Donnerstag, 31. August 2023

Das Mysterium des Anfangs, II.

                                                           aus Philosophierungen

Wenn ich jetzt (zum Beispiel) völlig frei und ohne den nothwendig bestimmenden Einfluß der Naturur-sachen von meinem Stuhle aufstehe, so fängt in dieser Begebenheit sammt deren natürlichen Folgen ins Unendliche eine neue Reihe schlechthin an, obgleich der Zeit nach diese Begebenheit nur die Fortsetzung einer vorhergehenden Reihe ist.

Denn diese Entschließung und That liegt gar nicht in der Abfolge bloßer Naturwirkungen und ist nicht eine bloße Fortsetzung derselben; sondern die bestimmenden Naturursa-chen hören oberhalb derselben in Ansehung dieses Eräugnisses ganz auf, das zwar auf jene folgt, aber daraus nicht erfolgt und daher zwar nicht der Zeit nach, aber doch in An-sehung der Causalität ein schlechthin erster Anfang einer Reihe von Erscheinungen ge-nannt werden muß.
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Kant, Kritik der reinen VernunftB 478 Akademie-Ausgabe: Die Antinomien der reinen Vernunft: Anmerkung zur dritten Antinomie, S. 312

 
Nota. – Nun wird zu Recht eingewandt: Ab er dass du aus deinen Entschlüssen die 'Na-turwirkungen' überhaupt ausschließen kannst, wird ja gerade bestritten! Was du für deinen freien Willen hältst, ist nichts als die Summe von Eindrücken, die von außen auf dein Ge-müt wirken. – Geht es um eine Frage der Psychologie? Die hat ihre eigenen Verfahren und ihre eigenen Maßstäbe. Philosophisch ist entscheidend: Die äußeren Eindrücke wir-ken nicht unmittelbar bestimmend auf die Handlung, sondern verwandeln sich zuerst in Motive. Der Philosoph sagt: Das Motiv muss ich zuerst zu meinem machen, ehe es mein Handeln bestimmen kann; aber das kann ich ja unterlassen! Kommt sogleich der Einwand: Das ist ein schlechter Zirkel! Mit dem Ich begründest du die Freiheit der Wahl, aber die Freiheit der Wahl brauchst du, um einen Begriff vom Ich überhaupt erst zu be-gründen.

So steht es immer ex aequo; hängt, welche Philosophie man wähle, wirklich davon ab, was man für ein Mensch ist?

Was haben wir für ein Glück, dass an dieser Stelle ganz wider ihre Gewohnheit die experi-mentelle Seelenkunde der Philosophie unter die Arme greift: Im Gehirn entsteht zwi-schen dem Moment, in dem sich das sog. Bereitschaftspotenzial gebildet hat  das wo-möglich restlos durch äußere Eindrücke geprägt war –, und dem Moment, in dem die Entscheidung wirklich fällt, eine Pause von rund einer Fünftelsekunde: Es ist die Zeit, in der das Gehirn zögert und verschiedene Möglichkeiten erwägt. Solange könnte es zu den Anmutungen des 'Bereitschaftspotenzials' nein sagen – und nochmal von vorn anfangen. Und wenn es nichts anderes gäbe – diese Fünftelsekunde ist der empirische Beweis, dass es eine Freiheit der Willensentscheidung gibt. Eine ganz andere Frage ist, ob ein jeder da-von Gebrauch machen will.
JE, 6. 11. 21



Montag, 28. August 2023

Sein ist Bestimmtheit.

                                 aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik
                         
Dieses Etwas ist als ein wirkliches Handeln nicht gesetzt, was also davon dem Ich ange-hört, ist nicht zu erklären aus einem wirklichen Selbstaffizieren. Das Ich wird hier nur ge-setzt als ein Vermögen des Handelns in diesem Mannigfaltigen. Nun aber kommt dieses Vermögen hier nicht vor als ein bloßes Vermögen, als eine Mögliches im Denken, son-dern als ein Anschauliches, welchem insofern der Charakter des Seins zukommt.

Der Charakter des Seins ist Bestimmtheit, folglich müsste hier liegen ursprüngliche Be-stimmtheit zum Handeln überhaupt. -

Das Ich, sobald es gesetzt ist, ist nicht frei zu handeln überhaupt, sondern nur, ob es dies oder jenes handeln will; wir bekommen hier ein notwendiges Handeln. Das Wesen des Ich ist Tätigkeit, folglich wäre hier ein Sein der Tätigkeit. Das den Begriff von seinem Willen entwerfende Ich ist gebunden, aber die Gebundenheit deutet auf ein eigentliches Sein. Das Bindende und insofern Setzende ist dem Ich angehörig, aber das Ich ist hier prak-tisch (Tätigkeit), sonach ist hier ein Sein der Tätigkeit. Beide sich widersprechende
Be-griffe sind hier vereinigt (nämlich Sein und Tätigkeit), und diese Vereinigung wird hier betrachtet als ein Gefundenes.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, S. 66



Nota. - Sein ist Bestimmtheit. (Tätigkeit ist Bestimmen.) Das 'Sein' der Tätigkeit ist Be-timmtheit zur Täigkeit. Das Vermögen des Handelns ist zum Handeln bestimmt. Und wie immer: Das 'ist' nicht so, aber wird so vorgestellt.
 27. 8. 16

Nota II. -
 Vom Standpunkt der kritischen, 'transzendentalen' Philosophie ist Sein durch-aus nicht, wie in den rationalistischen Metaphysiken, das Summum verum: das Erschaf-fene. Als Reales ist es dinglich: "liegende, tote Materie". Es ist nicht das Wirkliche: Wirk-lich ist nicht einmal 'das Wirkende', das ist bereits eine Abstraktion; sondern das Wirken selber im Moment seines Geschehens. Wirken ist aber das Übergehen aus der Unbe-stimmtheit in die Bestimmtheit; ist Bestimmen. Das 'Sein des Bestimmens' ist ein nou-menales Paradox und hat einen unübersehbar polemischen Charakter.
JE, 7. 11. 21



Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

Sonntag, 27. August 2023

Nur ein Wollender kann vorstellen.

                       zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Wollen und Vorstellen stehen sonach in steter notwendiger Wechselwirkung, und keines von beiden ist möglich, ohne dass das zweite zugleich sei. 

