Donnerstag, 30. November 2023

Geschmack und Vollkommenheit.

sunnje, pixelio.de

Vollkommen ist ein Ding, das so ist, wie es sein soll.

- Das ist gar keine Definition. Es ist eine zirkuläre Umschreibung. Vollkommenheit ist kein Be-griff, sondern eine Idee. Eine Idee ist nur als eine Aufgabe zu veranschaulichen, als Problem - als eine Suche.

Zu suchen ist: jene Qualität, die es ausmacht, dass etwas 'so ist, wie es sein soll'. - Das ist das Ma-teriale.

Oder nicht eher: Wer oder was bestimmt, ob etwas so ist, wie es sein soll, oder anders: mit wel-chem Recht? - Das ist das Formale.

Zu letzterem: Es ist der Geschmack, der bestimmt, und zwar aus eigener Vollmacht.

Zum ersteren: Das hängt an den Erfordernissen der Zeit. Wenn und wo das Leben durch Zerris-senheit, Unübersichtlichkeit, Unsicherheit geprägt ist, wird man Vollkommenheit auf dem Weg zu Ausgleich, Harmonie und Frieden suchen. Wo aber die "Plattharmonischen" herrschen, wie Friedrich Schlegel sie nannte; wo alles ausgeglichen wird, wo nichts aus der Reihe fällt, wo al-les korrekt hergeht - da wird man Vollkommenheit auf den Wegen von Ruhestörung und von Ungewissheit suchen; nicht ohne die Einstweiligkeit des eignen Urteils immerhin zu ahnen.

Nehmen wir die materiale mit der formalen Seite zusammen, dann ergibt sich: Ob es zu viel Ordnung gibt oder zu viel Unordnung, ist Geschmackssache; aber die Geschmäcker sind ver-schieden.
31. 12. 2013

 

Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

Dienstag, 28. November 2023

Ist philosophieren Kunst?

                                      zu Philosophierungen; zu Geschmackssachen

Das ist reklamige Anbiederei. Wenn man eingangs keine Grenzen zieht, wird man hinter-her keine finden. Dass Arno Böhler eingangs keine Definition gab, was er unter Kunst verstehen will, darf man ihm nachsehen, denn Begriffe sind nicht das Medium, in dem sie wirkt. Aber mit der Philosophie ist es was anderes. Die wollte Wissenschaft sein, und zwar als erste Disziplin des Denkens überhaupt; und schon zu einer Zeit, da es die Kunst als einen selbständigen Lebensbereich noch gar nicht gab.

Wissensschaft sei Kunst, sagte der ungarische Musiker Sándor Végh, aber Kunst sei keine Wissenschaft. Wir haben also ein Problem. 

Mit den Begriffen fangen wir besser nicht an. Die beruhen auf Prämissen, doch um die scheint es gerade zu gehen. Aber Kunst und Wisssenschaft und Philosophie sind zweifel-los historische Gegebenheiten, und als solche müssen sie sich umschreiben lassen. Wis-senschaft und Philosophie in specie und Kunst in specie haben sich im Westen ausgebil-det. Hier haben sie sich als konkurrierende gesellschaftliche Instanzen etabliert, miteinan-der und gegeneinander.

Beschreibend lässt sich sagen: Was immer heute unter Kunst verstanden wird, hat mit Gestaltung nach ästhetischen Gesichtspunkten zu tun. Mehr oder weniger: Daneben mochten magische und kultische Zwecke eine Rolle spielen und die Verherrlichung der Macht, der ästhetische Anteil konnte auf bloße Verzierung schrumpfen. Was immer pro-duziert wird - eine Form wird es haben, ob darauf abgesehen wurde oder nicht. 

Es ist dem Verständnis dienlich, die Entwicklung der Kunst - bemerkenswert wieder, dass es eine eigene Entwicklungsgeschichte der Kunst nur im Westen gibt - zu beschreiben als den Prozess der Herauslösung der äs- thetischen Absicht aus ihrer Verstrickung mit ande-ren, sozusagen profanen Motiven. In der Entbindung des rein-Ästhetischen hätte die Kunst ihre Bestimmung erreicht und nichts in ihr weist noch über sie hinaus.


