6. Vernunftkritik statt Theory Of Mind.


Abstract
Philosophical discussion in our time suffers from the sterile opposition of anglo-saxon analytical 'systematists' and 'continental' philologists. Some authors hope they could find a mediate point in Theory Of Mind founded on J. G. Fichte's I, which was a key notion of continental thinking.

This is a futile hope since both do not share any premices that could establish a common ground. They do share one premice indeed, but that is just the origin of their discord: The material of both of them are Concepts, but continental philologists will dig for them in the History of continental thinking, while analytical systematists try to shape them all anew without any historical references.


Fichte's philosophy could actually overcome the abyss in the measure that it is not some Theory Of Mind but is Transcendental Philosophy, or Critique Of Reason. It does not content itself to analyze concepts (Begriffe) as they are actually given in our rational praxis, but inquires beneath them into the Vorstellungen (=images) in which they were originated; that means: the way in which Reason itself emerged.


If there was a real Will to overcome the continental/systematist schism, there is no other way but the Renewal of the Critique Of Reason that has so tragically been silenced since the Great Confusion of so-called German Idealism.

Manfred Frank schließt seinen Beitrag zu Fichte in der Frankfurter Allgemeinen vom 23. 11. '19 mit der beziehungsreichen Frage: „Aber warum darf man aus der Hinterlassenschaft eines Philosophen nicht eine bleibende Einsicht heraussieben, selbst wenn sie zu weiteren Fragen drängt?“

Das geht gegen die Vertreter jener angelsächsischen sprachanalytischen Philosophenrich-tung, die sich selber eigenartigerweise „Systematiker“ nennen und glauben, ein jeder könne in der Philosophie ganz von vorn anfangen und sich seine Maßstäbe selber machen. Exem-plarisch stellt er Fichtes Gedanken eines ursprünglichen Bewusstseins, in dem Subjekt und Objekt noch nicht geschieden waren, in den Mittelpunkt.

Fichte ist bis heute der berühmteste Unbekannte der Geistesgeschichte. In Kompendien und Nachschlagwerken kommt er vor als Subjektiver Idealist auf dem Weg 'von Kant zu Hegel'; als ein Scharnier, das einen Wert in den beiden Flügeln hat, die es verbindet. Dass Manfred Frank ihm einen großen Aufsatz widmet, ist zu begrüßen. Nicht begrüßen kann ich, dass er ihn dabei zu einem Bewusstseinsphilosophen herabstuft.

Fichtes Ehrgeiz war ein anderer. Er wollte die von Kant begonnene Vernunftkritik zu Ende führen. Er hinterließ nicht bloß eine Einsicht, sondern ein ganzes System; nicht ein System der ganzen Welt wohlbemerkt, sondern ein System der ganzen Vernunft – die Wissenschaftslehre.

Bewusstes Sein sind auch die Wahnbilder des Irren. Doch Sache der Philosophie sind sie nicht. Was immer gewusst wird, wäre gleich-gültig, wenn es nicht vernünftig wäre. Also geht es nicht um das Bewusstsein (und sei es Selbstbewusstsein) als solches, sondern um das vernünftige Bewusstsein. Denn das ist, was erklärt werden muss: das Vorkommen von Vernunft in der Welt, vom gesunden Menschenverstand bis hin zu Mikro- und Makrophysik. Nicht, dass sie ist, sondern warum sie gelten soll. Nämlich ob und wie weit sie begründet ist.

Vernunft gibt es nicht als gesicherten Fundus, sondern nur als Tätigkeit. Vernünftig handeln heißt Erfahrung machen und Zwecke setzen mittels definierter Begriffe und geprüfter Schlussregeln. Vernunftkritik soll zeigen, wie das möglich wurde. Vernunft, wie sie einmal ist, ist ihr Ausgangspunkt und Gegenstand. Ihr Verfahren kann sie indessen nicht sein, denn das gilt es ja eben zu begründen. Vernunftkritik muss – genetisch, nicht logisch – zeigen, wie aus Vorstellungen Begriffe allererst werden. Das nennt man Transzendentalphilosophie.

Die Sache der Philosophie

Sie verfährt zunächst analytisch oder regressiv. Sie beginnt bei der Gegebenheit der Vernunft. Vom tatsächlichen Wissen zieht sie eine begriffliche Bestimmung nach der andern ab und legt seine Handlungsweise selbst frei. Kant fand: Die erfahrende Vernunft gründet auf Voraussetzungen, dem Apriori - ab da erst werden Erfahrungsbegriffe möglich. Wo wir die Voraussetzungen herhaben, hat er, 'um zum Glauben Platz zu schaffen', nicht weiter erörtert.  

