4. Anthropologie statt Metaphysik...

...die aktuellste Losung der Philosophie.

 The Thinker Of Capesti

Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen:

1) Was kann ich wissen? 
2) Was soll ich thun? 
3) Was darf ich hoffen? 
4) Was ist der Mensch? 

Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthro-pologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.
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Immanuel Kant's Logik, ders., Akademie-Ausgabe IX, S. 25



Anthropologie ist die Beantwortung der Frage:

Ist das Wesen des Menschen...

a) eine Bestimmung, die dem historischen Prozess als ein Auftrag "zu Grunde liegt" und als Programm, das es ('nur noch') zu "erfüllen" gilt?

Oder

b) ein Problem, das "gelöst werden" soll?


- Beide Auffassungen sind aber nicht (logisch) gleichwertig. Denn die Version a) ist um ihre Begründung verlegen. Wo immer sie ihre Begründung herleiten mag - es gibt immer noch "irgendwas", das 'hinter' ihr liegt; usw. in infinitum.

Dagegen bei b) ist der Anfang auch das Ende: Das Wesen des Menschen ist "ein Sein, das nach dem Sein fragt"; Heidegger. Also das Leben des Menschen hat den Sinn, dass er nach dessen Sinn fragen soll. Aber dahin musste es erst kommen. Der Sinn der ('mensch-lichen') Geschichte ist, dass er sich an ihrem Ausgang "zur Freiheit verurteilt" findet.


Theoretisch und praktisch.
 

 derStandard

Das spezifisch Menschliche ist nicht die Möglichkeit der Erkenntnis, sondern die Not-wendigkeit des Wertens. Der Mensch kann nein sagen heißt: er muss ja oder nein sagen. Er muss wählen. Dafür braucht er einen Grund. Den Grund muss er ansehen, als ob er seiner Wahl vorausgesetzt* war - weil er in der Zeit lebt.

Erkennen heißt, die Eigenschaften einer Sache nach ihrer Tauglichkeit beurteilen. Das ist eine Fähigkeit alles Lebendigen. Allein der Mensch muss auch wissen, wozu sie ihm tau-gen soll.

aus e. Notizbuch, 28. 5. 03

*) ...er ihn also nicht selbst gesetzt, sondern aufgefunden hat. 

Auf dem Felde der Theorie ist der Mensch den Tieren nur graduell überlegen, und wenn es noch so weit ist. Im Praktischen ist er ihnen aber substanziell überlegen.







Der Mensch ist ein Wesen, das auf alle Dinge mit der Erwartung blickt, einen Sinn darin zu finden: Das ist das (historisch gewordene) Apriori der Transzendentalphilosophie, das ist das Geheimnis des transzendentalen Ichs und seiner "Freiheit". Denn der Sinn war nicht, wie Herbart und alle dogmatischen Denker annehmen, "vernommen", sondern gemacht. 

Bevor man irgendetwas Faktisches im menschlichen Geistesleben betrachtet, muss man diese Prämisse immer schon vorausgesetzt haben: eine grundsätzliche Bereitschaft zum Tätigwerden war immer schon "vorher da"; anders wird man nichts verstehen.

aus e. Notizbuch, 13. 8. 03


Bedeutung ist das, was mich veranlassen kann, so oder anders zu handeln. Sinn ist der Inbegriff der Bedeutungen. Nur weil der Mensch grundsätzlich zum Handeln gestimmt ist, muss er unentwegt nach einem Sinn suchen. 




Animal transcendens.

mzibo.net

A und O der Philosophie: Der Mensch ist das einzige Tier, dass sich mit seinem Dasein nicht begnügen kann. Es füllt ihn nicht aus, weil er das einzige Lebewesen ist, das nicht (mehr) an seinem angestammten Platz lebt, wo er hingehört und der ihm seine Bestim-mung vorgibt, die er nur noch zu erfüllen hat. Er lebt in einer Welt, die keine Grenzen hat, die er ausfüllen könnte.

In der Welt fühlt er sich ständig unterwegs und nie an seinem Platz. Der eine kommt sich als geworfen vor, der andere als ausgesandt; und keiner aufgehoben. Dazwischen spielt sich alle Philosophie ab.