Dass jedes Wollen durch ein Vorstellen bedingt sei, wird man ohne Mühe zugeben und ist seit langem zugegeben: Ich muss dasjenige vorstellen, was ich will. Umgekehrt dürfte die Behauptung, dass jedes Vorstellen durch ein Wollen bedingt sei, Schwierigkeit gefunden haben. Aber ein Vorstellen kann nicht sein und kann nicht mit Bewusstsein gesetzt wer-den, ohne dass das Vorstellende gesetzt werde. Dies aber ist nicht ac/cidenter, inwiefern es jetzo vorstellt, sondern substantialiter, inwiefern es überhaupt ist und etwas ist, ent-weder ein wirklich Wollendes, oder doch ein durch seine Willensfähigkeit Gesetztes und Charakterisiertes. -

Die blosse Intelligenz macht kein vernünftiges Wesen, denn sie ist allein nicht möglich; noch macht das bloße praktische Vermögen eins, weil es gleichfalls allein nicht möglich ist, sondern beide vereinigt vollenden erst dasselbe und machen es zu einem Ganzen. 

Durch diese Wechselwirkung zwischen Anschauen und Wollen des Ich wird erst das Ich selbst und alles, was für das Ich (für die Vernunft) ist, d. h. alles, was überhaupt ist, mög-lich.
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J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S. 21f.
  



Nota I. - Nicht das Vorstellen selbst sei durch Wollen bedingt, sondern der Vorstellende ist als ein solcher dadurch bedingt, dass er ein Wollender ist. Von hinten durch die Brust ins Auge, aber das ist dasselbe in Grün. 

Es wären bei dieser Gelegenheit ein paar Worte am Platz gewesen über die ansonsten in den Texten allenthalben bloß "schwebende" Einbildungskraft - ohne die nämlich weder das eine noch das andere möglich wären. Man wird sie wohl als das Vermögen schlecht-hin auffassen müssen.

12. 1. 19 

Nota II. - ...als das Vermögen des Vermögens.
JE





Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. 

Samstag, 26. August 2023

Transzendentalphilosophie und Realwissenschaft.

 Sott.net                         zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Die Transzendentalphilosophie verhält sich zu den realen Wissenschaften, in specie den Zweigen der Anthropologie, wie die zweite semantische Ebene zur ersten semantischen Ebene; wie Metarede zu Objektrede.

Mit andern Worten, was in der Transzendentalphilosophie als Sinnschema behauptet wird, muss sich in den Wissenschaften als Fakten wiederfinden. Es verhält sich zum wirklichen Wissen nicht begründend, sondern kritisch und regulativ.
17. 1. 20




Freitag, 25. August 2023

Geschmack und Vollkommenheit.

 sunnje, pixelio.de                                                               aus Geschmackssachen

Vollkommen ist ein Ding, das so ist, wie es sein soll.

- Das ist gar keine Definition. Es ist eine zirkuläre Umschreibung. Vollkommenheit ist kein Begriff, sondern eine Idee. Eine Idee ist nur als eine Aufgabe zu veranschaulichen, als Problem - als eine Suche.

Zu suchen ist: jene Qualität, die es ausmacht, dass etwas 'so ist, wie es sein soll'. - Das ist das Materiale.

Oder nicht eher: Wer oder was bestimmt, ob etwas so ist, wie es sein soll, oder anders: mit welchem Recht? - Das ist das Formale.

Zu letzterem: Es ist der Geschmack, der bestimmt, und zwar aus eigener Vollmacht.

Zum ersteren: Das hängt an den Erfordernissen der Zeit. Wenn und wo das Leben durch Zerrissenheit, Unübersichtlichkeit, Unsicherheit geprägt ist, wird man Vollkommenheit auf dem Weg zu Ausgleich, Harmonie und Frieden suchen. Wo aber die "Plattharmoni-schen" herrschen, wie Friedrich Schlegel sie nannte; wo alles ausgeglichen wird, wo nichts aus der Reihe fällt, wo alles korrekt hergeht - da wird man Vollkommenheit auf den We-gen von Ruhestörung und von Ungewissheit suchen; nicht ohne die Einstweiligkeit des eignen Urteils immerhin zu ahnen.

Nehmen wir die materiale mit der formalen Seite zusammen, dann ergibt sich: Ob es zu viel Ordnung gibt oder zu viel Unordnung, ist Geschmackssache; aber die Geschmäcker sind verschieden.

31. 12. 2013



Donnerstag, 24. August 2023

Ein erster, letzter Grund; oder Der schöne Schein des Wahren.


Helixnebel alias God's eye     aus Die Wendeltreppe
Nichts trügt weniger als der Schein.
Max Liebermann

Ursprung und Angelpunkt des abendländischen Denkens war die Frage nach dem Wah-ren. In der Sinnenwelt ist alles Trug. Sie scheint mal so, mal so, je nach Standort. Alles, was wird, wird vergehen. Wahr ist, was währt, das ewige Sein; doch es liegt unterm Wer-den verhüllt. Nur dem Denken ist es kenntlich, „denn dasselbe ist Denken und Sein“, sagt Parmenides. Die Frage nach dem wahren Sein ist die Frage, wonach sich mein Leben in der Mannigfaltigkeit trügerischer Erscheinungen richten soll. 

Man erkennt es beim Vergleich mit Heraklit, gegen den Parmenides angetreten war: Nicht zweimal könne man in einen Fluss steigen; der Fluss sei ein anderer geworden und der Mensch auch. Hinter dem Werden ist Nichts, wahr ist der Schein: Das möchte man einen heroischen Nihilismus nennen; ein aristokratisches Leben auf eigne Faust, das sich nicht jeder leisten kann. Die Vermutung, daß der Sinn der Welt zwar verborgen, aber jedenfalls in ihr liegt, macht dagegen auch kleinen Leuten Mut. Nicht anders konnte die Arbeitsge-sellschaft siegen, nicht anders konnte Europa die Welt erobern. Die Erkenntnis, dass nach dem Sinn gefragt werden muss, war die Geburtsstunde des Abendlands.

