„Was ist Wahrheit?“ (Joh. 18,38)
Was ist Wahrheit, fragt Pontius Pilatus, und will sagen: Es ist ja alles relativ... Klang es bei ihm philosophisch-resigniert, so machte die Postmoderne, die wir in diesen Tagen hinter uns lassen, eine Tugend aus der Not: “Anything go-es...”, krähte sie selbstgefällig-vergnügt: “...Hauptsa-che, es funktioniert!”Darin sind sich Analytische Philosophie, Konstrukt-ivismus und Dekonstruktivismus, die seit Jahr und Tag konkurrierend das geistige Feld beherrschen, einig: Die Frage nach der Wahrheit ist “metaphy-sisch”, was so viel bedeutet wie: unstatthaft; denn sie sei so gefasst, dass darauf immer nur eine dog-matische Antwort möglich sei, nämlich eine, die aus Glaubenssätzen stammt und nicht aus vernünftigem Argument.
Am Anfang der Moderne – die die Postmoderne doch zu überbieten trachtete – stand, wie gesagt, die Romantik. Was das Wahre sei, war den Romantikern so ungewiss gewor-den, dass sie gelegentlich zu der Auffassung neigten, das Ungewisse sei selber das Wahre. Der Rationalismus und die “Aufklärung” des 17. und 18. Jahrhunderts hatte an die Stelle der geoffenbarten Wahrheiten der voraus gegangenen Dunklen Jahrhunderte die stolze Selbstgewissheit der Vernunft gesetzt. Aber die war durch Immanuel Kants Drei Kritiken gehörig ins Wanken geraten. Die Romantik war in Jena aus der unmittelbaren Anregung durch die ‘Wissenschafsftlehre’ Johann Gottlieb Fichtes entstanden. Der verstand sich als der Radikalisierer und Vollender von Kants kritischer bzw. ‘Transzendental’-Philosophie.
Zu der Zeit tummelten sich auf den öffentlichen Plätzen – wie heut im Zeichen der Postmoderne – jene, die meinten, die Wahrheit gebe es gar nicht, allenfalls Wahrheiten..., und sich dabei furchtbar schlau vorkamen. Aber das ist nur eine Ausflucht. Wenn diese ‘vereinzelten’ Wahrheiten wahr sein sollen, dann sind die es unbedingt. Wenn sie nur be-dingt wahr sind, dann ist dasjenige, was sie bedingt, unbedingt wahr – oder Alles ist nicht wahr.
Um die Frage, was das Wahre ist, kommen wir also nicht herum. Und halten wir gleiche eines fest, um das wir auch nicht herum kommen: dass das Wahre zunächst einmal als Frage “ist”.
Wahrheit ist keine Sache, sondern ein Verhältnis. Nämlich zwischen einem, der etwas weiß, und demjenigen, was er weiß. Das Wort sagt etwas über die Qualität dieses Verhält-nisses aus: nicht, dass es ‘ist’, sondern dass es gilt. Etwas ‘gilt’ freilich nur für irgendwen. Und auch nicht an und für sich, sondern erst wenn und insofern er etwas tun will oder soll. Es mag auch nur ein rein gedankliches Tun sein: vorstellen und über Vorstellungen urteilen.
Ob etwas ‘gültig’ und also “wahr” ist, wird sich erweisen im und durch den Vollzug dieser Handlung. Wenn also etwa das betroffene Urteil ‘richtig’ ist, und das heißt: zu weiterge-hendem Urteilen taugt. Hier passt ein ‘Fragment’ des Urromantikers Friedrich Schlegel: “Logik ist eine praktische Wissenschaft.”
Bis hierhin ist das eine rein pragmatische Bestimmung: Wahrheit erweist sich jeweils vor ihren Zwecken, sie ist eine Zweckmäßigkeit. Wahrheit ist nicht Etwas, das “ist”, sondern das, was sein soll. Das ist aber erst der Anfang. Richtig ernst wird es erst, wenn nach den Zwecken selbst gefragt wird: wozu ‘Wahrheit’ taugen soll. “Gibt es” einen absoluten Zweck?
Darüber will ich gerne weiter diskutieren. Aber in einem Beitrag ist es natürlich nicht abzumachen. Es wird eine ganze Reihe nötig werden... Und mehr als einmal werden der Autor und seine Leser im Lauf der Auseinandersetzung das ungute Gefühl haben: Aber an der Stelle waren wir doch schon mal! Drehn wir uns im Kreis?
Ja, wir sind wieder am selben Punkt; aber diesmal ein paar Etagen höher: Es ist wie eine Wendeltreppe.
Philosophie ist kritisch.
Früher hieß es, Philosophie sei eine spezifisch abendländische Errungenschaft. Dann wur-de gesagt, es gäbe auch eine indische, eine chinesische und sogar eine afrikanische und in-dianische Philosophie.
Weisheitslehren, die verkünden, was wahr ist, hat es immer und überall gegeben. Aber die Frage, was Wahrheit ist, ist allerdings im Abendland aufgebracht und ausgeführt worden. Sie setzt nämlich voraus, dass Wahrheit etwas ist, wonach ich fragen und was ich beurtei-len kann – so wie jeder andere, der ebenfalls ich sagen kann. Setzt also voraus, dass ich mir die Fähigkeit zu eigenem Urteil zumesse; und mich nicht auf etwas verlassen darf, was mir von höherer Instanz “offenbart” worden ist. Und es setzt voraus, dass “es” Gründe “gibt”, auf die ich mich bei meinem Urteil stützen kann. – Beides mag man in Abrede stellen. Nur kann man sich dann an einer vernünftigen (!) Erörterung dieser Dinge nicht mehr beteiligen.
Philo-Sophie hat ihren Namen daher, dass der “Sokrates”, wie er in Platos Dialogen auf-tritt, sich selber keinen sophos, keinen Weisen nennen wollte, sondern lediglich einen phi-lo-sophos, einen Freund der Weisheit, der die Wahrheit sucht, weil er sie nicht hat.
Begonnen hat das mit Thales aus Milet in Kleinasien (650-560 v. Chr.). Der verkündete zwar auch nur, ‘was wahr ist’. Aber er unterschied bereits zwischen dem, was zu sein 'scheint', und dem, was ‘wirklich’ ist. In Wirklichkeit sei nämlich alles Wasser. Dieser ‘Ur-stoff’ wurde von seinen Nachfolgern mal als “apeiron”, als das Grenzenlose bestimmt (Anaximander, 610-546 v. Chr), mal als “noûs”, als Weltvernunft (Anaxagoras, 500-428 v. Chr.).