Was immer die Wissenschaftler in ihrem ahnenden Suchen und Probieren mit der Praxis der Künstler gemein haben mögen: Der Prüfstein für ihre Ergebnisse ist stets, ob sie dem Erkenntnisinteresse dienen. Sie haben einen Zweck, der über sie hinausreicht - die Er-mächtigung des Menschen. Technische Verwertbarkeit natürlich. Aber auch die an sich selber zweckfreie Grundlagenforschung erweitert mit dem Blick auf die Welt seine Frei-heit in der Wahl seiner Lebenszwecke. Während die Kunst im besten Fall Fragen an das Leben stellen kann, schafft Wissenschaft - und insbesondere die Philosophie als ihr Inbe-griff - Anhaltspunkte für Antworten.

*

Ein ganz anderes Thema ist, mit welchen Mitteln sie ihr Verfahren und ihre Ergebnisse darstellt. Nämlich ob ihr bevozugtes Medium der Begriff sei oder das Bild. Für die Kunst beantwortet sich die Frage von selbst. Sie besteht in Bildern, und wo sie zusätzlich Begrif-fe bemüht, stellt sie die Kunst in den Dienst profaner Zwecke.

"Ich glaube, meine Stellung zur Philosophie dadurch zusammengefasst zu haben, indem ich sagte: Philosophie dürfe man eigentlich nur dichten", heißt es in Wittgensteins Ver-mischten Bemerkungen. Er meinte freilich, die Philosophie finge dort erst an, wo sein Tractatus endete; nämlich nachdem logisch-philosophisch festgestellt wurde, 'was der Fall ist'. "Meine Art des Philosophierens ist im Wesentlichen der Übergang von der Frage nach der Wahrheit zur Frage nach dem Sinn", steht am selben Ort.*


Recht besehen, kommt die Frage nach dem Sinn jedoch vor der Frage nach der Wahrheit. Nicht historisch, aber genetisch, denn durch sie ward die Frage nach dem Wahren erst aufgeworfen. Historisch war zuerst der Mythos da, als Einheit von Sinn und Wahrheit. Als der Mythos mit seinen unberechenbaren Göttern das Leben in den griechischen Poleis nicht mehr regulieren konnte, kam die Suche nach dem Wahren auf. Und zwar durch den Augenschein, dass der Mensch ein Teil des Kosmos ist und das, was für den Kosmos gilt, auch für die Menschen darin zu gelten hat - der Götter unerachtet.


Dieser Gedanke fand seinen höchsten Ausdruck in den metaphysischen Systemen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Seit Galileo, Descartes, Spinoza, Newton und Leibniz war Mathematik das Gesetz der Welt und Urtyp der Vernunft. Diesen Systemen verdanken wir die Emergenz der Wissenschaft als Paradigma des Wissens und als Wegwei-ser des Lebens. Die Frage nach der Wahrheit und die Frage nach dem Sinn fielen zusam-men, denn sie fanden dieselbe Antwort.
 

Doch dann kam die Kritik, und die ist es, wodurch Philosophie wissenschaftlich wurde. Was ihrer Prüfung nicht standhält, wird verworfen.


Wahrheit ist überhaupt nur eine Fiktion um des Sinnes willen. Um nämlich den Sinn nicht bei sich selbst, sondern in der Welt lokalisieren zu können: "an sich". Doch dies ist das Ergebnis der Kritik: Wahr ist etwas nur in Hinblick auf einen Zweck, der unbedingt gilt, der selber kein Maß außer sich hat, aus dem nichts über ihn hin- weg weist. Und er hat keine Merkmale, durch die er mit Anderem vergleichbar wäre. Durch ihn wird Anderes vergleichbar. Er ist wie das Ästhetische; er ist das Ästhetische. 