Der ebenbürtige Zeitgenosse von Heraklit und Parmenides war Sophokles – der als erster die Schuld der Menschen zum Thema gemacht hat; nämlich dass sie ihre Wege selber wählen. Es wurde zum Thema der westlichen Kultur. Man mag auch meinen, es sei die Conditio humana selbst. Nur wurde sie nicht überall ihrer bewusst. 

Das Wahre, das Ansich-Seiende, das Absolute; Wert, Bedeutung, Geltung, Sinn – das alles sind verschiedene Worte für ein Problem. Nämlich dies, dass der Mensch sich nicht mit dem Leben begnügen kann, son-dern immer sein Leben führen muss. Führen wo hin, wo lang? Er muss sich orientieren. Das, woran er sich orientiert hat, um dessentwillen er ge-lebt hat, nennt er, rückblickend, ’das Wahre’, ‘das Absolute’, den ‘Sinn’. Das Erkennen ist zirkulär. 

Warum? Es kommt a posteriori. Denn gesetzt wird der Sinn immer ‘in actu’, hier und jetzt, an jedem Wegkreuz neu. Dem (nachträglichen) Erkennen erscheint es darum als a priori. ‘Das Wahre’, ‘das Absolute’, der ‘Sinn’ ist – reell wie ideell – eben keine Sache, son-dern ein Problem. Es ist aber keins, worauf die Menschen ebenso gut verzichten könnten. Sie waren tätig, bevor sie erkennend wurden. Aber sie müssen erkennend sein, um selbst-tätig zu werden.
 

Nur weil der Mensch ein Leben führt, dessen Sinn weit über seine bloße Erhaltung hinaus reicht (wenn er es will), hat er das Problem der Freiheit. Ob er es will, ist damit noch nicht entschieden. Wenn einer sagt: Die Befriedigung meiner Bedürfnisse ist mir genug – wie kann ich ihm widersprechen? Es gibt noch viele, die sich mehr gar nicht leisten können. 

Aber eine Kultur, wo verknappter Luxus schon wie Not erscheint, lebt im Überfluss. Die-ses ist eine Sinnbehauptung: Es sollte 
eine Welt des Reichtums entstehen, damit Men-schen in die Lage kommen, ihre Freiheit bestimmen zu können. Nur darum gibt es die Frage nach der Wahrheit. Aber die ist ein Paradox.

Was ich tun soll, ist eine Frage von Bedeutungen. Ist Sache eines Urteils. Und dafür brauche ich Gründe, die gelten. Deren Geltung muss ihrerseits begründet sein, und so fort. Machen wir’s kurz: Wenn überhaupt etwas gelten soll, muss es irgendwo einen Grund geben, der schlechterdings gilt und in letzter Instanz, ohne alle Bedingung – die Bedingungen von Ort und Zeit zumal. In der Welt, die ‘der Fall ist’, wird man ihn nicht antreffen. Er ist “nicht von dieser Welt“, ich muss ihn mir hinzu denken. 

FlaschenzugDass der menschliche Geist “notwendig etwas Absolutes außer sich setzen muss und dennoch von der andern Seite anerkennen muss, dass dasselbe für ihn da sei, ist derjenige Zirkel, den er ins Unendliche er-weitern, aus welchem er aber nicht heraustreten kann. Es ist nur da, inwiefern man es nicht hat, und entflieht, sobald man es auffassen will”, schrieb Johann Gottlieb Fichte. Es “kann nur eine Idee sein; ein bloßer Gedanke in uns, von welchem gar nicht vorgegeben wird, dass ihm in der wirklichen Welt außer uns etwas entspreche. Ideen können unmittelbar nicht gedacht werden. Sie sind Aufgaben eines Denkens, und nur, inwiefern wenigstens die Aufgabe begriffen werden kann, kommen sie in unserm Bewusstsein vor.“ Eine Aufgabe nannten die Griechen ein Problem. Aber dieses Problem ist so gestellt, dass es schlechterdings nicht lösbar ist: Die Freiheit soll sich ihren Bestimmungsgrund außer sich suchen! Es ist ein Paradox. 

Das ist nicht bloß eine Idee. Das ist eine ästhetische Idee. Es ist, recht besehen, die ästhetische Idee schlechthin, die in alle tatsächlich vorkommenden Bestimmungen nach Ort und Zeit vorgängig hineingreift, die all die Qualitäten vereint, die ich an den Dingen “wertnehme”, bevor ich sie wahrnehme, und von der ich erst durch eine besondere Anstrengung des reflektierenden Verstandes wieder abstrahieren kann. 

Es “ist” nicht so. Aber so muss ich es mir vorstellen, wenn ich mir überhaupt Etwas vorstellen will. Das Wissen kann seinen eignen Grund nicht erkennen. Es muss ihn sich ein-bilden. Der höchste Akt der Vernunft sei ein ästhetischer, hieß es im ‘Ältesten Sys-temprogramm des deutschen Idealismus’. Ob er wirklich stattgefunden hat, ist nicht entscheidend. Es scheint uns so, als ob er stattgefunden hätte. Er ist so wahr wie ein Mythos sein kann. Will sagen, er muss sich bewähren.

Bewähren in Sonderheit in meinem täglichen Tun und Lassen – als Sittlichkeit. “Die Ethik ist transzendental“, schrieb Ludwig Wittgenstein, um gleich hinzu zu fügen: “Ethik und Ästhetik sind eins.” Und es sei klar, dass sie sich als solche “nicht aussprechen” lassen.

In den Wörtern unserer Welt lassen sie sich nicht aussprechen. Denn sie gehören zu mei-ner Welt. Den andern kann ich sie allenfalls zeigen 
– in den Bildern der Kunst. In Wör-tern lässt sich das Problem immer nur so formulieren: Der Sinn des Lebens ist, dass du nach ihm fragst. Eben ein heroischer Nihilismus oder, wenn man will, “Artisten-Metaphy-sik”. Auf jeden Fall ist es eine romantische Anschauung der Welt, und eine fröhliche.