Das A selber ist noch kein philosophisches Problem, sondern ein entwicklungsge-schichtlicher Sachverhalt.

aus e. Notizbuch, Frühsommer 09


Weitergehen müsste es mit O: der sekundären Freisetzung des Menschen durch das Ende der industriellen Zivilisation in der digitalen Revolution; dazwischen liegt die selbstgebau-te Umweltnische der Arbeitsgesellschaft. - Soweit die anthropologische Basis allen Philo-sophierens.


Es beginnt mit der Frage, wohin. Darauf folgen viele - erst mythische, dann religiöse, schließlich vernünftige - Antworten, doch selbst die vernünftigen Antworten können der Kritik schließlich nicht standhalten. Und am Schluss steht doch wieder nur die Frage: wo-hin. Der einzig positive Ertrag der Kritik ist der: Nach dem Wohin ist nicht in der Welt zu suchen, sondern es findet sich mit dem Gehen selbst.
 


*

Das Kernproblem der philosophischen Anthropologie: Wie kam der Mensch dazu, Qua-litäten als wahr und wert zu nehmen, die etwas Anderes sind als größere oder geringere Zweckmäßigkeit bei der Selbst- und Arterhaltung? Mit andern Worten: Wie kam der Mensch zu seinem 'poietischen', d. h. ästhetischen Vermögen?
 
tugendhat-ernst 
“Anthropologie statt Metaphysik” – unter diesem Titel veröffent- licht Ernst Tugendhat, jahrzehntelang der Leuchtturm der – auch von ihm so genannten – Analytischen Philosophie im deutschsprachigen Raum, sein jüngstes Buch. Wenn alle Wortverwendungen analysiert und alle sprachlichen Fallen entlarvt worden sind, bleibt trotzdem noch immer… die Welt ein Rätsel. Nach wie vor Wittgenstein. Und sogar der hat nichts anderes gemeint. Es ist begrüßenswert, wenn seine Systematisierer am Ende auch zu dieser Einsicht finden. 

Heute schreibt Tugendhat, “dass die philosophische Anthropologie an die Stelle der Me-taphysik als ‘philosophia prima’ treten sollte, und dass die Frage ‘Was sind wir als Men-schen?’ diejenige Frage ist, in der alle anderen philosophischen Disziplinen ihren Grund haben.”* Und stante pe “ergibt sich sofort der Rekurs aufs menschliche Verstehen als natürlicher Ausgangspunkt, und genau so bei allen einzelnen philosophischen Diszipli-nen wie z.B. Logik, Ästhetik, Handlungstheorie usw. Es fällt schwer, sich eine philosophi-sche Disziplin denken zu sollen, die nicht auf das menschliche Verstehen zurück weist.”  

Ich habe noch nie eine philosophische Tageslosung gehört, der ich so vorbehaltlos zu-stimmen konnte. Und sogar seinen Vorbehalt gegen die philosophische Anthropologie, wie sie Scheler, Gehlen und Plessner hinterlassen haben, teile ich. Es ist ihnen nicht ge-lungen, den Ursprung des menschlichen Verstehens in der Evolutionsgeschichte sichtbar und...  ‘verständlich’ zu machen. 

An genau diesem Punkt glaube ich aber, mit der Unterscheidung zwischen ‘meiner’ Welt und ‘unserer’ Welt selber einen Beitrag geleistet zu haben, der manches Rätsel auflöst. 

Nach zweieinhalb Tausend Jahren Philosophie mit systematischem Anspruch ein Be-griffspaar einführen zu wollen, für das es in der Literatur kein Vorbild gibt, ist kühn und muss gerechtfertigt werden. Zunächst einmal: Ich bin nicht ex litteris und durch begriff-liche Konstruktion (aus gegebenem Material) darauf gekommen, sondern aus lebendiger Anschauung. Das mag als Eingangsrechtfertigung gelten. Das Nachzeichnen des Erfah-rungsgangs macht zugleich deutliche(er), was gemeint ist.

Paradigma der modernen (bürgerlichen, westlichen...) Weltanschauung ist das vernünftige Subjekt. Es ist ‘definiert’ – in seinen Grenzen festgelegt – durch seine zwei bestimmten Gegensätze, die im Prozess seiner historischen Ausbildung hinter ihm ‘zurück geblieben’ sind: Der Narr und das Kind. Sie beide sind nicht das, was das vernünftige Subjekt ist, der eine noch nicht, der andre wird es nie: ein nüchtern die Vorteile kalkulierender Teilhaber am allgemeinen Verkehr; mit andern Worten: “erwachsen”. 

narr Jahrzehnte lang hatte ich durch meinen Erwerbsberuf gerade mit diesen beiden ‘residualen’ Gegensätzen zur Vernünftigkeit zu tun – mit 1) Kindern, die 2) als närrisch alias “gestört” galten. 