Widersprochen haben ihm sogleich die Eleaten, die Anhänger einer Philosophenschule in Elea in Süditalien, allen voran Parmenides (540-470 v.Chr.). Ihnen zufolge ist im Gegenteil alles Werden und Vergehen bloßer Schein, das einzig Wahre ist das Sein selbst, "ontos on"; wahrnehmbar sei es nicht den Sinnen, sondern nur dem Denken. Auch sie argumentieren mit Gründen, und anscheinend ebenso plausibel wie Heraklit.
Plato aus Athen (427-347 v. Chr.) versucht, die widerstreitenden Argumente beider Par-teien systematisch gegeneinander zu gewichten und “dialektisch” aufzuheben (wobei er seine Gedanken seinem Lehrer Sokrates in den Mund legt). Ausschlaggebend sind immer und lediglich Vernunftgründe, die einem Jeden zugänglich sind, der willens ist. Höhere Eingebungen gelten ihm nichts. Seither ist Kritik – von gr. “krínein”=urteilen – das Medi-um der Philosophie; nämlich derjenigen, die diesen Namen verdient: der abendländischen.
Wie die Wissenschaft entstand.
Die Frage nach dem hinreichenden Grund lässt sich indessen ins Bodenlose weiter trei-ben. Wenn nämlich stattdessen ein allererster (oder allerletzter) doch einmal gefunden würde, so könnte er der Definition nach nicht “begründet” sein – und dürfte nicht gelten. Wenn aber das Wissen auf einem Regressus in infinitum “beruht”, ist es ebenfalls nicht begründet!
Die Philosophie ist nun diejenige Wissenschaft, die sich diesem Paradox stellt – auf die Gefahr hin, es am Ende niemals (theoretisch) zu “lösen”, sondern höchstens (praktisch) in einem Akt überspringen zu können. Reelle Wissenschaft kann indessen nicht warten, bis das Problem der Letztbegründung zu Aller Zufriedenheit erledigt ist. Sie hat auch nicht gewartet, jedenfalls nicht mehr, als mit den Anfängen der bürgerlichen Gesellschaft von den Wissenschaften technisch verwertbare Resultate erwartet wurden. Wissenschaft im heu-tigen Verständnis ist im 17. Jahrhundert entstanden.
Aber sie hatte ihre Vorgeschichte. Positives Wissen ist ange-sammelt worden, seit Homo sapiens die Erdoberfläche durchstreift. Mehr oder weniger zufälliges Erfahrungswissen wurde von Mund zu Mund von einer Generation auf die andre vererbt, und je spezifischer es war, umso exklusiver wurde es überliefert. Ärzte, Baumeister, Handwerker jeglichen Fachs, Seeleute, Landwirte: Alle hatten ihre Geheimnisse, die nur an Eingeweihte weiter gereicht wurden. Gelegentlich aufgeschriebene Kompendien hatte einen “aporetischen” Charakter (von gr. áporos= ohne Weg), d. h. sie waren um jeweils einzelne Probleme gruppiert, ohne nach durchgän-gigen Begründungszusammenhängen zu suchen.
Die “metaphysischen” (=jenseits der Physik angesiedelten) Spekulationen der Schulphi-losophie brachten ihrerseits kein positives Wissen zustande, und hatten auch gar nicht diesen Ehrgeiz. Sie wollten “Betrachtung” (gr. theoría) sein und keine prâxis. Dennoch ist Wissenschaft im strengen Sinn durch die Philosophie zu Stande gekommen! Nämlich als Galileo sich (gegen die aristotelische mittelalterliche Scholastik) ausdrücklich auf die Phi-losophie Platos zurück besann und dessen Lehre von den ewigen “Ideen” umformte in die Vorstellung von “Naturgesetzen”
Wurde die Mathematik aus der Natur heraus-gefunden oder vom Menschenhirn in sie hinein-gedacht?
Das Buch der Natur sei in der Sprache der Mathematik geschrieben, hatte Galileo verkündet. Das ist seither zum Gemeinplatz westlicher Bildung geworden. Descartes hatte die Welt in zwei Substanzen zerteilt, eineres extensa, die Materie, die sich durch ihre räumliche Ausdehnung zu erkennen gibt, und die res cogitans, den Geist, der außerhalb von Raum und Zeit ist. Doch eines ist ihnen gemeinsam: die mathematische Struktur, und an der erkennt man ihre gemeinsame Abkunft vom selben Schöpfergott.
Spinoza tat die beiden Teile wieder zusammen, bei ihm ist es die eine, geistige Substanz, die sich selber ausdehnt, “deus sive natura”, und wie tut sie das? “More geometrico”, auf geometrische Weise! War bei Descartes Gott ein Mathematiker, so ist die Gottnatur bei Spinoza Mathematik. Isaac Newton, der erste Systematiker der modernen Physik, betitelte sein Hauptwerk ” Philosophiae naturalis principia mathematica”, die mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie. Und Leibniz endlich, der die strenge Naturwissenschaft in Deutschland eingeführt hat, überlegte ernstlich, ob nicht Gott selber in mathematischen Formel dächte.
Die Herrschaft des Rationalismus war Herrschaft der Metaphysik. Die Metaphysik sei aus der abendländischen Wissenschaft inzwischen vertrieben? Nur die metaphysische Verpackung ist gefallen. Der Kern bleibt. Der Einfall, die Gesetze der Mathematik seien gleichzeitig die Gesetze der Vernunft und der Natur, bedarf keiner zusätzlichen Metaphysik. Er ist selber metaphysisch.
Die Mathematik ist nicht, wie unsere eigne Schullaufbahn vermuten macht, aus dem kleinen Einmaleins hervorgegangen. Zwar hatten die Babylonier ihr Interesse auf die Arithmetik konzentriert; aber sie dienten ihnen nur zur Astrologie. Mathematik entstand erst, als die Griechen Thales und Pythagoras die Zahlen in den Dienst der Geometrie, der Anschauung räumlicher Verhältnisse nahmen. Das Leitbild der Mathematik – die vollkommene Gestalt – ist ästhetisch. Ihre Verfahren sind Anschauung und Konstruktion. Auf etwelche sinnliche Erfahrung – über die man streiten könnte – ist sie nicht angewiesen. Sie begründet sich aus sich selbst, und nur so konnte sie zur Grundlage der allgemeinen wissenschaftlichen Methode werden.
Plato kannte fünf vollkommene Körper:* Kugel, Würfel, Pyramide; Zylinder, Konus.
