckt und den Rest dem Glauben überlassen.

Die Ehre, die ihm gebührt, erweist man ihm, indem man die Vernunftkritik bis zu ihrem Schluss führt, und daran stricke ich Jahr für Jahr und an jedem Tag. Das kann nicht jeder von sich behaupten.

22. 4. 2024

 

Montag, 22. April 2024

Genetisch und organisch, oder Dependenz und Wechselwirkung.

                     zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Das Mannigfaltige wurde von uns angesehen als im Verhältnisse der Dependenz; erst durch den Zweckbegriff hindurch sehen wir das Objekt; bloß dadurch, dass der Zweckbegriff ein gefärbtes gespaltenes Glas ist. So bei der Kategorie der Substanz. In Rücksicht des[sic] letz-tern bloß mit dem Unterschiede, dass das Bestimmte durch diese Synthesis nicht erst wur-de, wie bei der Kausalität, sondern dass ein reines Denken, wodurch das Bestimmen erst entstanden wäre, vorausgesetzt wurde. -

Bisher war nur etwas das Vermittelnde, ein anderes in derselben Rücksicht das Vermittelte. Hier ists anders, das Mannigfaltige wird gedacht neben einander, ohne Dependenz in Wech-selwirkung, aber es liegt nicht zerstückt als etwas, das einander fremd sei, sondern beide greifen ineinander ein und sind gleichsam vermittelt, aber nur so, dass beide Prädikate bei-den zukommen [und] dass beide durch einander hindurch gesehen werden. Der ursprüngli-che Akt der gegenwärtigen Synthesis ist gleichsam ein doppelter, wie es mit dem ursprüng-lichen Akt des Ich, das immer ein doppeltes ist, sich nicht anders verhalten konnte.

Erläuterung. Ich stehe bei einer Bestimmung des Gemüts, in welcher das ganze Bewusstsein seine[m] Grundfaden und [seinen ] Grundbestimmungen nach enthalten ist. Dies ist der Wis-senschaftslehre eigentümlich, in anderen Philosophien liegt ein einfaches Denken in bloßer mechanischer Reihe, nicht aber in organischer Reihe. Ebenso verhält sich Fichtes Physik zu den gewöhnlichen. In letzteren herrscht überall Mechanismus, in Fichtes liegt keine einfache Kraft A, sondern jedes A ist eine Sammlung mehrerer Kräfte in Wechselwirkung.

So ist die / Wissenschaftslehre organisch und diskursiv. Sie enthält lauter Synthesen. Gegen-wärtige ist die Grundsynthesis, in der erst das diskursive Denken entsteht. Der Baum be-steht z. B. in einer organischen Kraft, nicht in Blüte, Rinde, Stamm pp.; so hier mit dem Be-wusstsein. Das Denken ist in der Zeit, die Ursache und Wirkung ins Unendliche ist nicht das Innere des Bewusstseins; es sind gleichsam Blätter, Blüten, Früchte. 

Das Innere ist urprünglich eins. In dieser Synthesis sind zu finden zwei Reihen; von A, Be-stimmen meiner selbst, geht sie aus, von einer Seite entsteht Bestimmtsein, dadurch wird ein Produkt in der Sinnenwelt erblickt; von der anderen Seite ist es auch ein Selbstbestim-men, welches als Agilität erblickt [wird], hindurchgeblickt durch die Mannigfaltigkeit dessen, zu dem ich mich bestimmen könnte.

Beide Ansichten vereinigen sich in einem Moment: Hier ist keine Dependenz; Vermittlung wohl, aber nicht so, dass nur eins durchs andere erblickt würde und das erste nicht durch das zweite; sondern durch Wechselwirkung. Hier ist ein A, wodurch B, und B auch in der-selben Rücksicht wieder A ist und durch einander hindurchgesehen wird. 
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982,
 
S. 209f.
 

Nota. - Dies ist der Wissenschaftslehre eigentümlich: In anderen Philosophien liegt ein ein-faches Denken in bloßer mechanischer Reihe, nicht aber in organischer Reihe. Die Wissen-schaftslehre ist nicht nur (in der Sache) systematisch, sondern verfährt (in der Form) syste-misch. Das ist ja die größte Hürde für die Darstellung: Die Darstellung kann nicht anders als diskursiv verfahren, und da knüpft immer nur eines an ein vorangegangenes an; mecha-nisch, als handle es sich um ein Nebeneinader einzelner Handlungsstränge, nicht aber um das auseinander-Hervorgehen von sich entwickelnden Systemzuständen. Was im zeitlichen Längsschnitt als Dependenz erscheint, tritt im Querschnitt, in rein logische Betrachtung außerhab der Zeit, als Wechselwirkung auf. Man muss 'die eine durch die andere sehen': Diese Betrachtungsweise ist genetisch, weil sie organisch ist, oder organisch, weil sie gene-tisch ist.
JE


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Dynamische Darstellung, statische Kritik, I.

spandau-arcaden                                             aus Philosophierungen Die genetische Darstellung unterscheidet sich von de...