Mittwoch, 8. Mai 2024

Geist ist Deutung des Gefühls.

                                                   aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Was es auch sein möge, das den letzten Grund einer Vorstellung enthält, so ist wenigstens so viel klar, dass es nicht selbst eine Vorstellung sei und dass eine Umwandlung damit vor-gehen müsste, ehe es fähig ist, in unserm Bewusstsein als Stoff einer Vorstellung angetrof-fen zu werden.  

Das Vermögen dieser Umwandlung ist die Einbildungskraft. – Sie ist Bildnerin. Ich rede nicht von ihr, insofern sie ehemals gehabte Vorstellungen wieder hervorruft, verbindet, ordnet, sondern indem sie überhaupt etwas erst zu einer Vorstellung macht. – Sie ist inso-fern Schöpferin des eigenen Bewußtseins. Ihrer, in dieser Funk/tion , ist man sich nicht bewußt, gerade weil vor dieser Funktion vorher gar kein Bewusstsein ist. Die schaffende Einbildungskraft. Sie ist Geist.

Resultat. Dieses Bild müssen wir selbst bilden.


Nun muss im Ich das liegen, was sie bildet. 

(Wo ist der eigentliche philosophische Beweis dafür, dass die Einbildungskraft etwas im Ich zum Gegenstande haben müsse? - - Sie ist tätig - aber nicht auf das Ich, sondern auf ein Nicht-Ich. - Das Ich ist schon, wenigstens virtualiter, hevorgebracht, denn sowie sie ihr Produkt vorhält, hält sie es dem Ich vor. Das Ich wird aber nur durch Unterscheidung von einem Nicht-Ich hervorgebracht. Mithin muss ein solches zu Unterscheidendes vorhanden sein: und zwar im Ich vorhanden sein. - 

Wie und warum im Ich? - Es kann nur durch ein Vermögen des Ich vom Ich unterschieden werden; mithin muss es Gegenstand dieses unterscheidenden Vermögens sein - also schon in diesem Vermögen liegen. - Eine Qualität, eine prädikative, des Ich. 

Die (schaffende) Einbildungskraft selbst ist Vermögen des Ich. (Könnte sie nicht das ein-zige Grundvermögen des Ich sein? - Nein, darum nicht, weil das Produkt derselben vom Ich unterschieden wird: also auch nach ihrer Funktion noch ein Ich da ist.) Also es muss einen höhern Grund ihres Schaffens im Ich geben. - (Heißt im Grund das gleiche als: Es muss nocht etwas übrig bleiben, was Substrat des Ich ist, auf welches das Produkt der Ein-bildungskraft bezogen wird, und das ist offenbar das Fühlende, und im Gefühl liegt mithin der Urstoff des [sic], was die Einbildungskraft bildet. ... ____________________________________________________________________
J. G. Fichte, in Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971 [Meiner], S. 126f.; desgl. in Gesamtausgabe II/3, S. 297f.  

 
Nota I. - Geist ist toto genere Einbildungskraft. Aber das Ich ist nicht Geist (vom empiri-schen Individuum ganz zu schweigen). Wenn die Einbildungskraft nicht etwas vorfindet, das sie dem Ich ein/bilden kann, ist sie arbeitslos. Nicht das, was sie vorfindet, [wurde von der Einbildungskraft gebildet], sondern das, was sie vorgefunden hat: was es ist, das es bedeutet


Vorgefunden hat sie das krude Sinnesdatum: Gefühl. Das ist der Stoff, an dem die Einbil-dungskraft arbeitet. Er ist, auch ohne Einbildungskraft; er ist lediglich nicht dieses oder je-nes.

*

So apodiktisch wie an dieser Stelle hat es Fichte meines Wissens nie wieder ausgesprochen. Natürlich: Denn es ist ein Ergebnis des Systems, das er doch erst noch auszuarbeiten hatte. Und wenn er es auch je fertig ausgearbeitet hätte: Eine "feste Terminologie" ist der Wissen-schaftslehre fremd, weil sie nicht erlernt, sondern nur selbst-gedacht werden kann. Für di-daktische Zusammenfassungen dieser Art gibt es gar keine Berechtigung.

Daher kommt die hier wiedergebene Stelle auch nirgends in seinen Veröffentlichungen, aber auch - nicht in seinen mündlichen Vorträgen vor! Sie stammt vielmehr aus seinen eig-nen Aufzeichnungen, die er zur Vorbereitung seiner öffentlichen Vorträge Über Geist und Buchstaben in der Philosophie angefertigt hat, die an die Pflichten der Gelehrten anschlos-sen. Diese Vorträge selbst sind nicht überliefert, wohl aber eine spätere Ausarbeitung für Schillers Zeitschrift Horen, die auf ihre Art selber Geistesgeschichte gemacht hat. 

Dass er sie in dieser Form nie wiederholt hat, hat seinen guten philosophische Grund. Wer aber - wie ich - historisch deutlich machen will, was Fichte wirklich gemeint hat, darf sie in der Darstellung ganz nach vorn setzen
.
21. 8. 17

 
Nota II. - Eigentlich ist das Gefühl die Grenze zwische Ich und Nichtich, zwischen Subjekt und Objekt. Es gehört schon dem Ich an - aber verursacht doch durch das Nichtich. Aller-dings nicht vom Nichtich aus eigner Absicht, sondern durch den Widerstand, den es der tätigen Absicht des Ich entgegengesetzt hat. Es ist die ursprüngliche Realität, aber ist doch bloß Vermittlung. Es ist die ursprüngliche Realität meiner Vorstellung. Vermittlung ist es für den kritischen Philosophen.
JE, 19. 4. 19
 
 
 
Nota. Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. 

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