Mittwoch, 23. August 2023

Jedem seine eigne Ethik?

 J. Callot                                                                             zu Philosophierungen  

... "Ein Erster Grund, den sich jeder selber setzt?! Das hieße der Beliebigkeit Tür und Tor öffnen!" 

Wie bitte? Wenn sich einer ‚seinen’ Grund als ein Absolutes setzt – wird es dadurch zu einem Relativen? Muß ich Eines, um es als mein Absolutes setzen zu dürfen, zugleich als das Absolute der Andern erkennen können? Weil Eines, um mir absolut gelten zu kön-nen, von Andern als absolut anerkannt worden sein muß? Ich dürfte also immer nur das Absolute der Andern anerkennen!

Für das Ästhetische behauptet das keiner. Vom Sittlichen denken das Alle. Warum? Weil sie meinen, der Zusammenhalt des Gemeinwesens hinge davon ab. Sie verwechseln es mit dem Recht. Das freiheitlich-demokratische Gemeinwesen beruht – nicht in der Wirklich-keit, aber wir sehen es so an, als ob: Das macht seinen Sinn aus! – auf dem freien Vertrag autonomer Subjekte. Ein Absolutes, worüber sich zwei verständigen konnten, wird ipso facto ein Relatives: So ‘rum wird ein Schuh draus. Das Absolute ist weder konsensfähig noch konsensbedürftig.

Die Sittlichkeit sagt, was ich mir selber schulde, das Recht sagt, was ich andern schulde. Dieses ist meine Pflicht, jenes sind die Ansprüche der andern gegen mich. Über jene müssen – und können – wir uns verständigen, über diese nicht. Mein erster, letzter, ab-soluter Grund muß sich, als rechtes Handeln, in meinem Leben bewähren. Ich muß mich dann „in der Welt“ bewähren – per Verhandlung und Vertrag, wenn’s sein soll. Das ergäbe einen Nachtwächterstaat ohne Pathos und Würde? Sein Pathos und seine Würde ist, daß er die Freiheit einer jeden Person, sich zu ihrer eignen Pflicht zu bestimmen, zu seinem Rechtsgrund macht. Ist das wem zu wenig, soll er’s sagen.

Ach, Leviathans Kinderfänger, die Pädagogen! „Die Menschen brauchen Orientierung!“ Nein, gerade das brauchen sie nicht. Es muß sich ein jeder selber orientieren. „Die Auf-forderung zur freien Selbsttätigkeit ist das, was man Erziehung nennt.“[1]

Sie aber meinen in Wahrheit: Die Menschen sollen sich von ihnen orientieren lassen – ausgerechnet! Gottlob meinen sie’s nicht ernst. Ein Absolutes käme ihnen, Zeitgeist be-hüte, gar nicht in den Sinn. Werte – ein „verbindlicher Werteunterricht“ tut’s auch.

Daß sie das Absolute zu Häppchen farcieren, macht die Sache zwar nicht besser, denn irgendwas, irgendwer (?) müßte deren Geltung doch verbürgen können. Ein „bißchen Wahrheit“ gibt’s so wenig wie ein bißchen... Unschuld. Doch ich hab eine Ahnung: Any-thing goes! Wahr ist, was funktioniert. Um den Ruf unserer Schulen ist es nicht gut be-stellt. Daß sie junge Menschen bilden, glaubt kaum einer. Nun ein neuer Schibboleth, ein weiteres Gadget, noch ein Bindestrich: Werte-Pädagogik! Man kann einen Ausbil-dungsgang dafür einrichten, mit C4-Professur. Wenn’s funktioniert…

Denen, die an der Existenz Gottes zweifeln, hat der Mathematiker Blaise Pascal eine Wet-te vorgeschlagen: Sie sollten nur immer so leben, als ob es Gott gibt. [2] Denn dabei müß-ten sie in jedem Fall gewinnen. Wenn es ihn gibt, sowieso. Und wenn nicht, dann wären sie immerhin anständig durchs Leben gekommen – und hätten auch gewonnen! Wenn alle so tun, als ob es Gott gäbe, dann ist es so gut, als ob es Gott gibt. „Gott wird, wo alle Kreaturen Gott aussprechen“, predigte Meister Eckhart.[3]

Das Göttliche werde „konstruiert durch das Rechttun. Jene lebendige und wirkende mo-ralische Ordnung ist selbst Gott. Wir bedürfen keines anderen Gottes und können keinen anderen fassen“, erläuterte Fichte.[4]

 „Ich glaube nicht, daß Gott da war, sondern daß er erst kommt. Aber nur, wenn man ihm den Weg kürzer macht als bisher“, ergänzte ein Dichter des 20. Jahrhunderts.[5]

Mal angenommen, ein besonderes Fach namens Pädagogik solle es wirklich geben. Was wäre dann der Zweck, durch den es sich rechtfertigt? ‚Den Weg kürzer machen’ ohne Zweifel. Wie? Indem sie Kinder verlockt, auf den Sinn zu wetten. 

Durch so viel Formen geschritten
durch Ich und Wir und Du.
Doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu.

Das ist eine Kinderfrage.
Es wurde dir spät bewußt:
es gibt nur eines: ertrage
- ob Sinn, ob Sucht, ob Sage -
dein fernbestimmtes: du mußt.

Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere -
was alles erblühte, verblich.
Es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.

G. Benn

Das ist die verzweifelte Alternative. Nicht, daß man sie widerlegen könnte. Ob man aber damit ein Leben anständig führen kann? Sache der Pädagogik wäre, solange dazu noch Zeit ist, dies: die „Kinderfrage“ festzuhalten, auszumalen und immer wieder auszuspre-chen. Der Sinn des Lebens ist, daß du nach ihm fragst. Das ist Wahrheit. Das Leben selber kommt auch ohne aus. Nur hat es dann keine Würde: Dies Problem so zur Dar-stellung bringen, daß es lockt – das ist Kunst, das muß man können.