*

Befremdlich bleibt die gewissermaßen technische Verwandtschaft von Wissenschaft und Kunst. Sie sind beide nicht Konstruktion aus vorfindlichen Elementen, sondern Entwurf ins Blaue. Ja, auch die Wissenschaft! Aus der Erfahrung selbst folgt gar nichts. Sie kann lediglich eine Vermutung bestätigen oder widerlegen. Die Ver- mutung muss der Forscher schon selber haben. Allerdings muss eine so gewonnene Erkenntnis den Blick auf weitere Erkenntnisse öffnen: über sich hinausweisen; sonst ist sie wissenschaftlich überflüssig. Aber das ist bei der Kunst anders. Sie rechtfertigt sich durch bloße Anschauung, oder eben nicht. Dass es über sich hinausweist, macht ein Kunstwerk eher lächerlich - und macht es zu Kitsch.

Übrig bleibt die Frage nach Begriffen und Bildern. Historisch betrachtet, kann man sich's leicht machen: All unsere Begriffe waren selber irgendwann mal Bilder, sie machten sich durch häufigen Gebrauch selbstverständlich und sahen aus, als ob es sie schon immer gegeben habe. Gar, als ob sie das wahre Geheimnis hinter den (lediglich erscheinenden) Bildern wären. Und hier kippt das Verhältnis auf einmal um. Nämlich braucht die Philo-sophie, um - als Kritik - Wissenschaft zu werden, nichts so dringlich wie den kristallklaren Begriff.



Aber woher sollte sie ihn bekommen? Das Universum der überkommenen Begriffe wollte sie doch gerade überprüfen; da musste sie wohl kritisch hinter sie zurückgreifen! Was aber liegt den Begriffen, durch die wir uns im alltäglichen Verkehr verständigen, zu Grunde? Es sind die Vorstellungen eines jeden Einzelnen, denen sie mehr oder weniger entspre-chen. Ob mehr, ob weniger, das ist eine Frage des Gebrauchs; "die Bedeutung der Wörter ist ihre Verwendung im Sprachspiel". Aber worum kreist die Verwendung? Um das, was gemeint ist, und das sind Vorstellungen. 

Die jeweilige Verwendung der Begriffe betrifft ihre Genauigkeit. Genau sind Vorstellun-gen nie, denn sie 'zeigen sich' als Bilder, und die bedürfen der Deutung. Aber man darf sie nach ihrer Berechtigung fragen: nach den Vorstellungen, auf denen sie... nein, nicht beru-hen, sondern aufbauen. So dass gerade in dem Abschnitt der Philosophie, wo allein sie wissenschaftlich ist, sich die Begriffe vor den Bildern rechtfertigen müssen.

*) L. W., Vermischte Bemerkungen, Ffm. 1994, SS. 21, 58.
JE,
27. 2. 19  



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Jeder vernünftige Mensch glaubt an die Wirklichkeit der Welt.

                                                              
Jacques Linard, Fünf Sinne und vier Elemente                                                  zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Nun ist man aber, inwiefern man sich bewusst ist, ein vorstellendes Wesen, man kann also nur sagen, man sei sich der Vorstellung von Dingen außer uns bewusst, und weiter wird eigentlich auch nichts behauptet, wenn man sagt, es gebe Gegenstände außer uns. Kein Mensch kann unmittelbar behaupten, dass er Sinne habe, sondern nur, dass er notgedrun-gen sei, so etwas anzunehmen. Das Bewusstsein geht nur auf das, das in ihm vorkommt, aber dies sind Vorstellungen. -

Damit begnügen wir uns aber nicht, sondern machen schnell einen Unterschied zwischen Vorstellungen und dem Objekt, und sagen, außer der Vorstellung liege noch etwas Wirk-liches. Sobald wir auf den Unterschied der Vorstellung und des Objekts aufmerksam wer-den, sagen wir, es sei beides da. Alle vernünftigen Wesen (auch der Idealist und Egoist, wenn er nicht auf dem Katheder steht) behaupten immerfort, dass eine wirkliche Welt da sei. 

Wer sich zum Nachdenken über diese Erscheinung in der menschlichen Seele erhoben hat, muss sich verwundern, da hier eine scheinbare Inkonsequenz ist. Man werfe sich also die Frage auf: Wie kommen wir dazu anzunehmen, dass noch außer unsrer Vorstellung wirkli-che Dinge da seien? Viele Menschen werfen sich diese Frage nicht auf, entweder weil sie den Unterschied nicht bemerken, oder weil sie zu gedankenlos sind. Wer aber diese Frage aufwirft, der erhebt sich zum Philosophieren; diese Frage zu beantworten ist der Zweck des Philosophierens, und die Wissenschaft, die sie beantwortet, ist die Philo-sophie.

