Kaum ein Wort wurde so abgegriffen wie kritisch. Es ist in aller Munde und bedeutet un-gefähr dasselbe wie woke, aber es gehört allen und wird daher auch von den Antiwoken ge-braucht. Kritisch kommt von gr. krinein und bedeutet prüfen und beurteilen. Es ist ganz unspezifisch und wird in einem besondern Sinn seit Jahrtausenden wohl nur von den Ärz-ten verwendet, wenn sie den entscheidenden Moment einer Krankheit, in dem sich Leben oder Tod entscheiden, eine Krisis nennen.
Zu außermedizinischen Würden kam es im 17. Jahrhundert durch Pierre Bayles Diction-naire historique et critique, das den neuzeitlichen Skeptizismus begründete und das Wort durch die Pedanterie der 'historisch-kritischen' Textausgaben beschädigte - aber doch nur in den gebildeten Kreisen. Seinen weltweiten Durchbruch zur plattesten Banalität aller Zeiten erlebte es dann durch die Denkrevolution von Kants Drei Kritiken. Das weitgehend unver-ständliche, von Kant selbst gewählte Wort Transzendentalphilosophie wurde sogleich er-setzt durch den geläufigeren Ausdruck Kritische Philosophie - doch in demselben rasanten Tempo, wie die Transzendentalphilosophie nach 1800 in den später so genannten Deut-schen Idealismus untergepflügt wurde, wurde das Adjektiv kritisch flachgedrückt zu seiner dünnsten skeptischen Grundbedeutung von 'ein Haar in aller Suppe suchen und finden'.
Gänzlich seinen spezifisch philosophischen Sinn verloren hat das Wort dann durch die Frankfurter Schule, die ihre besondere Art, über die Lehren konkurrierender Richtungen zu reden, Kritische Theorie nannte und die Vorstellung, die Kritik einmal auf den Punkt zu bringen - wo man dann geradestehen müsste -, gar nicht erst aufkommen ließ.
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Nach zwei Jahrhunderten geht es darum, die Kritische Philosophie wieder herzustellen und zu neuem Leben zu bringen. Kritik muss entflacht werden. Kritik genügt nicht sich selbst. Sie muss auf irgendwas hinauswollen, sonst wäre sie Zeitvertreib: Sie zielt auf einen Punkt, wo es nicht mehr weitergeht. Der ist ihr Sinn und Zweck. Hat sie ihn aufgedeckt, muss sie ganz von unten neu aufbauen. Was immer sie materialiter daraus macht - formaliter würde sie System, indem sie alles, war vorstellbar ist, aus dieser einen einzigen Voraussetzung kon-struiert, in der Alles, was denkbar ist, in einem und demselben Grund zusammenhält.
Just zu dieser Zeit tritt eine philosophische Bewegung auf, die sich die systematische nennt und deren allerletzte Absicht doch ein philosophisches System wäre: Systematisch ist sie ganz und gar nur im Aufspüren von Haaren in der Suppe, Gründe und Zusammenhänge sind ihr überflüssiger philologischer Ballast. Würde sie eines Tages an ihr Ziel gelangen, wäre es ein grenzenloser Ozean von Sinnpartikeln. Ein System wäre ihnen dagegen der ultimative Inbegriff alles Kontinentalen.
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Irgendwie muss ich mich nennen, ehe andere es tun und zu meinem Schaden. Kritisch, jaja, aber in seinem wiederhergestellten philosophischen Sinn, nämlich systematisch.
22. 7. 2023
Kritik heißt Prüfung und Beurteilung. Ihr angezeigtes Verfahren ist analytisch-synthetisch. Synthese ist möglich erst infolge vorausgegangener Analyse, Sinn der Analyse ist die fol-gende Synthese.
Kant hat die Kritik nur bis zur ersten Hälfte* der Analyse geführt: bis zum Apriori von zwölf Kategorien und zwei Anschauungsformen. Eine Synthese hat er zwar immer wieder in Angriff genommen - Opus postumum -, aber immer wieder abgebrochen. Über das A priori hinaus und zurück auf den 'Grund' - das als Wollen identifizierte virtuelle Ich - hat Fichte die Analyse vervollständigt. Das war der Erste Gang der Wissenschaftslehre.
Die
Wissenschaftslehre ist auch eine Wissenschaft. Dem Verfahren von
Prüfung und Berurteilen hat sie sich in processu selber zu unterziehen.
Der Zweite Gang ist die Probe aufs Exempel: Lässt sich aus den von der Analyse freigeleg-ten Elementen die faktisch gegebene Vernunft ihrer Zeit rekonstruieren? Das ist die Synthe-se. Sie führt bis zu dem Punkt, wo die Wissenschaftslehre die wirklich-wirkende Vernunft als 'Reihe vernünftiger Wesen' und die von ihr allezeit ausgehende Aufforderung zum Frei-heitsgebrauch ausgemacht.
Analyse + Synthese haben ergeben, dass es begründetes Wissen wirklich gibt.Was gewusst wird, stellen die realen Wissenschaften täglich neu dar. Die Kritik hat sie gerechtfertigt. Frei-lich mit dem Zusatz, dass sie sich ihrer - die Wissenschaften der Kritik - immer wieder zu vergewissern haben.
Das war es, was zu erweisen sie sich vorgenommen hatte.
*) Das methodische Eingangsproblem der Vernunftkritik hat Kant gar nicht bemerkt: dass er zur Kritik der Vernunft über keine andern Werkzeuge verfügt als jene, die die Vernunft selbst ihm bereitstellt. Fichte hat aus diesem Grund zwischen vernünftigen Begriffen und intuitiven Vorstellungen als deren Material unterschieden. Die Tragweite dieser Unterscheidung ist ihm selbst nicht klar geworden und er macht sie nie ausdrückih zum Thema.
5. 11. 24
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