[1] J. G. Fichte, Sämtliche Werke, Berlin 1971, Bd. III, S. 39
[2] Pascal, Pensées Nr. 233 (éd. Brunschvicg)
[3
] Mr. Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, München 1963, S. 273 (Pr. 26)
[4]
J. G. Fichte, Sämtliche Werke, Berlin 1971, Bd. V, S. 185f.
[5] Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1952, S. 1022


 aus: PÄD Forum, Heft 6/2003


Dienstag, 22. August 2023

Die Sittenlehre ist individuell.

 Emil Wolff                         aus Wissenschftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Um uns selbst zu finden, müssen wir die Aufgabe denken, uns auf eine gewisse Weise zu beschränken. Diese Aufgabe ist für jedes Individuum eine andre, und dadurch eben wird bestimmt, wer dieses Individuum eigentlich ist. Diese Aufgabe erscheint nicht auf einmal, sondern im Fortgange der Erfahrung jedesmal, in wiefern ein Sittengesetz an uns ergeht. Aber in dieser Aufforderung liegt zugleich, da wir praktische Wesen sind, zu einem be-stimmten Handeln Aufforderung.

Dies ist für jedes Individuum auf besondere Weise gültig. Jeder trägt sein Gewissen in sich und hat sein ganz besonderes. Aber die Weise, wie das Vernunftgesetz allen gebiete, lässt sich nicht in abstracto aufstellen. So eine Untersuchung wird von einem hohen Gesichts-punkte aus angestellt, auf welchem die Individualität verschwindet und bloß auf das All-gemeine gesehen wird. Ich muss handeln, mein Gewissen ist mein Gewissen. In sofern ist die Sittenlehre individuell.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 241 



Nota. - In Fichtens Moral sind die richtigsten Ansichten der Moral. Die Moral sagt schlechterdings nichts Bestimmtes – sie ist das Gewissen – eine bloße Richterin ohne Gesetz. Sie gebietet unmittelbar, aber immer einzeln. Sie ist durchaus Entschlossenheit. Richtige Vorstellung vom Gewissen. Gesetze sind der Moral durchaus entgegen. 
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Novalis, Allgemeines Brouillon, 
N°670



Montag, 21. August 2023

Zwei Absoluta?

 bing                                            zu Wissenschftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik 

Hinter mir liegt das Unbestimmte, das ist unendlich. Vor mir liegt das Bestimmbare, auch das ist unendlich. Sind sie unendlich, so sind sie absolut. Kann es zwei Absoluta geben? Dann hätte das Wort keinen Sinn.

Tatsächlich sind es auch nicht zwei, sondern ein und dasselbe. Es sind nur zwei Richtun-gen, aus denen ich in sie blicke. Oder zwei Dimensionen: eine zeitliche und eine logische. Hinter mir liegt, was unbestimmt war, vor mir liegt, was bestimmt werden wird; beides ist unendlich, dazwischen bin ich: der bestimmen-Sollende. Hinter mir liegt, was ich schon bestimmt habe, und das, was zu bestimmen ich unterließ. Was ich, versehentlich oder mit Absicht, nicht bestimmt habe, bleibt weiterhin bestimmbar. Was ich schon bestimmt habe, bleibt ins Unendliche fortbestimmbar. Denn meine Tätigkeit - und die ist, was immer ich tue, Bestimmen - ist unendlich. Sie ist unendlich und absolut und eine. Und zwar sowohl logisch, als auch in der Zeit.


Sonntag, 20. August 2023

Das Kapital muss zum System erst werden.

 Spektrum der Wissenschaft                                                                  aus Marxiana

Es ist zu bedenken, daß die neuen Productivkräfte und Productionsverhältnisse sich nicht aus Nichts entwickeln, noch aus der Luft, noch aus dem Schooß der sich selbst setzen-den Idee; sondern innerhalb und gegensätzlich gegen vorhandne Entwicklung der Pro-duction und überlieferte, traditionelle Eigenthumsverhälnisse. 

Wenn im vollendeten bürgerlichen System, jedes ökonomische Verhältniß das andre in der bürgerlich-ökonomischen Form voraussezt und so jedes Gesezte zugleich Voraussetzung ist, so ist das mit jedem organischen System der Fall. Dieß organische System selbst als Totalität hat seine Voraussetzungen und seine Entwicklung zur Totalität besteht eben [da-rin], alle Elemente der Gesellschaft sich unterzuordnen, oder die ihm noch fehlenden Or-gane aus ihr heraus zu schaffen. Es wird so historisch zur Totalität. Das Werden zu dieser Totalität bildet ein Moment seines Prozesses, seiner Entwicklung. 
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K. Marx, Grundrisse, MEGA II/1.1, S. 201 [MEW 42, S. 203] 


Nota I. - Die bürgerliche Gesellschaft aufzufassen als System, zumal in Analogie zu einem organischen Gebilde, war eigentlich das Ausgangsdogma der Politischen Öko-nomie (Quesnay, Blutkreislauf); eine Mystifikation, die die Kritik eigentlich zu zerstreuen hätte. 

Wir sind hier aber noch in Heft II des Manuskripts, noch ist sich Marx gar nicht im Kla-ren, dass er an einer Kritik arbeitet, er meint noch, die Politische Ökonomie lediglich dar-stellen (und vollenden) zu sollen. Aber er tut schon mehr als das: Dass die bürgerliche Wirtschaftsweise zum System erst werden muss, war eben der Schamteil der Politischen Ökonomie, über den sie nur hinter vorgehaltener Hand ein paar undeutliche Worte raun-te. Das Kapital muss sich die sachliche Voraussetzung, auf der es beruht, selber erst schaffen.

M. ist auch schon nahe am springenden Punkt: Die Stelle steht in dem Abschnitt, wo er das Grundeigentum behandelt und die Notwendigkeit für das Kapital, die Landbevölke-rung von Grund und Boden und ihren natürlichen Arbeitsmitteln zu trennen; es muss also das Grundeigentum zuerst in bürgerliches Grundeigentum verwandeln. Bis er darin aber das Geheimnis der "sogenannten ursprünglichen Akkumulation" erkennt, wird es noch ein paar weitere Manuskripthefte brauchen. 