Worin bestand die “Störung”? Das Kind lebte mehr oder weniger zurückgezogen ‘in sei-ner eignen Welt’, zu der es nur ausnahmsweise und zufällig Andern Zutritt gewährte. Mit andern Worten, in der ‘Welt der Wirklichkeit’ lebte es nicht oder nur gelegentlich ‘aus Versehen’. Das ist wohl bemerkt keine Analyse, sondern bloß die Beschreibung eines anschaulich gegeben Phänomens. Aber sie beruht auf einer Prämisse: dass die ‘wirkliche Welt’ die wahre und die ‘eigne Welt des Kindes’ die falsche sei. Wodurch unterscheiden sich beide Welten aber in Wahrheit? 

Die ‘Eigenwelt des Kindes’ ist ein Phantasma – zugegeben. Sie ist “subjektiv”. Ist ‘die Wirklichkeit’ objektiv? Das steht in der Sternen. Die Transzendentalphilosophie hat seit gut zweihundert Jahren ihre Einwände, aber wer weiß das heut schon noch? Doch seit der postmodernen Karriere des ‘Konstruktivismus’ pfeifen es die Spatzen von den Dächern: Die ‘Wirklichkeit’ der verständigen Erwachsenen ‘ist auch nur ein Konstrukt’. Was bleibt also übrig vom Unterschied von Wirklichkeit und Eigenwelt des Kindes? Das eine ist ein öffentliches, das andre ist ein privates Konstrukt: Phantasmen alle beide! Was ist der Vor-teil des einen vor dem andern? In diesem können Alle vorkommen und – mehr oder we-niger – auskommen, in jenem nur Einer: Das ‘gestörte Kind’ selbst. Aber das ist ein rein pragmatischer Unterschied und kein (onto-)logischer. 

Werfen wir einen zweiten Blick auf das Scenario: Zuerst unterschieden wir gar nicht zwi-schen einem Ich und einer Welt (geschweige denn zweien). – ‘Zuerst’? Ich war nämlich schon ‘da’, bevor ich ‘zur Welt gekommen’ bin. Nicht als der, der ich heute bin, aber auch nicht als ein wirklich anderer. Damals war ich eins mit dem, was mich umgab; buchstäb-lich. Im Moment der Geburt kam dann erstmals etwas Fremdes hinzu; zumindest fremde Hände. Das Kind schreit, wenn es ‘zur Welt kommt’. Wegen der Andersheit des Andern, der Andern…? Noch längere Zeit könne der Säugling, wird uns gesagt, nicht zwischen ’sich-selbst’ und der Mutterbrust unterscheiden. Jean Piaget spricht vom “ursprünglichen Adualismus” des Kindes. 

Erst nach und nach treten Selbst und der-die-das Andere auseinander, und auch nicht gleich als ein Gegensatz, sondern eher in Gestalt von konzentrischen Kreisen, gestaffelt vom ganz-Eignen bis zum ganz-Fremden. Wie die Scheidung dann schließlich gelingt und immer tiefer geht, ist eine Frage der Psychologie. Die empirische Person ist ein unabläs-siges Werden. Das Ich der Philosophen ist etwas anderes, es ist nicht empirisch, sondern logisch, und als solches wird es nicht, sondern ist; jedenfalls in der Vorstellung. Aber die Welt, die die empirische Person nach und nach von sich unterscheidet, die wird. Und sie wird täglich größer. Es kommen immer neue ‘Dinge’ darin vor. Verglichen damit wird die Person kleiner… 

Noch einmal zurück: In der ‘Eigenwelt’ des Narren kommen ja keine andern Gegenstän-de vor als in der Welt des Verständigen. Den einen oder andern Gegenstand mag er viel-leicht nicht “wahr haben”, aber die, die er wahr nimmt, sind dieselben, die auch die ande-ren wahr nehmen. Sie unterscheiden sich nicht darin, dass (oder ob) sie wahr genommen werden, sondern wie sie wahr genommen werden, “als was” sie wahr genommen werden. Sie unterscheiden sich nicht nach ihrer Gegenständlichkeit, sondern nach ihrer Bedeu-tung. 