Dazu war Fichte zunächst nicht bereit, er wollte dem Wissen bis auf den Grund gehen. Er wollte die Möglichkeit eines Wissens vor der Erfahrung und vor den Begriffen aus einer eignen Quelle erweisen. Das Apriori selber – die Kategorien und Raum und Zeit – hat keine Bestimmungen mehr, die man abziehen könnte, ab hier wird ein spekulativer Sprung nötig. Übrig bleibt am Ende der Wissensakt selbst: S p dass q. Wer oder was ist S? Erfahren kann es nicht werden, denn von ihm geht alle Erfahrung aus. Es muss vor aller Empirie als schlechthin tätig – agil, sagt Fichte – angenommen werden. Es kann daher nichts von außen in es hineingelangen. Was es fühlend erlebt, sind die Widerstände, auf die seine Agilität stößt. Agierend nimmt es sich selber wahr – als agierend und als sein Agieren wahrnehmend. Das ist es, was Manfred Frank mit Dieter Henrich Fichtes ursprüngliche Einsicht nennt – das Ich setzt sich, indem es sich in sich selbst unterscheidet und entgegensetzt....
 
Der springende Punkt ist aber der: Fichtes Ich ist kein Bewusstsein, sondern ein Noumenon, weiter nichts. „Das bestimmende Ich ist etwas einfaches Absolutes, durch bloßes Denken produziertes, ein Noumen. Darin wird ja nicht gedacht ein sich wirklich bestimmendes Ich, da bloß die Form gedacht wird, das bloße Vermögen.“* Ein Noumen ist ein reines Gedankending, während ein Phänomen in Raum und Zeit erfahrbar ist. Zu jedem Phänomen lässt sich ein Noumen denken – das ist dann das ominöse Ding-an-sich. Ein bloßes Noumen dagegen kann eine Schnapsidee sein; oder einen Gedanken bezeichnen, der einem bloßen Erfahrungsdatum Sinn und Zweck zuschreibt, denn aus den Phänomenen selbst kann man sie nicht herausfinden. Man muss sie vielmehr hineinprojizieren.

Fichtes Ich ist dasjenige an einem wirklichen Bewusstsein, was seine Vernünftigkeit aus-macht. Dies Noumen wird nicht als seiend behauptet. Es wird lediglich als Erklärungsgrund gesetzt. 'Was Vernunft ist' (wie sie zustandekommt), wird verständlich nur unter Annahme eines solchen sich-selbst-setzenden X. Ob dieser (in der Vorstellung) notwendigen Voraussetzung außerhalb der Vorstellung 'etwas entspricht' (und was), hat nicht die Transzendentalphilosophie zu erörtern, sondern die positive Wissenschaft: empirische Psychologie und Hirnforschung. 

Sache der Transzendentalphilosophie ist es nicht, sich den Realwissenschaften unterzuschieben, sondern ihnen die Fragen zu stellen, die sie beantworten müssen, damit... na ja, damit die Philosophie etwas aussagt, das erlaubt, zwischen den dürren Fakten etwas zu verstehen; und damit Wissen mehr als nur verwertbar ist. Ergebnis der Fichte'schen Untersuchung ist: Vernünftig ist ein Bewusstsein, das sich aus Freiheit Zwecke setzt – die es indes zu verantworten hat, weil es mit anderen Ichen in einer Reihe vernünftiger Wesen verbunden ist, die seine Vernünftigkeit verbürgen, indem sie seine Zwecke anerkennen in tätiger Auseinandersetzung mit ihren eigenen Zwecken. 


Eine so vervollständigte Vernunftkritik wäre nicht, wie Kant beanstandet hat, „bloße Logik“, denn die Wissenschaftslehre knüpft nicht Begriffe nach allgemeinen Regeln an einander, sondern entwickelt (und bestimmt) aus Vorstellungen neue Vorstellungen. Das ist nicht einfach Ableitung, sondern sinnhafte Begründung. Die ganze Welt liegt darin beschlossen.

Fichte selbst war sehr bald mit seiner ersten, noch scholastischen Darstellung der Wissenschaftslehre – die indes die einzige schriftlich Fassung bleiben sollte - unzufrieden, die manchen Leser bis heute verleitet, sein Ich metaphysisch misszuverstehen. Und vor allen Dingen damit, dass er gleich beim Ich begonnen hatte, statt es aus der Vernunftkritik erst herzuleitenEben das unternahm er in der Vorlesungsreihe Nova methodo aus den Jahren 1797- 99. Die ist allerdings nur als Kollegnachschrift erhalten und liegt erst seit vierzig Jahren gedruckt vor. Sie ist sozusagen eine Ausgabe Letzter Hand - letzter Hand nämlich vor Fichtes dogmatischer Wendung nach dem Atheismusstreit, in der er sich von der Transzendentalphilosophie im besondern und vom Kritischen Prinzip im allgemeinen losgesagt hat. Sie ist ihrerseits nicht vollendet, er gibt in der Schlussvorlesung einen Abriss dessen, was er noch vorhat. Dort findet sich ganz am Ende die Wendung zum Ästhetischen als der einzigen Möglichkeit, aus dem vernünftigen Alltagsbewusstsein überzugehen zu seiner Selbstreflexion in der Wissenschaftslehre. Es ist dieser Übergang, der die Wissenschaftslehre zu einem System werden lässt. Doch wer weiß schon davon? 