26. 9. 15 


Nota II. - So dialektisch, widersprüchlich, konvulsivisch und katastrophal die Ausbildung des Kapitals zu einem System in der historischen Wirklichkeit auch vorangegangen ist, so einfach und linear lässt sie sich doch im Begriff darstellen: als progressive Einbeziehung der gesamten materiellen Produktion in den Warenaustausch; alias als Bildung des Wert-gesetzes.
JE
 , 31. 1. 20




Samstag, 19. August 2023

Die pragmatische Wiederherstellung der kritischen Methode.

telegraph                                                                                                    aus Marxiana

Begriffe ohne Anschauung sind leer, hatte Kant den rationalistischen Dogmatikern seiner Zeit, zu denen er eben noch selbst gehört hatte, hinter die Ohren geschrieben. Begriffe werden nicht ergriffen, sondern vom reflektierenden Verstand aus Anschauungen ge-macht. Das sollte als Die Kopernikanische Wende der Philosophie in die Lehrbücher eingehen. Doch Kant war noch keine zehn Jahre tot, da geisterte der Begriff schon wie-der als sich selbst bewegendes Subjekt/Objekt durch die Metaphysik.

Dazwischen lag eine wahrhaftige Konterrevolution im Denken. Der Begriff erhebt sich als Absoluter Geist über alle Realität und verleibt sich selbst noch die Iche ein, die Ge-schichte, die ganze Welt ist nichts als die Parusie des Begriffs, eine zyklische Bewegung, in der er, durch die Endlichkeit hindurch, am Ende doch wieder zu sich zurückkehrt.

In der Gestalt des Hegel'schen Systems kehrte der dogmatische Rationalismus - mit my-stizistischen Strähnchen, das ist wahr - für drei Jahrzehnte zur Herrschaft zurück und vermochte selbst die literarische Erinnerung an die Kritische, die Transzendentalphilo-sophie zu tilgen.

Dem hat das Aufkommen der Hegel'schen Linken im deutschen Vormärz nicht wirklich Abhilfe geschaffen. Die Hegel'sche Schule war im wilden Bacchanal der Kritischen Kri-tik zerfallen, das war alles. An eine Rückkehr zum weiland mutwillig abgerissenen trans-zendentalen Ansatz dachte von den Philosophen keiner.

Nicht als Philosoph hat Marx die Hegel'sche Mystifikation überwunden, sondern als Hi-storiker und Kritiker der Politischen Ökonomie. Sein wissenschaftliches Lebensthema war ihm von Engels in den Umrissen zu einer Kritik der Nationalökonomie vorgegeben wor-den, und lange glaubte er, das lückenhafte Klassische System der Politischen Ökonomie nach Hegels dialektischer Methode vervollständigen zu sollen. Und da fand sich, dass nicht die Begriffe sich bewegen, sondern die wirklichen historischen Subjekte. Unter großen Mühen kam er schließlich dazu, den Begriff auf sein kritisch gebotenes Maß zu-rückzuführen: als kritisches Instrument in der Hand des analysierenden Historikers. Des-sen bestimmte Aufgabe ist gerade, die Stellen ausfindig zu machen, die von den Begrif-fen nicht 'erfasst' werden, und an denen der historische Bericht die Lücke füllen muss: Nicht der Wertbegriff begründet das Kapital, sondern die Vertreibung des Landvolks vom Boden begründet das Wertgesetz.

Marx hat Fichte nicht gelesen, das lässt sich (fast) schlüssig dokumentieren und bei Ge-legenheit werde ich das tun; die Dialektik in ihrer ursprünglichen, kritischen und ratio-nellen Gestalt in Form des Fichte'schen analytisch-synthetischen Verfahrens hat er nicht gekannt. Er hat auch nicht mit metatheoretischen Spekulationen über die richtige Metho-de begonnen, sondern mit der Analyse selbst, und musste die gebotene kritische Wendung auf denkpragmatischem Weg an der Stelle einführen, wo sie unvermeidlich wurde.

Nicht der Begriff 'schlägt um', sondern ein Begreifender wechselt den Gesichtspunkt, das ist das ganze Geheimnis der pp. Dialektik.

*

Ich richte meine Aufmerksamkeit auf den Zustand der Ruhe, in dieser Ruhe wird das, was eigentlich ein Tätiges ist, ein Gesetztes; es bleibt keine Tätigkeit mehr, sondern ein Pro-dukt, aber nicht etwa ein anderes Produkt als die Tätigkeit selbst, kein Stoff, kein Ding, welches vor dem Vorstellen des Ich vorherging; sondern bloß das Handeln wird dadurch, dass es angeschaut wird, fixiert; so etwas heißt ein Begriff, im Gegensatz der Anschauung, welche auf die Tätigkeit als solche geht.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 32f. 


Man nennt die innere Thätigkeit, in ihrer Ruhe aufgefasst, durchgängig den Begriff...Der Begriff ist überall nichts anderes, als die Thätigkeit des Anschauens selbst, nur nicht als Agilität, sondern als Ruhe und Bestimmtheit aufgefasst. ...

Im gemeinen Bewusstseyn kommen nur Begriffe vor, keinesweges Anschauungen als solche; unerachtet der Begriff nur durch die Anschauung, jedoch ohne unser Bewusst-seyn, zu Stande gebracht wird. Zum Bewusstseyn der Anschauung erhebt man sich nur durch Freiheit, wie es soeben in Absicht des Ich geschehen ist; und jede Anschauung mit Bewusstseyn bezieht sich auf einen Begriff, der der Freiheit die Richtung andeutet. Daher kommt es, dass überhaupt, so wie in unserem besonderen Falle, das Object der Anschau-ung / vor der Anschauung vorher daseyn soll. Dieses Objekt ist eben der Begriff. Nach unserer gegenwärtigen Erörterung sieht man, dass dieser nichts anderes sey, als die An-schauung selbst, nur nicht als solche, als Thätigkeit, sondern als Ruhe aufgefasst. 
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ders., Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre,[1797] SW I, S. 533f.