________________________________________________________
______________J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 3f.



Nota I. - Die Wissenschaftslehre hebt nicht an bei der Frage, ob es eine Wirklichkeit gäbe außer der Vorstellung, sondern warum jeder vernünftige Mensch davon ausgeht, dass es so sei. Die erste Frage wäre metaphysisch, die zweite ist transzendental. Und nur die zwei-te ist daher vernünftig. Dass es so sei ist also die Voraussetzung, aus der die Transzenden-talphilosophie nicht heraustreten kann, ohne die Vernunft zu verlassen. Auf der ersten se-mantischen Ebene ist auch sie realistisch. Idealistisch ist sie erst auf der zweiten Ebene, der Reflexion der Vernunft auf sich selbst.

27. 5. 16

Nota II. - Transzendentalphilosophie ist nicht metaphysische Spekulation, sondern Ver-nunftkritik. Sie beginnt bei der historischen Tatsache, dass irgendwo auf der Welt Ver-nunft herrscht, und fragt, ob dies berechtigt ist; fragt, ob die vorgefundene Vernunft ihren Anspruch begründen kann. Die Annahme der Wirklichkeit der Welt ist nicht bloß Be-standteil, sondern Grundlage der Vernünftigkeit. Die philosophische Aufgabe besteht lediglich in der Prüfung, wie die Vernunft zu dieser Voraussetzung kommt, und ob ihre Begründung hinreichend ist. 

Diese Prüfung kann nicht mit den Mitteln der Vernunft geschehen: Begriffe und Logik; damit würde das, was zu prüfen ist, als gültig vorausgesetzt. Sie muss daher die Ausbil-dung der Vernunft aus der Vorstellung selbst herleiten. Das gelingt Fichte mit seinem 'analytisch-synthetischen Verfahren', das als Dialektik in die Geistesgeschichte eingehen sollte.

JE, 21. 9. 20 

Montag, 27. November 2023

Anthropologie ist...

                                                 aus Anthropologie statt Metphysik   

...die Beantwortung der Frage:

Ist das Wesen des Menschen...

a) eine Bestimmung, die dem historischen Prozess als ein Auftrag "zu Grunde liegt" und als Programm, das es ('nur noch') zu "erfüllen" gilt? Oder...
 
b) ein Problem, das "gelöst"werden soll?

- Beide Auffassungen sind aber nicht (logisch) gleichwertig. Denn die Version a) ist um ihre Begründung verlegen. Wo immer sie ihre Begründung herleiten mag - es gibt immer noch "irgendwas", das 'hinter' ihr liegt; usw. in infinitum.

Dagegen bei b) ist der Anfang auch das Ende: Das Wesen des Menschen ist "ein Sein, das nach dem Sein fragt". Also das Leben des Menschen hat den Sinn, dass er nach dessen Sinn fragen soll. Aber dahin musste es erst kommen. Der Sinn der ('menschlichen') Ge-schichte ist, dass er sich an ihrem Ausgang "zur Freiheit verurteilt" findet.



Das Kernproblem der philosophischen Anthropologie: Wie kam der Mensch dazu, Quali-täten als wahr und wert zu nehmen, die etwas Anderes sind als größere oder geringere Zweckmäßigkeit bei der Selbst- und Arterhaltung?
Mit andern Worten: Wie kam der Mensch zu seinem 'poietischen', d. h. ästhetischen Vermögen?

19. 5. 14 

 

 

 

Sonntag, 26. November 2023

Heroischer Nihilismus.

F. Català-Roca                                                                       aus Philosophierungen

Nein, es war nicht der Vorwurf des Atheismus, der Fichte ins Bockshorn gejagt hat; den hatte er souverän und reinen Gewissens von sich gewiesen. Es war vielmehr Jacobis Ein-wand, dass die Wissenschaftslehre in Absicht der Lebensführung nur einen Nihilismus zeitigen könnte. Wenn die Philosophie in ihrer vernünftigsten Form – und als diese er-kannte er die Wissenschaftslehre – zu dieser Konsequenz führe, dann sei die Philosophie – jedenfalls in ihrer vernünftigsten Form – zu verwerfen. Dem wusste Fichte nichts ent-gegenzusetzen, und er fing zu schlingern an.