Seit Mitte des 17. Jahrhunderts - seit dem 30jährigen Krieg - war Vernunft an Stelle der Offenbarung zum unbestrittenen Maßstab der Philosophie geworden. Sie ist im Zuge des pp. Deutschen Idealismus unter die Räder gekommen; und als sie sich im Neukantianismus wieder aufgerappelt hat, doch nur als Philologie. Ums kurz zu machen: Dabei ist es bis heute geblieben. Vernunftkritik ist nie wieder zum Thema geworden; so wenig, dass ein philosophischer Autor, der auf sich hält, das Wort Vernunft gar nicht erst in den Mund nimmt. Im breiten Publikum herrscht dagegen die philiströse Vorstellung von einem konsensuellen Juste Milieu. Vernunft ist aber Kampf und Sieg des besseren Arguments. Vernunft ist erforderlich, wo Entscheidungen getroffen werden sollen; um sie vor sich herzuschieben, reicht Gemütlichkeit. Vernunft wird nicht gehäkelt und gestrickt, sondern gehauen und gestochen. Wie anders wollte sie der Unvernunft sonst beikommen? Die ist ja von Natur im Vorteil. 


Doch sind die Voraussetzungen wie immer ungünstig. Zu beginnen wäre nicht beim breiten Publikum, sondern bei den Philosophierenden. Die stehen sich aber seit Jahr und Tag als zwei feindliche Lager gegenüber, sprachanalytische Systematiker hier, kontinentale Philo-logen da. Das Material ist ihnen zwar gemeinsam: die Begriffe. Doch während die einen sich an deren unendlichen Differenzier- und Interpretierbarkeit erfreuen, wollen die andern durch akribisches Definieren je stahlharte Kerne festklopfen, an denen jeder weitere Bestimmungsversuch abprallen muss; Wahrheitspartikel ohne Voraussetzung, So hängen sie ohne sich dessen zu versehen dem von Wittgenstein überkommenen logischen Atomismus an und erwarten im Ernst, wenn jedes sprachliche Missverständnis ausgeräumt ist, sei allem Zwist unter und Menschen der Boden entzogen.
 

Die 'kontinentalen' Philosophen finden hingegen im unendlichen Für und Wider, Einerseits Andererseits und Zwar Aber ihr Auskommen; farbiger ist das auf alle Fälle. Man kann, wenn alle Steine umgewendet sind, es ein zweites und ein drittes Mal beginnen. Es kommen stets wirklich neue Einsichten zustande. Doch irgendwann liegen sie so eng beieinander, dass die verbleibenden kleinen Unterschiede wirklich nicht mehr nach ihrer Auflösung schreien. Dem Philosophierer wird langweilig und Philosophie wird zum Bildungsgut, das nur noch fürs ästhetische Betrachten taugt (doch manchmal reichlich). 
 
Über den eigentlichen Gegensatz – den Nutz und Frommen der Begriffe – reden sie gar nicht, sondern reden nebeneinander her. Manfred Frank fasst als möglichen Vermittlungs-punkt die aus der analytischen Philosophie hervorgegangene amerikanische Theory Of Mind ins Auge. Fichtes Ich spielt dort eine prominente Rolle, aber ganz aus seinem transzendentalen Sinnzusammenhang gerissen. Theory Of Mind ist eine Hybride aus Philosophie und Kognitionspsychologie. Worin ihr wissenschaftlicher Zugewinn bestünde und ob sie die Gegensätze auflösen oder nur verwirren kann, ist unklar. Dass die Analytiker aber Ober- oder Grundbegriff der eigenen Voraussetzungslosigkeit - paradox gesagt - den Boden entziehen, kann einem Kontinentalen schon gefallen. Er hätte aber nur einen Punkt markiert. Eine argumentative Überwindung der Fronten ist gar nicht möglich, weil sie keine Voraussetzungen miteinander teilen; umso mehr Wörter lassen sich allerdings aufbieten.

Aus der Klemme hülfe, wenn es gewollt würde, ein energisches Wiederaufgreifen der so lange liegen gebliebenen Vernunftkritik. Sie rührt nicht in der Schaumkrone der Begriffe, sondern beobachtet die darunter liegenden Tiefenströmungen der Vorstellung. Der Gegensatz von Kontinentalen und Historikern würde sich von selbst erledigen und damit viele brachgelegte Intelligenzen für einen Neustart der Vernunft aktivieren. Manche haben davor kalte Füße, aber das ist die Schlacht, die es zu schlagen gilt. Die Zeit schreit förmlich danach.



Nota. - Diesen Text hatte ich für die FAZ geschrieben, aber sie wollten ihn nicht. Er ist ihnen nicht philologisch genug.



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