Es sind die jeweiligen dreidimensionalen Kombinationen von Kreis, Quadrat und Dreieck. Drei Dimensionen sind ‘vollkommener’ als zwei, bzw. Körper sind vollkommener als Flächen.
Hat man eines von denen ‘von der Natur abgeschaut’? Mehr oder minder runde Formen kommen in ‘der Natur’ vor; Kugeln nicht. Kugel ‘entsteht’ als Idee des vervollkommneten ‘runden’ Körpers.
Finden sich Würfel, Pyramiden, Zylinder usw. in der Natur vor? Es finden sich Formen, die wie fehlerhafte Annäherungen aussehen. Damit sie so aussehen können, müssen die reinen Formen dem inneren Auge aber schon gewärtig sein. Und das geht nur, wenn das innere Auge die Konstruktion aus Kreis, Quadrat und Dreieck schon vorgenommen hat! Das ist eine erhebliche Abstraktions- und Reflexionsleistung.
(Abstraktion und Reflexion sind nur zwei Sichtweisen auf denselben Denkakt: Absehen auf das jeweils Wichtige ist zugleich Absehen von dem jeweils Unerheblichen.)
Denn zuvor mussten vor dem inneren Auge die Flächen selber konstruiert werden! Allein den vollkommenen Kreis kann man in der Außenwelt sehen – am wolkenlosen Himmel.
Es ist ja denkbar, dass der Anblick des einzig perfekten Kreises – der Sonnenscheibe – und ihrer imperfekten Parodie, des Mondes – den Anlass zur Idee anschaulicher Vollkommenheit gegeben hat; aber eine erfahrungsmäßige Abstraktion aus dem Anblick vieler perfekten Kreise war es nicht: weil es nur diesen einen gibt; und eine Reihe imperfekter Karikaturen – die werdenden und vergehenden Ringe auf dem Wasser usw… Nachgemacht werden kann dieser eine perfekte Kreis aber nicht auf ‘anschaulichem’ Weg; er muss konstruiert werden aus Punkt und Radius: wieder eine Abstraktionsleistung.
Die andern beiden Grundformen finden sich nicht in perfekter Gestalt in den Natur vor. Sie müssen – vielleicht in anschaulicher Analogie zur Sonnenscheibe – erdacht werden, um bemerken zu können, dass sich in der Natur… unvollkommene Annäherungen vorfinden.
Und erst nach all dem können die fünf perfekten Körper erdacht werden; und kann man sich einbilden, diese Idealentwürfe lägen ihren unvollständigen natürlichen Nachbildungen “in Wahrheit” zu Grunde; in einer verborgenen Wahrheit selbstverständlich.
Die Arithmetik hat ältere Wurzeln, die bis zu den Babyloniern zurückreichen. Ist nun die Zahl ein “Naturverhältnis”? Beruht sie nicht darauf, dass die Dinge ‘im Raum’ eine Grenze haben und man sie neben einander stellen und also zählen kann? Das sieht nur so aus. Tatsächlich zählen wir die Dinge nicht neben-, sondern nach einander! Und das geschieht in der Zeit.
Paläoanthropologen haben aus frühester Vorzeit Stäbchen geborgen, die in regelmäßigen Abständen mit Kerben versehen sind. Sie interpretieren sie als Zählstäbe, die Vorläufer der Zahlensysteme; nämlich so, dass ihre Hersteller den Daumennagel auf die erste Kerbe gehalten haben: “zuerst…”; auf die zweiter Kerbe: “dann…”; dritte Kerbe: “und danach…”. Da wird das zeitliche Nacheinander der Zahlen archäologisch sinnfällig!
Und wem die erwähnten Zählstäbe der Paläontologen als Indiz zu dürftig scheinen, der kann es ja mit einem Gedankenexperiment versuchen.
Was immer Zahlen sonst auch noch sein mögen, eins sind sie ganz bestimmt: Zeichen. Was muss man bezeichnen? Etwas, das man nicht stets vor Augen hat und doch ‘behalten’ will. Denn auf alles andere kann man mit dem Finger zeigen. Kleine Mengen hat man stets vor Augen: 3 Äpfel, 4 Beine usw. Bezeichnen müsste man größere Mengen. Mit welchen größeren Mengen könnten aber unsere Vorfahren – ihres Zeichens Jäger und Sammler – regelmäßig zu tun gehabt haben? So regelmäßig, dass sie sie dauerhaft bezeichnen mussten?!
Sie waren Nomaden; große Vorräte kannten sie nicht. Bleibt also übrig – die Zeit. Die Zeiträume müssen bezeichnet werden: wie viele Tage bis Vollmond, Sonnenwende und Tag- und Nachtgleiche, Jahreszeiten, Jahre… Gerade Nomaden, die ihr Leben buchstäblich durch Zeit und Raum führen, müssen mental Zeiträume ‘vorweg nehmen’ können, müssen wissen, ‘wie lange wir brauchen bis…’ – z. B. bis zur nächsten Wasserstelle. Denn solange sie keine Wanderkarten und keine Tachometer haben, können sie Wege nur als Zeit darstellen. (Noch im Mittelalter wurden Ackergrößen als ‘Tagewerke’ gemessen.)
Sagt nicht aber schon der gesunde Menschenverstand, dass eins und ein zwei sind? ‘Ursprünglich’, d. h. in unmittelbarer sinnlicher Anschauung, kommen Zahlen nur als Ordnungszahlen vor: als Nacheinander in einem ‘an sich’ ununterschiedenen Zeitverlauf: erstens, zweitens, drittens… zählen kann ich so noch nicht. Denn es könnte bedeuten: erstens ein Lufthauch, zweitens ein Elefant, drittens eine Untertasse. Um aus den Momenten im Zeitverlauf ein Werkzeug (”Denkzeug”) zum Zählen zu machen, muss ich von der Zeit selber absehen und auf die zu zählenden Sachen reflektieren.
Vorab: Warum, wozu sind sie ‘zu’ zählen? Es braucht zunächst einmal eine Absicht; zum Beispiel die Absicht, Sachen zu verteilen. Ich verteile Sachen, die ‘in einer gewissen Hinsicht’ gleich sind, auf so und so viele Posten, die ihrerseits in gewisser Hinsicht gleich sind; zum Beispiel Essbares an Hungrige. Ich muss aus der Mannigfaltigkeit der Sachen dasjenige heraus suchen, das sich unter der Bedeutung des Essbaren zusammenfassen lässt. Danach muss ich auf diejenigen achten, die mir als hungrig bekannt sind. Erst dannkann ich aus den Ordnungszahlen erstens, zweitens, drittens… die Zahlen 1, 2, 3… abstrahieren.