Die Bedeutungen der Dinge sind jedenfalls nicht ‘objektiv’. Etwas bedeutet etwas für jemanden. Bedeutung hat ihren Ort im Subjekt. Bedeutung steckt nicht im Ding selbst, sondern wird ihm zugeschrieben, zu-gedacht.

Was ist Bedeutung?

Bedeutung ist ‘dasjenige an’ dem Ding, das mich oder einen andern dazu veranlassen kann, so oder anders zu handeln. Wobei unter Handeln schon das abstrakteste Entschei-den für das Eine und gegen das Andere verstanden sein soll: Urteilen im aller allgemein-sten Sinn.
 


Man möchte meinen, das sei genau das, was den Menschen von allen andern Lebewesen unterscheidet: dass er urteilt. 

Dabei ist freilich die Unterscheidung zwischen einem ‘Ding’, wie es schlicht und einfach nur ‘da ist’, und dem, was es für mich bedeuten könnte, selber schon eine Urteil. 

Wir nehmen nicht ‘zuerst’ die Gegenständlichkeit der Gegenstände wahr und denken uns ‘dann’ zu ihnen eine Bedeutung hinzu; sondern im unmittelbaren alltäglichen Erleben ‘be-gegnen’ sie uns ungeschieden als Eines und Dasselbe. Denn wir wurden in eine Welt ge-boren, in der alles eine Bedeutung längst hat; nämlich für die, die vor uns auf der Welt waren und uns Neuen ihre Welt nun zeigen – von unserm ersten Tag an. Die Welt ist von den tausenden Generationen, die vor uns waren, längst ausgedeutet worden. Diese Bedeu-tungen haben sie uns überliefert in einem gewaltigen Tableau von Symbolen, von denen jedes ’seine’ Bedeutung bezeichnet, und die untereinander artikuliert sind durch ein Netz von Verweisungen und Bezügen. Und das sind nicht bloß die Wörter, die wir aussprechen können! Die gesellschaftlichen Institutionen, jedes Kulturgut, die konventionellen Weisen des gesellschaftlichen Verkehrs tragen alle eine “Botschaft”, sie sind Symbol, sie ‘bedeuten sich selbst’.

Bedeutungen mögen sich im Laufe der Jahrtausende verschieben. Aber daran, dass ein jedes Ding seine Bedeutung hat, kann das nichts mehr ändern. Wer neu hinzu kommt, erhält keine Gelegenheit, daran zu zweifeln. Allenfalls kann er fragen: Was bedeutet Die-ses? Und dass es fraglich ist, ist dann eine ganz eigentümliche Bedeutung des Dinges... 

Und bevor die Menschen da waren? Hatten da die Dinge ‘noch keine Bedeutung’? 

Die Menschen sind nicht über Nacht vom Himmel gefallen, sie waren “vorher schon da” – doch zu Menschen sind sie erst geworden. Sagen wir der Einfachheit halber: Vorher waren sie Tiere unter andern Tieren. 

Ein Tier unterscheidet nicht zwischen einem Ding und seiner Bedeutung. Dazu müsste es urteilen können, aber dazu fehlen ihm die Voraussetzungen. (Lassen wir einstweilen bei-seite, welche das sind.) Erlebt es nun ‘Dinge’ ohne Bedeutung? 

Auch das Tier lebt nicht in einer Welt, die lediglich ‘der Fall ist’, sondern in Bedeutungen. Evolution ist Auslese und Anpassung. Im Laufe ihrer Geschichte hat jede Spezies ihre ökologische Nische gefunden, in die sie besser passte als in jede andere, und hat sie zu ihrer ‘Umwelt’ umgewidmet; baut Nester, Höhlen, Staudämme, und bestäubt die Pflan-zen, von denen sie lebt. Jede tierische Umwelt bildet nach Jakob von Uexküll, dem Begrün-der des biologischen ‘Umwelt’-Begriffs, “eine in sich geschlossene Einheit, die in all ihren Teilen durch die Bedeutung für das Subjekt beherrscht wird. Alles und jedes, das in den Bann einer Umwelt gerät, wird umgestimmt und umgeformt, bis es zu einem brauchbaren Bedeutungsträger geworden ist – oder es wird völlig vernachlässigt.” Was nicht zum Funk-tionskreis Tier-Nische gehört, wird – selbst ‘in seiner Gegenständlichkeit’ – gar nicht erst wahr genommen. 