Begreifen heißt, ein Denken an ein anderes anknüpfen, das erstere vermittelst des letzteren denken. Wo eine solche Vermittlung möglich ist, da ist nicht Freiheit, sondern Mecha-nismus. 
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ders., Das System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW IV, S. 182
*

Derlei Reflexionen finden sich bei Marx nicht. Er bleibt eng an seinem Gegenstand, nur nebenher spottet er über das statische Denken der Begriffshuber.* Es geht aber um die Methode, die er an seinem Gegenstand tatsächlich entwickelt, und nicht um das, was er darüber sagt. 


*) s. Randglossen zu A. Wagners "Lehrbuch der politischen Ökonomie", MEW 19, S. 373
 
30. 8. 15 



Freitag, 18. August 2023

Der ideale Durchschnitt als Begriff.

                                                                        aus Marxiana

In der Darstellung der Versachlichung der Produktionsverhältnisse und ihrer Verselbstän-digung gegenüber den Produktionsagenten gehn wir nicht ein auf die Art und Weise, wie die Zusammenhänge durch den Weltmarkt, seine Konjunkturen, die Bewegung der Markt-preise, die Perioden des Kredits, die Cyklen der Industrie und des Handels, die Abwechs-lung der Prosperität und Krise, ihnen als übermächtige, sie willenlos beherrschende Na-turgesetze erscheinen und sich ihnen gegenüber als blinde Nothwendigkeit geltend machen. Deßwegen nicht, weil die wirkliche Bewegung der Konkurrenz außerhalb unsers Plans liegt, und wir nur die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt, darzustellen haben. 
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K. Marx, Das Kapital III, MEGA II.15S. 805 [MEW 25, S. 839]  

Nota. - Alfred Sohn-Rethel (in Geistige und körperliche Arbeithat für den 'Wert' den Be-griff Realabstraktion geprägt; das ist gut, weil es paradox klingt. Allerdings nur dann gut, wenn man sich klarmacht, dass der Begriff für jeden statistischen Durchschnitt gilt: Er er-scheint nirgends, er muss, wenn es überhaupt möglich ist, errechnet werden. Aber er wirkt doch. (Oder besser gesagt: Alles, was wirklich wirkt, 'erscheint' gemeinsam nur als errech-neter Durchschnitt.)
JE 19. 12. 15


Dienstag, 15. August 2023

Wissen ist nicht, sondern geschieht - als Übergehen.

Renate Tröße,                 aus Wissenschftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik     

Das Absolute kann nicht Begriff werden (d. h. es muss zuerst Begriff werden; und "er-scheint" in der Vernichtung des Begriffs) 

Die WL handelt nicht von den Gegenständen des Wissens, sondern vom Wissen selber - abgesehen von den Gegenständen, die in ihm vorkommen.

So wird ihr das Wissen zunächst selber zu einem Gegenstand, "Begriff": das 'Wissen vom Wissen'. Es hat unter der Hand wieder eine Verdoppelung stattgefunden: Wir "haben" er-neut nicht 'das Wissen selbst', sondern ein Bild des Wissens; als einen gewussten Gegen-stand, nicht aber als das Wissen selbst, welches wir doch "einsehen" wollten; aber als ein nicht-objektiviertes; nicht-objektives; sondern als ein 'lebendiges'. Das heißt, wir suchen einen wissbaren Gegenstand, der aber nicht gegenständlich werden darf, weil anders er nicht das Wissen selbst, sondern wieder nur ein Gewusstes sein kann.

Soll also das Wissen selbst gewusst werden, muss es uns zu einem Gegenstand (Bild, Be-griff) werden, was eben das Falsche ist; aber unumgänglich. Das Wissen selbst erscheint erst hinter seinem Bild - nachdem ich mir ein Bild gemacht und das Bild als... Falsches eingesehen und vernichtet habe; erscheint das, 'was' ich im Begriff abgebildet habe, und was "übrigbleibt", wenn ich den Begriff von ihm abziehe; erscheint spezifisch als das Nicht-Begriffene!
aus e. Notizbuch, 7. 6. 92


Nachtrag. - Bei Schelling irgendwo: "Was im Begriff dargestellt ist, ruht." 'Wissen' ruht schlechterdings nicht, sondern ist überhaupt erst, wenn es aktiv ist. Die ästhetische Be-trachtung ruht; darum ist sie auch kein Wissen. Wissen ist Anteil-Nahme. Betrachtung ist gar keine Nahme, sondern - Betrachtung; ganz von draußen.
26. 11. 13 

 
Berichtigung. Gott ja, ich war auch damals schon klug; aber heute bin ich klüger. Der spezifische Gegenstand der Wissenschaftslehre ist nicht das Wissen, sondern die Ver-nunft; wo von Wissen die Rede ist, ist nämlich immer das Wissen der Vernünftigen ge-meint, was banal klingt, weil das Meinen der Unvernünftigen nur Wähnen ist. Die Wis-senschaftslehre behandelt die Frage, welches Meinen als vernünftig gelten und darum Wissen heißen darf. Mit einem Unbestimmten, Absoluten fängt sie allerdings an. Doch zum Begriff - nämlich zu einem sei es nur transitorisch Bestimmten wird es keinen Mo-ment, sondern wird vielmehr als ein sich sponte sua selbst-Bestimmendes nicht begriffen, sondern angeschaut. Es wird ihm dabei zu geschaut, wie es sich selbst bestimmt.

Obiges ist vielmehr eine Spielerei in Hegel'scher Manier: muss zuerst als Begriff gefasst werden, um "in der Vernichtung des Begriffs" zu erscheinen. Das ist rhetorischer Hokus-pokus, bei dem sich nichts denken lässt. Das ist Dialektik als jene Vogelscheuche, die arg-losen jungen Leuten auf Schulungsabenden den Kopf verdrehen sollte.