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*Nota. - Das Internet hat viele Vorzüge. Ein Nachteil ist, dass es zu voreiligem Veröf-fentlichen verführt - in diesem Fall: zum Vortrag nach dem bloßen Gedächtnis, ohne Vergleich mit der Quelle. Plato hat (Timaios 54-55) die fünf vollkommenen Körper anders und einigermaßen komplizierter verstanden:
Doch von ihrer Begründung durch Schönheit muss ich nichts abstreichen!
(Einer der vielen Vorteile des Internet ist, dass man nachträglich korrigieren kann. Die Versuchung, es heimlich zu tun, ist groß, aber nicht unwiderstehlich.)
**) Die jüngsten, d. h. ältesten Funde in dieser Sache stammen aus Südafrika - noch aus Zeiten des Homo erectus. Und zwar handelt es sich um Stäbe, auf denen je sieben Kerben in Vierergruppen angeordnet waren: offenbar ein Mondkalender. Und als solcher nicht ein Gegenstand des täglichen Gebrauchs, sondern das Kultgerät eines Schamanen.
Ist die Welt logisch aufgebaut?
Wenn aber die Mathematik Menschenwerk ist – wie konnte sie sich dann nur so blendend in den Naturwissenschaften bewähren? Vielleicht doch, weil sie (’zufällig’) zugleich den inneren Bauplan der Natur wiedergibt?!
Der modische Ausdruck “Konstruktivismus” stammt übrigens aus der sogenannten “Erlanger Schule” der Mathematik, die in den 50er Jahren um Paul Lorenzen herum genau diese These in die Mathematik hineingetragen hat: dass es sich nämlich um eine konstruktive Disziplin handelt.
Die Kernfrage der Naturwissenschaft lautet: Steckt die ‘gesetzmäßige’ Ordnung der Welt in der Welt selber oder ‘bloß’ in unsern Köpfen? Die Naturwissenschaft hält diese Frage für “metaphysisch” und reicht sie dankend an die Philosophie weiter. Die hat sich aber längst unter die Fuchtel der Naturwissenschaft gestellt und hält sie ebenfalls für meta-physisch.
Das ist sie zwar auch, aber nicht nur. Die Frage, ob Vernunft etwas ist, das wir “verneh-men”, wenn wir aufmerksam in die Natur lauschen – und so erfahren, was wir auf der Welt sollen; oder ob Vernunft unsre eigene Erfindung ist und aus ihr nur herausgeholt werden kann, was man vorher in sie hineinsteckt – die betrifft überdies jedermanns per-sönliche Lebensführung.
‘Logisch’ bedeutete bei den ganz alten Griechen lediglich ‘das auf den Logos Bezogene’. Damit war alles irgendwie Sinnhafte gemeint, warum denn nur gesetzte Begriffe und nicht auch unfassliche Bilder? Seit Aristoteles aber wird unter Logik die Kunst (techné) des richtigen Schlussfolgerns verstanden. Als formale Logik wurde sie von den mittelalterli-chen Scholastikern systematisiert und gewissermaßen ‘vollendet’. Gegen Ende des neun-zehnten Jahrhunderts wurde sie dann so formalisiert, dass sie gelegentlich wie ein Grenz-fall des Mathematischen aussieht.
Die Kunst des Schließens ist aber nicht das Vermögen des Vorstellens. Um Einfälle zu ha-ben, muss man nicht aus Prämissen Folgerungen ziehen, sondern... einen Einfall haben. Was er taugt, muss dann freilich beurteilt werden; vorausgesetzt, man hat schon einen Zweck, eine “Absicht”, für die er taugen soll. Dann braucht man die Logik als einen Kanon, nach dem geurteilt wird. Kann der Einfall nach den Regeln des Kanons nach- ”vollzogen” werden, dann taugt der Einfall...
Die Frage “Ist die Welt logisch aufgebaut?” ist dieselbe Frage wie: “Ist Mathematik ent-deckt oder erfunden?” Weil sich die Welt in einer ganz gewissen Hinsicht in pragmatisch erfundenen mathematischen Sätzen beschreiben lässt, kann der Eindruck entstehen, de-ren Folgerichtigkeit habe in der Welt schon selber drin gesteckt. Das ist das, was Kant den “dialektischen Schein” genannt hat. Es ist die Aufgabe philosophischer Kritik, diesen Schein zu zerstreuen.
Mathematik ist Konstruktionslehre. Sie beschreibt in ihrem Zeichensystem, zu welchen Konstrukten ich gelange, wenn ich im Reich der Zahlen (=idealiter: in der Zeit; “wie oft?”) diese und im (idealen) Raum (”wo lang?”) jene Operation anstelle.
Warum lässt sich die Mathematik “auf die Welt der Dinge anwenden”? Weil ich mir die Welt der Dinge so vorstellen kann, als ob ich sie selber konstruiert hätte; dann beschreibt die Mathematik in ihrem Zeichensystem, wie ich hätte verfahren müssen, um sie so zu konstruieren.
Mathematik ist das allgemeine operative Schema der möglichen Handlungen in Raum und Zeit. Logik ist das allgemeine Schema der möglichen Handlungen in der bloßen Vorstel-lung.
Kausalität, oder Der Mythos vom Allverursacher
Aus der Nische in die Welt, oder: Warum die Menschen aufrecht gehen.
Leben
ist für die Wissenschaft gleich Stoffwechsel plus Fortpflanzung.
Allein, der Mensch kann sich unter allen Kreaturen nicht damit begnügen.
Weil er nicht mehr in einer ge-schlossenen Umwelt zu Hause ist, die ihm
seine Bestimmung vorgibt, sondern in einer offenen Welt, wo er sein
Leben führen muss – und das ist ein Problem. Nur weil er es hat, sagt er
“ich”. Es ist die Conditio humana selbst und liegt offenbar jenseits
der Naturwis-senschaft.
Das ist eine Dimension, die sich der Mensch selbst verschafft hat – mit dem Kopf. Doch auch das Tier lebt nicht in einer Welt, die ‘der Fall ist’, sondern in Bedeutungen. Evolution ist Auslese und Anpassung. Im Laufe ihrer Geschichte hat jede Spezies ihre ökologische Nische gefunden und hat sie zu ihrer Umwelt eingerichtet. Jede tierische Umwelt bildet nach Jakob von Uexküll, dem Begründer des biologischen Umwelt-Begriffs, “eine in sich geschlossene Einheit, die in all ihren Teilen durch die Bedeutung für das Subjekt be-herrscht wird. Alles und jedes, das in den Bann einer Umwelt gerät, wird umgestimmt und umgeformt, bis es zu einem brauchbaren Bedeutungsträger geworden ist – oder es wird völlig vernachlässigt.” Was die Dinge seiner Umwelt dem Tier bedeuten, “versteht sich von selbst” – da muss es das Tier nicht auch noch verstehen. Die Gattung und ihre Um-welt sind gewissermaßen durch Vererbung miteinander verwandt. Dem Menschen werden die Bedeutungen der Dinge durch Symbole mitgeteilt, die ihm von andern Menschen überliefert wurden: Deren Bedeutungen muss er jedesmal wieder selber realisieren, näm-lich verstehen.