Was nun die Dinge seiner Umwelt dem Tier bedeuten, “versteht sich von selbst”, es ist ins genetische Programm der Species eingegangen – da muss es das Individuum nicht auch noch verstehen. Durch Vererbung sind die Gattung und ihre Umwelt miteinander ‘ver-wandt’. Der Mensch dagegen muss die Bedeutungen der Dinge, die ihm durch Symbole übermittelt wurden, jedes Mal wieder selber realisieren, nämlich ’sich vorstellen’. 

Die Bedeutungen tierischer Umwelten haben freilich einen gemeinsamen Nenner: Sie sind Funktionen der Erhaltung – der Individuen wie der Art. Was keinen Erhaltungswert hat, kommt in ihnen, wenn es auch ‘da’ ist, einfach nicht vor. Der Mensch hat jedoch vor Jahr-millionen seine Urwaldnische verlassen und ist aus der ererbten Umwelt in eine fremde Welt aufgebrochen. 

Als sich vor zwei , drei Millionen Jahren in Ostafrika das Klima erwärmte und den Re-genwald zu einer Feuchtsavanne ausdünnte, zogen sich unsere Vorfahren nicht, wie ihre äffischen Vettern, mit dem Dschungel zurück, sondern stiegen stattdessen auf den Boden herab. Eine Feuchtsavanne ist kein einheitlicher Lebensraum, an den man sich speziali-stisch “anpassen” kann. Sie besteht aus vielen Vegetations- und Klimainseln, wo ganz unterschiedliche Bedingungen gegeben sein mögen, aber von denen keine einem großen Säuger als dauernder Wohnort ausreicht. Jedenfalls gewöhnten sie sich an, von einer zur andern zu wechseln. Über Millionen Jahre lebten unsere Vorfahren von da an als Noma-den und Entdeckungsreisende.

Dabei begegnet ihnen erstens immer wieder Unbekanntes – das ‘noch keine’ Bedeutung hatte; und zu den Bedeutungen, die ihnen der Urwald in Jahrmillionen angeerbt hatte, fanden sie nicht mehr die passenden ‘Dinge’. Sie mussten ’sich was einfallen lassen’, mussten Bedeutungen ahnend neu ‘heraus’-, d. h. hinein-finden, und mussten Fremdes mit dunklen Erinnerungen an Vergangenes vergleichen. Sie mussten sich ein Bedeutungs-reservoir anlegen, das übertragbar, das tragbar, das transportabel war. Es kann mit Allem verglichen werden, was auftaucht, und alles, was auftaucht, ist mit der Erwartung ausge-zeichnet, vergleichbar zu sein: “Passt oder passt nicht?” Erweist es sich als inkommensu-rabel – dann ist es nicht etwa ‘bedeutungslos’, sondern im Gegenteil etwas ganz Beson-deres. 

An die Stelle der verlorenen ‘Umwelt’ ist nun eine Welt getreten, die ‘zuerst’ (in Symbolen transportabel und) in der Vorstellung ‘da ist’, an der die begegnenden ‘Dinge’ gemessen und auf ihre Tauglichkeit geprüft werden. Was “passt”, hat Chancen, (für) ‘wahrer’ ge-nommen zu werden, als was nicht passt oder nicht so gut passt. Jenes, das Fremde, hat dagegen Chancen, einer ‘höheren’ Wirklichkeit zugerechnet zu werden, die gleichermaßen anziehend und bedrohlich sei kann. (Es ist die animistische Welt des Totems.) 

attisches Trinkgefäß, 6. Jhdt. v. Chr. 
Und um diese Vorstellungswelt von einer Insel zur andern transportieren zu können, musste ein Behältnis ausgebildet werden. Die (schubweise) Vergröße-rung des menschlichen Gehirns folgt der Erfindung des aufrechten Ganges und der Ausweitung des menschlichen Aktionsradius. Verlassen hatten wir einen sicheren Ort, wo alles so war, wie es war, und wo wir es darum nicht “bemerken” mussten. Ein Ich, das sich von diesem Ort unter-scheiden musste, war nicht ‘da’. Das änderte sich drastisch, als wir ‘zur Welt kamen’.