Jacobi hatte Recht, aber mich macht er nicht bange. Wenn der Nihilismus ein heroisch-ästhetischer ist, sei er mir willkommen. Das Wahre ist an sich schön, es ist nicht darauf angewiesen, sich irgendwem nützlich zu machen.
22. 1. 16

 
 

Samstag, 25. November 2023

Der Existenzialist unter den Romantikern.

N. N.                                               aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik.

Fichte hat in Jena mit Friedrich, August Wilhelm und Caroline Schlegel im selben Haus gewohnt, war auch beim legendären Romantikertreffen im September 1798 in Dresden dabei, und später in Berlin ließ er sich seine Post über die gemeinsame Adresse von Schle-gel und Schleiermacher zustellen, um die Polizeispitzel irrezuführen. Gehörte Fichte zum Romantikerkreis oder gehörte nicht der Romantikerkreis zu Fichte?

"Darum hat Fichte
gesagt: »Die Kunst macht den transzendentalen Gesichtspunkt zum gemeinen.« Seine Philosophie ist, wenn man sie recht versteht, eine radikale Künstler-philosophie. Und die Romantiker verstanden sie und machten Fichte zu ihrem Prophe-ten," schrieb Egon Friedell,* und der war allerdings genial, doch in philosophischen Dingen ein Dilettant war er nicht, und promoviert hat er über Novalis als Philosoph.

Nicht nur die Schlegels waren an Fichte orientiert. Hölderlin gehörte in Jena zu seinen er-sten, Brentano zu seinen letzten Hörern. Aber der Romantikerkreis ist im Jahr 1799 aus-einandergebrochen, nein, auseinandergeflossen aus demselben Grund, aus dem Fichte Jena verlassen musste: Der Atheismusstreit hatte deutlich gemacht, dass nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland die Zeit des revolutionären Aufbruchs vorbei war. Bei diesen folgten frömmeld deutsche Innerlichkeit und Ergebung in biedermeier-liche Restauration, bei jenen folgte...  

Es war ein existenzialistischer Sprung über den Abgrund, wie soll man es anders nennen? "Aller Ernst und alles Interesse ist dann rein aus meinem Leben vertilgt, und dasselbe ver-wandelt sich, eben so wie mein Denken, in ein blosses Spiel, das von nichts ausgeht und auf nichts hinausläuft", hieß es als Quintessenz jenes Abschnitts in der Bestimmung des Menschen, der die Überschrift Wissen trägt. 


Die Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts hat in Fichte unmöglich ihren Stifter erken-nen können, weil er ihr in R. Kroners schiefen, aber landläufig gewordenen Perspektive Von Kant zu Hegel*** vielmehr als Begründer eines sogenannten Deutschen Idealismus erschien. Wilhelm Weischedel hat dagegen mit seiner existenzialistischen Deutung der Wissenschaftslehre als einer Ontologie des Lebens** leider nie durchdringen können.

Die Absurdität des Daseins annehmen und Ja sagen zu dem, was wirklich ist, um darin meine Freiheit zu behaupten - wie soll man das anders nennen als existenzialistisch? Aber es liegt gar nichts an oder in diesem Wort. Ein anderes, ebenfalls treffendes wäre mir ge-nauso recht; heroischer Nihilismus etwa.

Ob auch Artisten-Metaphysik, wie Friedell insinuiert, ist an dieser Stelle noch nicht zu entscheiden.