Die
Bedeutungen tierischer Umwelten haben freilich einen gemeinsamen
Nenner: Sie sind Funktionen der Erhaltung – der Individuen wie der Art.
Was keinen Erhaltungswert hat, kommt in ihnen, wenn es auch ‘da’ ist,
buchstäblich nicht vor. Der Mensch hat vor Jahr-millionen seine
Urwaldnische verlassen und ist aus der ererbten Umwelt in eine fremde
Welt aufgebrochen. Deren Bedeutungen waren nicht ererbt; er mußte sie
selber heraus-, d. h. hineinfinden: Ihm kann alles bedeutsam werden. Und
die Bedeutung ist, seit er einmal dem Überfluß begegnet war, nicht mehr
auf den Erhaltungswert beschränkt: Jedes kann ihm Vieles bedeuten, und
er kann sich sogar selber fraglich werden. Bedeutung: das ist dasjenige
‘an’ den Dingen, das zum Bestimmungsgrund für mein Handeln werden
könnte; mich veranlassen kann, mein Leben so oder anders zu führen. Die
Bedeutung eines Din-ges feststellen heißt urteilen. “Der Mensch muß
urteilen” und “der Mensch muß handeln” bedeuten dasselbe. Handeln heißt
nicht bloß ‚etwas tun’ (das tut das Tier auch), sondern: einen Grund
dafür haben.
Natürlich
kann der Erhaltungswert einer Sache für mich zu einem Urteilsgrund
werden. Aber er muss nicht. Der Mensch kann Nein sagen. Kritik, wie
Krisis, kommt von gr. krínein, entscheiden. Der Mensch ist das
kritische Tier, das Wesen, das allezeit urteilt, weil es sich stets
entscheiden muss. Die Erscheinungen, zu denen er -, die Situationen, in
denen er Ja oder Nein sagen muß, erheischen Maßstäbe: Bedeutungen, unter
sie er sie fassen kann.
Natürliche Umwelten sind geschlossen, aber eine Welt ist offen; jene sind begrenzt, aber
sie ist unendlich, denn ihre Grenzen finden ihre Bedeutung erst durch
das, was dahinter liegt; jene sind vertraut, aber sie ist fremd und
bunt; jene sind sicher, aber sie ist Lockung und Gefahr zugleich. Sie
ist überhaupt keine “Gegend”, sondern bloß ihr Horizont.
Wie
ist er dahin gelangt? Durch seinen aufrechten Gang. Als er nämlich
seine herkömm-liche Nische auf den Bäumen verließ, nein: als vielmehr
der Klimawandel im ostafrika-nischen Graben den Regenwald in eine
feuchte Parksavanne zersetzte. Während einige unserer Vorfahren sich mit
dem angestammten Urwald zurückzogen, vielleicht überle-genen
Konkurrenten weichend – da wagte er sich ins offene Feld hinaus, wo er
Überblick brauchte und größere Behendigkeit, denn jene Savanne war nicht
eine Nische, sondern ein unzusammenhängender Flickenteppich aus vielen
verschiedenen Lebensräumen, zwi-schen denen er seither ständig unterwegs
ist. Spezialisierung auf einen unspezifischen Lebensraum heißt aber
Entspezialisierung. Er wurde zum Ausreißer, zum Vaganten. Der
Normalzustand, für den er sich zurichten mußte, war der Wechsel. Er
entschied sich fürs Ungewisse.
Mit dem Ausbruch in die Welt ist der Mensch über die Naturgeschichte hinaus in seine eigene Geschichte eingetreten. Nicht, dass seine Naturgeschichte damit abgeschlossen wäre – sie ging überhaupt erst richtig los. Aber auch sie macht er seither selber.
Wie die Vernunft in die Welt kam.
Verloren ging nach Portmann die Sicherheit, und gewonnen hat er eine Freiheit, durch die ihm die “Führung des Daseins eine nie endende Aufgabe” ward.
Mit andern Worten, der Mensch funktioniert nicht, denn er ist, sagt Nietzsche, “das nicht festgestellte Tier” ist. Sein Gattungscharakter ist Plastizität.
Zur
Welt werden die vorhandenen (und immer neu hinzukommenden) Dinge nicht
durch sukzessive Addition. Sie ist kein Aggregat, sondern ein Ganzes,
das gewissermaßen vor seinen Teilen “da ist”. Die Welt ist der ‘Raum’
der Bedeutungen: Das teilt sie mit den tierischen Umwelten, aus denen
sie hervor gegangen ist.
Der
Unterschied: Dieses Ganze ist “da”, weil es gedacht wird. In der
wirklichen Vorstel-lung kommt freilich immer nur dieses und dieses und
jenes vor. So erging es auch unsern Urahnen, als sie aus dem Urwald ins
offene Feld ausbrachen: Dies und das war ihnen vertraut und bedeutete,
was es schon immer bedeutet hatte. Anderes war ihnen in den Nischen
nicht vorgekommen. Aber im offenen Feld kam Anderes vor; nicht als
bedeu-tungslos, sondern als fraglich – weil nun das Ganze fraglich war.
Das war eine ganz neue Bedeutung. Der Mensch ist der, der nach
Bedeutungen fragen kann – weil er muss. Die Welt ist entstanden als
Mangel. Als das, was nach dem Verlust der Umwelt fehlte. Ein Raum, in
den ich fragend blicke.
Diesen Mangel beheben ist das Ergebnis einer Vorstellungsarbeit. Im Anschluß an Jacob von Uexküll entwickelte Ernst Cassirer seinen Symbolbegriff. Entsprechend seiner ana-tomischen Struktur besitze jeder Organismus “ein bestimmtes Merknetz und ein bestimm-tes
Wirknetz. Das Merk- netz, durch das eine Spezies äußere Reize aufnimmt,
und das Wirknetz, durch das sie auf diese Reize reagiert, sind in allen
Fällen eng miteinander ver-knüpft. Sie sind Glieder einer einzigen
Kette, die Uexküll den Funktionskreis des Lebewe-sens nennt. Der
Funktionskreis ist beim Menschen nicht nur quantitativ erweitert. Er hat
sich auch qualitativ gewandelt. Zwischen dem Merknetz und dem Wirknetz
finden wir beim Menschen ein drittes Verbindungsglied, das wir als Symbolnetz oder
Symbolsystem bezeichnen können. Diese eigentümliche Leistung verwandelt
sein ganzes Dasein. Er lebt sozusagen in einer neuen Dimension der
Wirklichkeit.”