Dieser Ort war ein vages Durcheinander von Wundern und Unwägbarem, das “immer neu” begegnete. Ein ‘ruhender’ Pol im steten Wechsel ist allein die wandernde Menschen-gruppe, die sich als beharrendes Subjekt in einer flüchtigen... ja eben: Welt behauptete. Der einstmals umweltlich ungeschiedene Erlebensraum der Individuen zerfällt in ein Drinnen – die gewisse Gruppe -, und ein ungewisses Draußen. Je dringlicher es der Ver-gewisserung des Draußen bedarf, umso nötiger wird die Verständigung im Innern. 

Die – von nun an selbst gemachte – Geschichte der Gattung Mensch geschieht im Ver-kehr. Verkehr heißt Mitteilung. Mitteilung bedarf eines Vehikels, eines “Gefäßes”, in dem die je gemeinte Bedeutung vom Einen zum Andern gereicht wird. Je öfter das Mitteilen nötig wird, umso fester muss das Gefäß sein. Eine Bedeutung, die in einer Gebärde sym-bolisiert wird, ist weniger haltbar als eine, die in einem gesprochenen Wort symbolisiert ist. Und nur in unablässigem Verkehr kann die Bedeutung des Symbols andererseits auch Erhalten bleiben. 

Es folgt daraus, dass heute ‘alles, was vorkommt’, in seiner Bedeutung durch ein Symbol längst festgesetzt ist, bevor noch der Neuling die Welt betritt. So sehr, dass er in demsel-ben Maße, wie sein Verkehr mit den Gattungsgenossen wächst, bei jedem ihm neu begeg-nenden Ding auf eine vorgegebene Bedeutung fest rechnet – und danach fragt, o ja. Und es ist jedes Mal eine Sensation, wenn ihm die sicher erwartete Bedeutung nicht benannt werden kann. Sie ‘bleiben’, d. h. werden dadurch nicht etwa bedeutungslos, sondern viel-mehr rätselhaft, und das verleiht ihnen einen Reiz, den sie für ein ‘nicht-symbolisierendes’ Tier nie gewinnen können. Dieses wendet sich von ihnen schließlich ab, sobald feststeht, dass sie sich zum Verzehr jedenfalls nicht eignen… 

Und hier begegnet zum ersten Mal der Unterschied zwischen ‘meiner’ und ‘unserer’ Welt: Weil dem Ding im Symbolnetz ‘unserer’ Welt die Bedeutung, die es doch haben sollte, mangelt, gewinnt es in ‘meiner’ Welt seinen Reiz. “Das Schönste, das wir erleben können, ist das Geheimnisvolle”, meinte Albert Einstein. Man kann das den ästhetischen Sinn der Menschen nennen.

Das Symbolnetz, das uns ‘unsere’ Welt bedeutet, war seinerseits nicht einfach ein Neuer-werb, ein Plus, das hinzukam; sondern ein Ersatz, eine Kompensation für den Verlust der angestammten, naturbedeuteten tierischen Umwelt. An die Stelle der Selbstverständlich-keiten ihrer verlassenen ökologischen Nische mussten unsere Urahnen das Verstehen einer selbsterworbenen, selbstbedeuteten Welt setzen. 

“Wir kommen mit erheblichem Vorwissen über die Welt in diese”, schreibt Wolf Singer. Erfahrungswissen tausender Generationen ist erblich in unserm Gehirn gespeichert. Raum und Zeit gehören sicher dazu, auch wohl, wie Singers Forschungen nahe legen, die sog. Gestaltgesetze der empirischen Psychologie. Ob alle zwölf Kant’schen Kategorien dazu gehören oder mehr oder weniger, ist eine empirische Detailfrage ohne theoretische Tragweite. 

Ich ‘habe’ diese Vorkenntnisse, aber ich weiß nichts davon. Sie gehören zu den Konstitu-enten ‘meiner’ Welt. Sie sind das Instrumentarium, mit dem ich meine Welt ‘konstruierte’ (und ein ‘Ich’ überhaupt erst wurde). Am Konstrukt selber ist es nicht mehr kenntlich. Mit andern Worten, in ‘meiner’ Welt kommen die Instrumente selbst nicht vor. 