*) Kulturgeschichte der Neuzeit, III. Buch, 3. Kapitel 
**) W. Weischedel, Der frühe Fichte, Stuttgart-Bad Cannstadt, ²1973; die Erstausgabe war 1939 unter dem absichtlich zweideutigen Titel Der Aufbruch der Freiheit zur Gemeinschaft erschienen und ist so zwar der Zensur entgangen, aber der Aufmerksamkeit der einschlägig interessierten Leserschaft wohl leider auch. Im Jahr der Neuauflage war dann Fichte noch nicht wieder aktuell, aber der Existenzialismus schon wieder passé. 
***) Ja ja, Kroner hatte von 'von-bis' geschrieben; aber geflügelt wurde das Wort mit von-zu.
25. 4. 14
 
 
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Freitag, 24. November 2023

Die ästhetische Ansicht ist der Angelpunkt.

jpletarte                        aus Wissenschftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Ich mache mich deutlicher. Auf dem transzendentalen / Gesichtspunkt wird die Welt ge-macht, auf dem gemeinen ist sie gegeben: auf dem ästhetischen ist sie gegeben, aber nur nach der Ansicht, wie sie gemacht ist. Die Welt, die wirkliche Welt, die Natur, denn nur von ihr rede ich, - hat zwei Seiten: sie ist [1.] Produkt unserer Beschränkung; sie ist [2.] Produkt unseres freien, es versteht sich, idealen Handelns (nicht etwa unserer reellen Wirksamkeit). In der ersten Ansicht ist sie selbst allenthalben beschränkt, in der letzten selbst allenthalben frei. Die erste Ansicht ist gemein, die zweite ästhetisch. ... 

Wer der ersten Ansicht nachgeht, der sieht nur verzerrte, gepreßte, ängstliche Formen; er sieht die Häßlichkeit; wer der letzten nachgeht, der sieht kräftige Fülle der Natur, er sieht Leben und Aufstreben; er sieht die Schönheit. So bei dem Höchsten. Das Sittengesetz ge-bietet absolut, und drückt alle Naturneigung nieder. Wer es so sieht, verhält sich zu ihm als Sklav. Aber es ist zugleich das Ich selbst; es kommt aus der inneren Tiefe unseres eige-nen Wesens, und wenn wir ihm gehorchen, gehorchen wir nur uns selbst. Wer es so an-sieht, sieht es ästhetisch an. 

Der schöne Geist sieht alles von der schönen Seite; er sieht alles frei und lebendig. ...  Wo ist die Welt des schönen Geistes? Innerlich in der Menschheit, und sonst nirgends. Also: die schöne Kunst führt den Menschen in sich selbst hinein, und macht ihn da einhei-misch. Sie reißt ihn los von der gegebenen Natur, und stellt ihn selbständig und für sich allein hin. ... 

Ästhetischer Sinn ist nicht Tugend: denn das Sittengesetz fordert Selbständigkeit nach Be-griffen, der erstere aber kommt ohne alle Begriffe von selbst. Aber er ist Vorbereitung zur Tugend, er bereitet ihr den Boden, und wenn die Moralität / eintritt, so findet sie die hal-be Arbeit, die Befreiung aus den Banden der Sinnlichkeit, schon vollendet. Ästhetische Bildung hat sonach eine höchst wirksame Beziehung auf die Beförderung des Vernunft-zwecks. 

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J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, SW Bd. IV, S. 353ff.


Nota. - Wir haben eine Welt nur als Vorstellung; aber die haben wir gemacht: Das ist der Standpunkt der philosophischen Reflexion. Fürs bürgerliche Leben dagegen sind Welt und Vorstellung gleichermaßen gegeben. Das ist eine geschäftige, prosaische und enge Welt. Sie ist hässlich. 

Das Sittengesetz gebietet absolut. Aber es lautet in seiner schlichtesten Form: Handle nach eigenem Urteil. Formal drückt es nieder, material lehrt es uns, auf eigenen Füßen zu stehen. "Wenn wir ihm gehorchen, gehorchen wir nur uns selbst." 

Wer vom Standpunkt der philosophischen Reflexion ins wirkliche Leben zurückkehrt, mag die transzendentale Ansicht beigehalten: Sie wird ihm zur ästhetischen. Auf der an-dern Seite bildet die ästhetische Ansicht den Übergang vom gewöhnlichen Standpunkt zum transzendentalen, und ohne ihn wäre die kritische und Transzendentalphilosophie gar nicht möglich geworden.