Wenn
alle Dinge ‘eine Bedeutung haben’, ermöglicht diese ihre gemeinsame
Qualität, sie als eine – wenngleich artikulierte – Gesamtheit
aufzufassen, indem die Bedeutung des Einen zur Bedeutung des Andern ins
Verhältnis gesetzt wird; so dass idealiter die Bedeu-tung eines Jeden in
den Bedeutungen aller Andern ihre Grenze findet. Die Welt ist dann die
Totalität der Verweisungszusammenhänge.
Logisch
mag man das Verhältnis umkehren: Indem man die (gedachte) Totalität
aller (möglichen) Verwei-sungen an den Anfang setzt und die tatsächlich
statt-findenden Verweisungen und schließlich die je einzeln
bestimmt-werdenden Bedeutungen daraus “hervorge-hen” läßt. Doch wenn es
auch so wäre, daß die Welt, einmal erfunden, gegeben ist wie es die
tierischen Um-welten sind – so müßte sie sich ein jedes neu
hinzu-kommendes Individuum doch jedesmal wieder neu aneignen. Und es
könnte das mehr oder weniger tun. Wenn
ihm das auch am vorgege-benen Material leichter fällt als den
abertausenden Generationen vor ihm, die alles erst erfinden mussten – im
Prinzip ist es doch “so gut, als ob” er mit dem Bedeuten der Dinge ganz
von vorn anfinge. Und die ‘erste’, elementare Bedeutung: die Scheidung
von Ich und Nichtich. Indem ich ein Anderes “bedeute”, bedeute ich ipso
facto ‘mich’ als das Andere dieses – und jedes andern – Andern. In einer
natürlichen Umwelt kann es ein Ich nicht geben. Aber ohne Ich kann es
die Welt nicht geben.
Und das regelmäßige in-Beziehung-Setzen von Ich und Welt nennen wir landläufig Ver-nunft.
Der Sündenfall, oder: Arbeit ist der Sinn des Lebens
Das
Wanderleben war allerdings gefährlich: Bedeutend wurde Sicherung. Die
einzige Sicherheit bot der soziale Zusammenhalt – die Blutsbande. Das
Totem prägt die ursprünglichen Symboliken. Und weit bis in die
Ackerbaugesellschaften beruhen die politischen Strukturen auf
Verwandt-schaftsbeziehungen; Athen und Rom etwa auf phyle und gens.
Das Blut und der Boden sind der Grund von Wert und Sinn, in den antiken
Mythologien streiten sich Erd- und Himmelsgötter wie die Bauern- und
Hirtenvölker in der Wirklichkeit. Doch schließlich beherrscht die Arbeit
die alltäglichen Urteile, durch Handel und Geldverkehr rückt das
Abstraktum ‘Wert’ an die Stelle anschaulicher Qualitäten.
Am
Anfang stand der Sündenfall. Als sich nämlich der Mensch in der offenen
Welt, in die er jagend und sammelnd aufgebrochen war, festsetzte und
dort sicherheitshalber eine neue, künstliche Umweltnische einrichtete.
Das war die Erfindung des Ackerbaus vor vielleicht zwölftausend Jahren
im Tal des Jordan, es war die Erfindung der Arbeit. Seither hat auch der
Mensch ein Gefüge, in dem er funktionieren, und ein Maß, dem er reifen,
für das er sich ausbilden muß.
Die
vollendete, ‘ausgebildete’ Form der Arbeitsgesellschaft ist die
Marktwirtschaft: Alles hat seinen Preis. Jetzt müssen die Arbeiten
gegeneinander austauschbar, ihre Qualität muss mess- und vergleichbar
sein. Die Nützlichkeit der einen Sache muß sich in der Nützlichkeit der
andern Sache darstellen lassen. An die Stelle der Gebrauchswerte tritt
der Tauschwert, der ‘Wert’ der Nationalökonomen: eine Art
Nützlichkeit-an-sich.
Das
ist die Logik der Arbeitsteilung: die Reduktion der Qualitäten auf
komplex zusam-mengesetzte Quantitäten; das Absehen von der Stoff- und
das Hervorkehren der Form-seite; die Auflösung einer jeden Substanz in
ihr Herstellungsverfahren; die Reduktion der Sache auf die Mache. Wir
reden von “Tat”sachen, und wenn wir ihre ‘qualitas’ meinen, sa-
gen wir “Beschaffen”heit. Etwas “begreifen” heißt daher: es auf seine “Ursache” zurück führen.
Diese
fabrizierte Umweltnische hat gegenüber den natürlichen eine Eigenart:
Sie dehnt sich aus. Und bleibt dabei doch, wie sie ist! Alles ist
gemacht. Und alles ist Material. Seit die Welt Material wurde, ist sie
planbar. Seit durch die Arbeit das Leben nicht bloß Ereig-nis, sondern
Plan geworden ist, wird die Welt zum Vorratslager.
Und
zu einem Reich von Ursachen und Folgen. Man wird sie vermessen und
kartieren wollen. Auch die Logik, als Ökonomie des Denkens, entstammt
den vorsorglichen Plänen der Arbeitsgesellschaft.
Bilder, Zeichen und Begriffe.
Man
möchte meinen, das käme davon, dass wir nur durch unsere Sprache denken
könn-ten. Wir denken ja auch nicht Dinge, sondern wir denken von den
Dingen, über die Din-ge. Das allerdings können wir auch ohne
Sprachzeichen: in Bildern, in bildlichen Abläu-fen. Auch die Bilder
“sind” nicht die Dinge, die Sachverhalte, die Geschehnisse, sondern
bedeuten sie nur.
‘Analytisch’ gesprochen, besteht das Problem darin, dass ‘Denken’ stets im Sinn von Ope-rieren, Reflektieren, Kombinieren ‘verwendet’ wird; nicht aber – richtiger – im Sinne von (vor-verbalem) Vorstellen; denn das schließt das innere Anschauen, das Repräsentieren durch “innere Bilder” mit ein.