Aber ich bin – auch in ‘meiner’ Welt! – nicht allein. Ich stehe von Anbeginn in demselben Verkehr, aus dem das Instrumentarium stammt. Im Verkehr kann der Eine an die Stelle des Andern treten. Im Verkehr wird der Wechsel der Perspektiven habituell. Aus dem Verkehr erwachsen Abstände und Nähen, der Verkehr manifestiert Unterschiede und schafft Reflexion. Verkehr ist Vermittlung. In der Welt, die Verkehr ist, ist nichts unmittel-bar. Genauer gesagt: In ‘unserer’ Welt ist nichts unmittelbar, ist alles nur ‘vermittels...’. Das Unmittelbare kommt allein in ‘meiner’ Welt vor. In ‘unserer’ Welt kann ich es nur symbo-lisch vermittelt “zur Sprache bringen” (was in ‘meiner’ Welt gar nicht nötig ist).

Und doch ist auch ‘meine’ Welt keine Nische, sondern Welt. Sie ist offen und nicht ge-schlossen, und in Hinblick auf das Mögliche ist sie womöglich noch um einiges “offener” als ‘unsere’ Welt. In ihr ist nicht nur doppelt rätselhaft, was in ‘unserer’ Welt schon einfach rätselhaft war, sondern ist gar manches rätselhaft, was in ‘unserer’ Welt flach auf der Hand liegt. So wenig wie die Welten der Kinder und der Narren von der Welt der Verstän-digen, so wenig unterscheidet sich ‘meine’ Welt von ‘unserer’ Welt nach den Gegenstän-den, die darin vorkommen: Alles, was in ‘unserer’ Welt vorkommt, könnte auch in ‘mei-ner’ Welt vorkommen (wenn ich genügend Zeit hätte, mich mit allem bekannt zu machen). 

Nur – was in ‘meiner’ Welt vorkommt, kann nicht alles auch in ‘unserer’ Welt vorkommen – d. h. symbolisch repräsentiert werden. Manches kann nur in analogen Bildern ‘nachge-zeichnet’ und einiges gar lediglich in Gebärden ‘ausgedrückt’ werden. Das, was sich in den westlichen Kulturen als Kunst zu einer eignen gesellschaftlichen Instanz erhoben hat, ist ein Zwischenreich, wo je-’meine’-Welten in ‘unserer’ Welt “in Erscheinung treten”. Denn die Kunst findet in der Öffentlichkeit statt, und die ist Verkehr-schlechthin. 

Öffentlichkeit ist ‘unsere’ Welt par excellence. Wissenschaft ist öffentliches Wissen; Wis-sen, das auf öffentlich kontrollierbaren Wegen erworben wurde und öffentlicher Prüfung standgehalten hat. Sie ist das Wissen-’unserer’-Welt. Aber nicht allein Wissen von ‘unserer’ Welt, sondern auch von ‘meiner’ Welt! Dabei ist nicht von Tiefenpsychologie die Rede. Ob da öffentlich überprüfbares Wissen – Wissen über ‘meine’ Seelenzustände, nicht bloß über nützliche therapeutische Kunstgriffe – zustande kommt, mag man mit Gründen be-zweifeln. Die Rede ist von dem Instrumentarium, mit dessen Hilfe ich mir ‘meine’ Welt gezimmert habe, um mich in ‘unserer’ Welt zurecht zu finden. 

So kann die empirische Psychologie die ‘Gestaltgesetze’ erforschen und beschreiben. Und kann die Transzendentalphilosophie die Unbedingtheit von Raum und Zeit im Subjekt lokalisieren. Was mir so durch öffentlich wissenschaftliche Reflexion fraglich geworden ist, kann mir – als ‘noch ein’ Rätsel – auch in ‘meiner’ Welt bewusst werden. Doch stehen sie da in einem ganz andern “Horizont”! Sie geben dort nicht neue Fixpunkte ab, aus denen ich weiter schlussfolgern kann (wie in den Wissenschaften), ganz im Gegenteil. Sie verbinden sich unter einander zu einem Zweifel am Sinn der Welt, am Sinn des Lebens. Und das ist gut. Denn ein Sinn, der “sich von selbst versteht”, ist keiner. Jedenfalls nicht ‘für mich’, sondern nur für den mich beobachtenden Wissenschaftler (der persönlich gar nix davon hat).

Sinn wird erst, sobald an ihm gezweifelt wurde. Und er bleibt nur, solange nach ihm ge-fragt wird. Er ist das Ureigenste von ‘meiner’ Welt, über das ich in ‘unserer’ Welt besten-falls Geschichten erzählen kann; Romane schreiben, Lieder singen, Bilder malen.
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*) Ernst Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, S. 34; 35f.


                      4. Das poietische Vermögen







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