Ästhetischer Sinn sei nicht Tugend, sagt er des öftern: Das Sittengesetz fordere Selbst-ständigkeit nach Begriffen. Nach Zweck
begriffen, setze man erläuternd hinzu: Nach einem Urteil um/zu, und da das Sittengesetz immer momentan und unmittelbar gebietet, nach einem Urteil ad hoc. Urteile ad hoc sind die ästhetischen Urteile auch. Nach Begrif-fen werden sie nicht gefällt, sondern aus bloßer Anschauung. Doch auch so, als wären sie mir absolut geboten, einen Raum zum Deliberieren habe ich nicht.

Er hätte gut daran getan, das Sittengesetz und den ästhetischen Sinn phänomenal in einem Komplex zusammenzufassen. Sein abtrünniger Schüler Herbart hat diesen Schritt konsquenter Weise getan und das Ethische als Schönheit im Reich der Willensakte dem Ästhetischen als dessen Teilbereich untergeordnet. Ethische Urteile haben streng genom-men ebenso wie ästhetische Urteile keinen Gegenstand; ihr Zweck ist nämlich nicht, die-ses oder jenes so oder anders zu bestimmen. Sondern eine eingetretene Bestimmung mei-nes Zustands zu bestätigen oder zu verwerfen.

Und dies nun macht die gemeinsame Besonderheit des ethischen und ästhetichen Urteils aus: Es geschieht nicht stückweise, 'quantifizierend', synthetisch a posteriori, sondern ganz und auf einmal: synthetisch a priori.  


"Erfassen" ließe sich mein ganzer Zustand nur, soweit er von einem Teilstück zum andern übergehe und sie nach einander verknüpft. "Wenn unser Zustand auf einmal aufgefasst würde, so würde nicht übergegangen, und so würde nichts Ganzes aufgefasst. Was ist nun das Ganze dieses Zustandes? Nach dem soeben Gesagten ist es Synthesis des Wollens und des Seins, Beziehung beider auf einander, welches beide nicht zu trennen ist." Nova methodo, S. 155

Der springende Punkt: Ästhetische wie ethische Urteile werden nicht gefasst, aufgefasst wie das Vernunfturteil nach Deliberation, nicht bestimmt durch 'mein Ich', sondern ange-schaut als ein Zustand, in dem ich bin. Es tritt zwischen Wollen und Sein eine Scheidung gar nicht erst ein. Und wenn ich zu einem Verstandesurteil komme, dann immer erst hin-terher.
27. 8. 18 

Nota II. - Lies weiter >hier.

JE

 

 

Donnerstag, 23. November 2023

Jeder trägt sein Gewissen in sich und hat ein ganz besonderes.

A. Böcklin, Selbstbildnis                zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

2. Um uns selbst zu finden, müssen wir die Aufgabe denken, uns auf eine gewisse Weise zu beschränken. Diese Aufgabe ist für jedes Individuum eine andere, und dadurch eben wird bestimmt, wer dieses Individuum eigentlich sei. Diese Aufgabe erscheint nicht auf einmal, sondern im Fortgange der Erfahrung analytisch jedesmal, inwiefern ein Sittenge-bot an uns ergeht; aber in dieser Aufforderung liegt zugleich, da wir praktische Wesen sind, zu einem bestimmten Handeln Aufforderung. Dies ist für jedes Individuum auf be-sondre Art gültig. Jeder trägt sein Gewissen in sich und hat ein ganz besonderes.  

Aber die Weise, wie das Vernunftgesetz allen gebiete, lässt sich nicht in abstracto auf-stellen. So eine Untersuchung wird von einem hohen Gesichtspunkte aus angestellt, auf welchem die Individualität verschwindetund bloß auf das Allgemeine gesehen wird. Sit-tenlehre [ist] WissenschaftsLehre des Praktischen, die insbesondere Ethik wird; d. h. das praktische Handeln überhaupt, das Handeln kommt aber durch die Grundlage [der ge-samten Wissenschaftslehre] immerfort vor, indem auf [unleserlich; ich rate: 'Freiheit'] der ganze Mechanismus gründet, daher kann die besondre Wissenschaftlehre des Praktischen nur sein eine Ethik.

Diese lehrt, wie die Welt durch vernünftige Wesen gemacht werden soll, ihr Resultat ist Ideal, in wiefern dies Resultat sein kann, da es nicht begriffen werden kann. ____________________________________________
J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, S. 241f. 