Wahr ist freilich, dass ich das innere Bild als solches nicht fixieren und “behalten” kann: nicht abspeichern und erinnern, wann immer ich wollte. Dafür müsste ich schon ein Merk- Mal
aus dem jeweiligen inneren Bild herausgreifen und zum Zeichen für das
Ganze ma-chen. X steht dann für das Bild in meinem Kopf. Ich archiviere
das Bild in meinem Spei-cher unter X. Im Katalog zum alltäglichen
Gebrauch muss mir nur X ständig bereit lie-gen, so dass ich damit
“operieren” kann; und erst, wenn ich X selber anklicke, vergegen-wärtigt
sich das Bild.
Das heißt Symbolisieren. Die miteinander in systematischen Bedeutungszusammenhang gebrachten Symbole heißen Begriffe.
Wir
denken aber nicht in Begriffen. Wir denken auch nicht logisch. Das
diskursive Den-ken, das Begriffe in geregelten Schritten an einander
knüpft, ist lediglich kritisch. Man braucht die Logik überhaupt nicht
zum Denken, sondern nur zur Prüfung des Denkens. Das wirkliche, nämlich
schöpferische Denken geschieht in einer Kaskade von unfassli-chen
Bildern. Erst wenn ich “daraus was machen” will – diese oder jene
Handlung etwa, oder eine Mitteilung an Andere -, muss ich es
feststellen, nämlich festhalten und bestim-men: durch ein Zeichen; am
besten eins, das ich aussprechen kann.
“Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt”, sagt Ludwig Wittgen-stein, aber das ist falsch. Die Grenzen unseres gemeinsamen Symbolsystems bedeuten die Grenzen unserer gemeinsamen Welt; nämlich ihrer Mitteilbarkeit, und die erheischt Be-stimmtheit. Meine Welt hat andere Grenzen, denn in ihr können auch Bilder vorkommen, die ‘nur sich selbst bedeuten’ – und daher unbestimmt bleiben dürfen. Wovon ich nicht sprechen kann, darüber muss ich nicht schweigen: Ich kann es zeigen.
Denn Symbole, nämlich Bedeutungsträger für andere, können auch Bilder werden. Sie irrlichtern dann am Rande unserer Welt und illustrieren die Stelle, wo sie an meine Welt nicht mehr heranreicht: Liebe, Leidenschaft, Freiheit, Sinn, Schönheit, Grauen, Glück, Ehre und Anstand; übrigens auch Komik und Wissen. Kein verständiger Kopf würde sie bestimmen wollen. Aber gezeigt werden sie oft und gern – in den Bildern der Kunst. Nicht zuletzt darum übrigens ist die Welt, im Unterschied zu den geschlossenen Umwel-ten, offen: weil in meiner Welt Anderes vorkommen mag als in der der Andern – und ich es ihnen zeigen kann.
Unsere Welt und die meine.
Alles, was als Tatsache in unserer Welt vorkommt, lässt sich auch bestimmen; nämlich in das allgemeine Bedeutungsgeflecht einpassen,
wo Jedem seine Bedeutung durch die Be-deutung aller Andern zugewiesen
wird. Reflektieren heißt nichts anderes als: seinen Platz im großen
Verweisungszusammenhang aufsuchen.
Was
bestimmt ist, kann Bestandteil einer Wissenschaft werden – weil sich
sein logischer Zusammenhang demonstrieren und Einverständnis erzwingen
lässt. Was demonstriert werden kann, lässt sich erlernen. Was dagegen
‘durch meine Freiheit möglich’ wurde, läßt sich eo ipso nicht bestimmen.
Es liegt allein in meiner Welt. Ich kann es nicht erlernen, sondern
muss es erfinden und mir ein-bilden. Einverständnis der andern kann ich nicht erzwingen, sondern höchstens ihren Beifall heischen: sie animieren, meine ‘Anschauung’ nach-zu-erfinden.
Das
Nacherfinden kann nicht gelehrt werden: dazu muss man verführen, und
das ist Kunst. Gegenstand von Wissenschaft kann es nur idiographisch
werden: kritisch und historisch.
Erziehen heißt nun, einem
Menschen die Dinge zeigen und die Symbole, die ihm die Welt bedeuten.
Doch haben die in den Symbolen aufbewahrten Bedeutungen einen andern
Realitätsgrad als die Dinge. Sie ’sind’ ja nur, sofern ich sie gelten
lasse. Denn der Mensch ist das Tier, das nein sagen kann (Max Scheler);
auch dazu: den Meinungen der Andern. Fragen können heißt, ja oder nein
sagen können.
Meiner
Welt liegt unsere Welt gewissermaßen zu Grunde. Und unserer Welt liegt
meine Welt zu Grunde. Das einemal kategorisch, das andermal genetisch.
Dass ich überhaupt darauf komme, die Daten, die mir meine Sinne melden,
zu einer “Welt” zu konstruieren, liegt allein daran, dass ich in die
Welt der Andern hineingeboren bin.
Und
dass ich vor diesem Horizont meine Welt konstruiere, liegt daran, dass
es meine Sin-ne sind, die mir ‘Daten’ gemeldet haben, und dass ich sie
zu einander fügen muss. Dass ich meine Welt
konstruieren muss, liegt an den Andern. Dass es diese Welt sein wird,
liegt... an meinen Sinnes-Daten, die dadurch, dass ich eine Welt aus
ihnen baue, zu mei-nen überhaupt erst werden!
“Ich” konstruiere eine Welt. Es wird meine Welt sein: Darum bin ich Ich. Und in dem Maße, wie ich hernach meine Welt mit der Welt der
Andern ins Benehmen setze, werde ich Verstand beweisen, Ernst des
Lebens, Sozialkompetenz und so weiter. Wie weit ich die eine von der
andern durchdringen lasse, entscheidet darüber, wohin ich mein Leben
führen kann und wo ich scheitern muß.
Ein erster, letzter Grund; oder Der schöne Schein des Wahren.
Ursprung und Angelpunkt des abendländischen Denkens war die Frage nach dem Wah-ren. In der Sinnenwelt ist alles Trug. Sie scheint mal so, mal so, je nach Standort. Alles, was wird, wird vergehen. Wahr ist, was währt, das ewige Sein; doch es liegt unterm Wer-den verhüllt. Nur dem Denken ist es kenntlich, „denn dasselbe ist Denken und Sein“, sagt Parmenides. Die Frage nach dem wahren Sein ist die Frage, wonach sich mein Leben in der Mannigfaltigkeit trügerischer Erscheinungen richten soll.