Summa summarum: 'Das Wissen' wird in der Wissenschaftslehre niemals Begriff oder auch nur Bild; es kommt als solches gar nicht vor. Was vorkommt, ist wissen in der Ver-laufsform; nämlich als Übergehen vom Berstimmbaren zum Bestimmten. Von etwas An-derm handelt sie gar nicht. Bestimmbares und Bestimmtes kommen als termini in ihr zwar vor; doch ihr Thema ist das Übergehen.

JE,
4. 7. 18





Begreifen ist Symbolisieren.

                                                           zu Philosophierungen

Die Einbildungskraft liefert den Stoff der Vorstellung – und die Urteilskraft sagt Ja oder Nein dazu. Allerdings 'gibt es' das Ja nur in Gestalt eines ausgebliebenen Nein. Die Ur-teilskraft ist also "nichts als" die Fähigkeit des Neinsagens. Der Mensch ist das Tier, das nein sagen kann, sagt Max Scheler.

Mein Bild passe nicht zu meinem Text, sagen Sie – das Nein der Waage sei vielmehr ein ausgebliebenes Ja? Das ist eben so ein springender Punkt: Die Verneinung lässt sich nicht anschaulich darstellen, nicht im 'analogen' Modus. Anschaulich ist die Einbildung. Sie ist dem Urteil voraus gesetzt. Das, was in der Einbildung 'gemeint' war, müsste durch eine zweiten, nachträglichen Akt wieder aufgehoben werden – oder ich 'lasse es durch-gehen'. Aber die Frage, ob ja oder nein, lag in jedem Fall dazwischen. Durch sie ist der Stoff meiner Einbildung aus dem Erlebensstrom heraus gehoben und zu diesem (im Un-terschied zu allem andern) bestimmt worden. Ich habe ihn begriffen. Der Modus des Be-greifens ist der 'digitale' - begreifen ist symbolisieren.

 
Die Verneinung lässt sich nur digital darstellen, weil sie erst im Akt des Begreifens mög-lich wurde.
 

Dezember 4, 2010


Das kennen Sie schon? Aber ja doch. Nur wenn ich das, was ich meine - was ich mir vor-stelle und einem andern mitteilen will -, so verpackt habe, dass der es nur auszupacken braucht, um es zu 'erkennen', ist es möglich, dass wir in Austausch treten. In abstracto könnte es sein, dass er und ich uns darauf verständigt haben, dieses oder jenes Zeichen - Kritzelei, Gebärde, Stimmbild - stellvertretend zu nehmen für das, was intendiert* ist. Was intendiert war, müssen wir beide vorab verstanden haben, erst dann können wir uns auf ein Zeichen verständigen, das das Gemeinte e-vozieren, in der Vorstellung des andern 'hervorrufen' kann. (Er hat es schon einmal selber gemeint, und hat es in seinem Ge-dächtnis gespeichert. Von dort muss ich es 'nur noch' hervor rufen.)

Wären wir nur zu zweit, könnten wir uns auf Andeutungen beschränken - eine Mimik, ein Räuspern, ein Handzeichen. Doch als die Menschen oder ihre Vorfahren auf die Notwen-digkeit gegenseitiger Verständigung stießen, waren sie nicht 'zu zweit', sondern in Gesell-schaft, mindestens in GemeinschaftDass sie sich verständigen mussten, war ihnen vor-gegeben, bevor sie sich selber geben konnten und solltenwomit und worauf die sich ver-ständigen wollten. 

Worauf und Womit waren zufällig, sie konnten und mussten sich im Verkehr selbst erge-ben, aber nicht, dass. Das nennen wir heute Digitalisierung: Notwendig ist, wofür das Zei-chen steht; dem Zufall oder der Willkür der Konvention bleibt überlassen, welches Zei-chen.

Kurz und bündig: Symbolisieren ist ohne gesellschaftlichen Verkehr weder möglich noch irgend brauchbar. Und durch den Verkehr sanktionierte Symbole heißen landläufig Be-griffe.

*) Im scholastischen Latein des Mittelalters steht intentio schlicht und einfach für Bedeu-tung.

*

Das ist aber erst der Modus - die Frage, wie begriffen wird: durch Symbolisieren. Doch nicht alles kann man symbolisieren, nicht alles kann man symbolisieren wollen. Symboli-sieren lassen sich lediglich Bedeutungen, sonst nichts. Dinge kann man nicht symbolisie-ren, man hätte auch gar keine Verwendung dafür.*

Das ist der materiale Kern des Begreifens: die Freisetzung, die Identifizierung und die Kenntlichmachung der Bedeutung. Bedeutung ist das, was mich veranlassen kann, an einem X, sei es sinnlich oder nur vorgestellt, eine Handlung vorzunehmen. Was an meiner Handlung Zweck ist, ist am X die Bedeutung. 

Um zu begreifen, muss ich die Vorstellung, die ich mir von einem X mache, unterteilen in Was sie ist und Was sie mir bedeutet: das, was ich mit ihr tun-wollen-könnte. Ich habe zu-vor nicht nur das X von mir, sondern zugleich meine Vorstellung erstens von ihm und zweitens von mir unterschieden. X schaue ich an. Mich schaue ich nur mittelbar, nämlich im Bild des Handelnden anMein Handeln selbst schaue ich aber an, indem ich handle. Und zwar nicht als 'Handeln-überhaupt'sondern als dieses bestimmte, durch seinen Zweck bestimmte Handeln. Der Zweckbegriff, der Begriff, den ich mir von meinem Zweck mache, ist die Keimform allen Begreifens.

An die Vorstellung von allen Zwecken, denen ein X dienen kann, im Gedächtnis mit einem Zeichen versehen, durch welches diese Vorstellung jederzeit re-präsentiert weden kann: Das heißt Symbolisieren.

*) 'Etwas' ist immer Eins: dieses und kein anderes, das für es eintreten könnte. Ein Symbol kann dagegen auf Mehrere 'zutreffen', die es "unter sich fasst" und begreift.

PS. Gr. symbolon kommt von symballein: (zwei) Dinge gleichzeitig werfen.

20. 12. 20


 

 
NotaDas obige Foto gehört mit nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Dynamische Darstellung, statische Kritik, I.

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