Nota. - 'Wie die Welt durch vernünftige Wesen gemacht werden soll' - das bezieht sich ja nun wohl auf den Raum, in dem die 'Reihe vernünftiger Wesen' einander begegnen; auf unsere Welt, wie ich das nenne. Auf meine Welt, in der ich mit meinem 'ganz besonderen' Gewissen allein bin und wo ich Anderen nichts schulde, bezieht es sich offenkundig nicht. Vernunft gehört in den Bereich des Politischen, Moralität im eigentlichen Sinn gehört ins Reich des Privaten.

Mit einander in Konflikt geraten können sie da, wo ich auch im öffentlichen politischen Bereich persönlich, 'existenziell' gefordert bin, weil beiden Sphären sich ausnahmsweise überschneiden; dann rangiert auch im Politischen die 'Gesinnungsethik' über der 'Verant-wortungsethik'.

Dass Fichte beide Bereiche vermengt, lässt sich verstehen, da er noch ganz am Anfang bürgerlich vernünftiger Verhältnisse stand, da gab es noch wenig anschauliches Material. Aber ein systematischer Fehler ist es auch dann noch. Dass der Freiheitsherold Fichte vom preußischen Hofphilosophen Hegel als Progagandist eines Polizeistaats hingestellt werden konnte, war zwar gehässig, aber so unverdient nicht. Öffentliches und Privates, Politisch-Rechtliches und Moralischen gehören zu verschiedenen Welten, wo sie vermengt werden, ist von reeller Freiheit nicht mehr die Rede. Vernunft, die totalitär wird, hört auf, eine zu sein.
19. 5. 16

Nota II. - Obige Stelle stammt aus dem Vortrag Einteilung der Wissenschaftslehre, mit dem Fichte Anfang 1799 die Wisssenschaftslehre nova methodo abgeschlossen hat, und ist also jünger als das System der Sittenlehre, das bereits zu Ostern 1798 im Druck er-schienen war. Man wird sie daher als eine Richtigstellung lesen müssen.
JE, 28. 7. 21

Mittwoch, 22. November 2023

Reflexion ist Beweg-Grund.

Benjamin Wiens  / pixelio.de                                                        aus Philosophierungen

Reflexion kommt nicht 'nach' der Anschauung, sondern geschieht mit ihr uno actu. Sie ist sozusagen deren innere Spannung: Sie ist Absicht; ist Aufmerken; ist Absehen auf...

Intentionalität, sagt Husserl: eine primäre Erwartungshaltung. Was wird erwartet? Eine Bedeutung in den Erscheinungen; dasjenige, was die Erscheinung zum möglichen Gegen-stand einer Tat macht.

Reflexion ist die Kraft des Anschauens;
das, was in der Wissenschaftslehre 'Trieb' hieß.
5. 5. 2009
 

Nachtrag. 'Angeschaut' werden die Meldungen der Sinnesorgane: Gefühle; sie werden zu einem Bild zusammengefasst, das ihnen eine Bedeutung beilegt. Das Anschauen ist der primäre Bestimmungs-Akt  - der Beginn des Reflektierens. 

Das Bilden der Gefühle zu einer Anschauung von Etwas nennt Fichte 'reale' Tätigkeit; die Reflexion darauf heißt die 'ideale'. 
7. 12. 21





Dienstag, 21. November 2023

Der hermeneutische Zirkel.

Einbildung                                                      aus Philosophierungen

Sein ganzes wissenschaftliches Instrumentarium – das Denkzeug ebenso wie seine Labor-einrichtung – ist auf  'ursächlich wirkende' Res extensa ausgelegt. Was anderes bleibt gar nicht darin hängen. 

VersuchsanordnungWer ein Sieb zum Schöpfen nimmt, wird finden, dass Wasser eine bloße Einbildung unserer Vorfahren war.
5. 5. 16








 
Nota - Obige Bilder gehören mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog. JE

Dynamische Darstellung, statische Kritik, I.

spandau-arcaden                                             aus Philosophierungen Die genetische Darstellung unterscheidet sich von de...