Man erkennt es beim Vergleich mit Heraklit, gegen den Parmenides angetreten war: Nicht zweimal könne man in einen Fluss steigen; der Fluss sei ein anderer geworden und der Mensch auch. Hinter dem Werden ist Nichts, wahr ist der Schein: Das möchte man einen heroischen Nihilismus nennen; ein aristokratisches Leben auf eigne Faust, das sich nicht jeder leisten kann. Die Vermutung, daß der Sinn der Welt zwar verborgen, aber jedenfalls in ihr liegt, macht dagegen auch kleinen Leuten Mut. Nicht anders konnte die Arbeitsge-sellschaft siegen, nicht anders konnte Europa die Welt erobern. Die Erkenntnis, dass nach dem Sinn gefragt werden muss, war die Geburtsstunde des Abendlands.
Der ebenbürtige Zeitgenosse von Heraklit und Parmenides war Sophokles – der als erster die Schuld der Menschen zum Thema gemacht hat; nämlich dass sie ihre Wege selber wählen. Es wurde zum Thema der westlichen Kultur. Man mag auch meinen, es sei die Conditio humana selbst. Nur wurde sie nicht überall ihrer bewusst.
Das Wahre, das Ansich-Seiende, das Absolute; Wert, Bedeutung, Geltung, Sinn – das alles sind verschiedene Worte für ein Problem. Nämlich dies, dass der Mensch sich nicht mit dem Leben begnügen kann, son-dern immer sein Leben führen muss. Führen wo hin, wo lang? Er muss sich orientieren. Das, woran er sich orientiert hat, um dessentwillen er ge-lebt hat, nennt er, rückblickend, ’das Wahre’, ‘das Absolute’, den ‘Sinn’. Das Erkennen ist zirkulär.
Warum? Es kommt a posteriori. Denn gesetzt wird der Sinn immer ‘in actu’, hier und jetzt, an jedem Wegkreuz neu. Dem (nachträglichen) Erkennen erscheint es darum als a priori. ‘Das Wahre’, ‘das Absolute’, der ‘Sinn’ ist – reell wie ideell – eben keine Sache, son-dern ein Problem. Es ist aber keins, worauf die Menschen ebenso gut verzichten könnten. Sie waren tätig, bevor sie erkennend wurden. Aber sie müssen erkennend sein, um selbst-tätig zu werden.
Nur weil der Mensch ein Leben führt, dessen Sinn weit über seine bloße Erhaltung hinaus reicht (wenn er es will), hat er das Problem der Freiheit. Ob er es will, ist damit noch nicht entschieden. Wenn einer sagt: Die Befriedigung meiner Bedürfnisse ist mir genug – wie kann ich ihm widersprechen? Es gibt noch viele, die sich mehr gar nicht leisten können.
Aber eine Kultur, wo verknappter Luxus schon wie Not erscheint, lebt im Überfluss. Die-ses ist eine Sinnbehauptung: Es sollte eine Welt des Reichtums entstehen, damit Men-schen in die Lage kommen, ihre Freiheit bestimmen zu können. Nur darum gibt es die Frage nach der Wahrheit. Aber die ist ein Paradox.
Was ich tun soll, ist eine Frage von Bedeutungen. Ist Sache eines Urteils. Und dafür brauche ich Gründe, die gelten. Deren Geltung muss ihrerseits begründet sein, und so fort. Machen wir’s kurz: Wenn überhaupt etwas gelten soll, muss es irgendwo einen Grund geben, der schlechterdings gilt und in letzter Instanz, ohne alle Bedingung – die Bedingungen von Ort und Zeit zumal. In der Welt, die ‘der Fall ist’, wird man ihn nicht antreffen. Er ist “nicht von dieser Welt“, ich muss ihn mir hinzu denken.
Dass der menschliche Geist “notwendig etwas Absolutes außer sich setzen muss und dennoch von der andern Seite anerkennen muss, dass dasselbe für ihn da sei, ist derjenige Zirkel, den er ins Unendliche er-weitern, aus welchem er aber nicht heraustreten kann. Es ist nur da, inwiefern man es nicht hat, und entflieht, sobald man es auffassen will”, schrieb Johann Gottlieb Fichte. Es “kann nur eine Idee sein; ein bloßer Gedanke in uns, von welchem gar nicht vorgegeben wird, dass ihm in der wirklichen Welt außer uns etwas entspreche. Ideen können unmittelbar nicht gedacht werden. Sie sind Aufgaben eines Denkens, und nur, inwiefern wenigstens die Aufgabe begriffen werden kann, kommen sie in unserm Bewusstsein vor.“ Eine Aufgabe nannten die Griechen ein Problem. Aber dieses Problem ist so gestellt, dass es schlechterdings nicht lösbar ist: Die Freiheit soll sich ihren Bestimmungsgrund außer sich suchen! Es ist ein Paradox.
Das ist nicht bloß eine Idee. Das ist eine ästhetische Idee. Es ist, recht besehen, die ästhetische Idee schlechthin, die in alle tatsächlich vorkommenden Bestimmungen nach Ort und Zeit vorgängig hineingreift, die all die Qualitäten vereint, die ich an den Dingen “wertnehme”, bevor ich sie wahrnehme, und von der ich erst durch eine besondere Anstrengung des reflektierenden Verstandes wieder abstrahieren kann.
Es “ist” nicht so. Aber so muss ich es mir vorstellen, wenn ich mir überhaupt Etwas vorstellen will. Das Wissen kann seinen eignen Grund nicht erkennen. Es muss ihn sich ein-bilden. Der höchste Akt der Vernunft sei ein ästhetischer, hieß es im ‘Ältesten Sys-temprogramm des deutschen Idealismus’. Ob er wirklich stattgefunden hat, ist nicht entscheidend. Es scheint uns so, als ob er stattgefunden hätte. Er ist so wahr wie ein Mythos sein kann. Will sagen, er muss sich bewähren.
Bewähren in Sonderheit in meinem täglichen Tun und Lassen – als Sittlichkeit. “Die Ethik ist transzendental“, schrieb Ludwig Wittgenstein, um gleich hinzu zu fügen: “Ethik und Ästhetik sind eins.” Und es sei klar, dass sie sich als solche “nicht aussprechen” lassen.
In den Wörtern unserer Welt lassen sie sich nicht aussprechen. Denn sie gehören zu mei-ner Welt. Den andern kann ich sie allenfalls zeigen – in den Bildern der Kunst. In Wör-tern lässt sich das Problem immer nur so formulieren: Der Sinn des Lebens ist, dass du nach ihm fragst. Eben ein heroischer Nihilismus oder, wenn man will, “Artisten-Metaphy-sik”. Auf jeden Fall ist es eine romantische Anschauung der Welt, und eine fröhliche.
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