12. Der wissenslogische Grund.



Die Seiten eins bis neun umschreiben den thematischen Umfang des 'Systems': die meta-philosophische Aufgabenstellung, nämlich das ganze Feld der Anthropologie. Sie stammt unmittelbar aus der Erfahrung, in ihr sind empirisch-historische Tätigkeiten der Men-schengesellschaft dargestellt - und alle bis zu dem Punkt, wo sich die Frage stellt: aus welchem Rechtsgrund, zu welchem vertretbaren Zweck?

Und alle bis an die Schwelle, wo erste Umrisse möglicher Antworten sichtbar werden. Ab da kann es nicht einfach wie gehabt weitergehen. Denn empirisch-historisch waren Rechts-gründe vorausgesetzt und waren Zwecke vorangestellt worden. Ob sie aber vertretbar waren und geblieben sind - wie will und kann man es beurteilen? Denn die Vorstellun-gen, die unsere Vorgänger selber hatten und womöglich in Wort und Bild ausgesprochen haben, sind in den Folgen, die sie tatsächlich gezeitigt haben, kaum je wiederzufinden. 

Und wenn es das wäre - es würde sich in historischer Perspektive doch nur um Tatsachen unter vielen andern handeln, die als solche zu Urteilsgründen nicht taugen. Urteilen muss die Philosophie aber wollen, zu etwas anderm wird sie nicht gebraucht. Sie muss begrün-den.

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Es ist das wissenslogische Problem der Kritik. Vorgefunden hat sie immer nur ihren Ge-genstand. Ihren Bezugspunkt und ihre Verfahren muss sie sich dagegen 'rückblickend ganz von vorn' erfinden. Diesen Sprung über den eigenen Schatten hat sein Begründer Kant missverständlich genugTranszendentalphilosophie genannt. Ihr Grund und Verfah-ren ist die Vernunft. Auch sie ist als solche ein historisches Produkt. 

Doch nicht als ein Faktum, sondern als Postulat. Das Kunststück der Transzendental-philosophie ist die Kritik der Vernunft aus ihren eigenen Vermögen. Sie soll das prüfen und bewerten, was ihr zugrundelag. Sie ist Selbstkritik der Vernunft, Reflexion auf sich selbst. Auf die Verfahren und und sachlichen Bestimmungen, die die Vernunft bis heute hervorgebracht hat, kann sie dabei freilich nicht zurückgreifen, denn die gilt es ja eben zu überprüfen. Sie muss an ihren Ursprüngen diejenigen Handlungen und Wendungen der Intelligenz auffinden, die das Begreifen und Schlussfolgern erst möglich gemacht haben. Dafür muss sie sich was einfallen lassen. 

Das ist die erste und, wie sich finden wird, auf Dauer einzige rechtmäßige Aufgabe der Philosophie in specie. Alles weitere hat die Vernunft, sobald sie die Kritik überstanden hat, ganz alleine zu besorgen.

Mit ein paar Seiten ist das nicht abzumachen - es ist ein ganzes Laboratorium. Denn der Boden beginnt zu schweben, sobald man ihm näherkommt. Der Grund der Vernunft wird nicht als ein Faktum vorgefunden, sondern man findet ihn auf, indem man ihn selber setzt. Andernfalls bleibt das 'System' ein Fass ohne Boden.


Der begründende Akt der Vernunft ist ein Postulat - eine Wertsetzung, und Werturteile werden nicht aus Begriffen konstruiert, sondern in bloßer Anschauung gefasst. Sie kön-nen sich in der Tat bewähren oder nicht. Sie sind ästhetischer Natur. Vernunft ist nicht, sondern soll sein, schlechterdings. Insofern ist Ästhetik der Übergang aus der Alltagsver-nunft des gesunden Menschenverstands und der realen Wissenschaft zur Philosophie im eigentlichen Sinn:

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