Mittwoch, 31. August 2022

Bedingung der Möglichkeit.

                                                            zu Philosophierungen
Gegenstand der Transzendentalphilosophie sind keine Sachverhalte, sondern allein Vor-stellungen. Sie sucht daher nicht nach wirkenden Ursachen, sondern nur nach Bedingun-gen von Möglichkeiten. Bedingung der Möglichkeit von Vorstellungen sind ihrerseits Vor-stellungen. Am unteren Ende der Bedingungsreihe findet sie das vorstellende Vermögen selbst. 

Ihr unabdingbares Apriori ist die Freiheit des Wollens. Sie muss angenommen werden, wenn Vorstellen möglich sein soll. Dass vorstellen geschieht, ist nicht notwendig. Wenn es aber geschah, dann aus freiem Wollen.

Das einzige, was Transzendentalphilosophie zu erweisen hat, ist dies: ob diese eine Vor-aussetzung genügt, um eine intelligible Welt vollständig zu erklären. Wenn ja, dann ist ihr System geschlossen.


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Was trennt Delphine noch vom Menschen?

aus spektrum.de, 30.08.2022                                                                                                     zuJochen Ebmeiers Realien

Delfine formen ähnliche soziale Netzwerke wie Menschen
Forscher fanden heraus, dass männliche Große Tümmler in Australien derart komplexe Sozialstrukturen bilden, dass sie darin nur noch vom Menschen getoppt werden.


Nicht nur Menschen bilden strategische Allianzen. Auch Delfine schmieden Bündnisnetzwerke, um den Zugang zu umstrittenen Ressourcen zu verbessern.

Delfine sind den Menschen in ihrem Sozialverhalten noch ähnlicher als bisher angenommen. Das schreibt eine internationale Forschungsgruppe um die Biologin Stephanie King von der University of Bristol in den »Proceedings of the National Academy of Sciences«. Lange Zeit wurde es als einzigartiges Merkmal menschlicher Gesellschaften angesehen, mehrere Ebenen von strategischen Bündnissen zu bilden. Die Forscher fanden nun heraus, dass Große Tümmler (Tursiops aduncus) an der australischen Westküste ganz ähnliche kooperative Beziehungen aufbauen. Die Ziele der schlauen Meeressäuger unterscheiden sich laut Studie aber deutlich von denen des Menschen: Ihnen geht es demnach nicht um wirtschaftliche Vorteile oder militärische Operationen – sondern einzig und allein um den Zugang zu Weibchen.

Die Wissenschaftler hatten zuvor die sozialen Netzwerke von 121 männlichen Indopazifik-Tümmlern in der Shark Bay 800 Kilometer nördlich von Perth untersucht. Das erstaunliche Ergebnis: »Alle 121 Männchen sind direkt oder indirekt in sozialen Gruppen im größten Allianznetzwerk verbunden, das außerhalb von Menschen bekannt ist«, schreiben sie.

Doch nicht so einzigartig?

Dabei bilden männliche Delfine drei Bündnisebenen oder »Ordnungen« im Wettbewerb um Weibchen: Bei den Allianzen erster Ordnung zwischen zwei oder drei Männchen geht es darum, kooperativ mit einzelnen Weibchen zusammenzuleben. Die Allianzen zweiter Ordnung umfassen 4 bis maximal 14 nicht verwandte Männchen, die mit anderen Allianzen um den Zugang zu Weibchen konkurrieren. Bei Bündnissen dritter Ordnung kooperieren wiederum ganze Gruppen zweiter Ordnung miteinander.

»Die Zusammenarbeit zwischen Verbündeten ist in menschlichen Gesellschaften weit verbreitet und eines der Kennzeichen unseres Erfolgs«, erläutert Stephanie King. »Unsere Fähigkeit, strategische, kooperative Beziehungen auf mehreren sozialen Ebenen aufzubauen, wie etwa Handels- oder Militärbündnisse – und zwar sowohl national als auch international –, galt einst als einzigartig für unsere Spezies.«die Kooperation zwischen den einzelnen Gruppen setzen, wenn es darum geht, mehr Zeit mit den Weibchen zu verbringen. Dadurch werde letztlich der Fortpflanzungserfolg gesteigert, sagt King.

Bisher hätten sich die Bemühungen zum Verständnis der menschlichen sozialen Evolution fast ausschließlich auf Vergleiche mit anderen Primaten, insbesondere Schimpansen und Paviane, beschränkt, heißt es in der Studie weiter. Es werde aber immer klarer, dass wichtige Erkenntnisse auch durch Vergleiche zwischen Menschen und entfernter verwandten Lebewesen gewonnen werden könnten.
dpa/kmh

Nota. - "Der Hauptunterschied ist natürlich der aufrechte Gang!" Den haben die Delfine nicht gebraucht, um ihr Intelligenzniveau zu erreichen, das dem unsern so nahekommt; aber die komplexen Sozialformen, die von Paläoanthropologen schon lange für unsere höhere Intelligenz verantwortlich gemacht werden. Und das ist gerade der Punkt, an dem wir uns von den Delfinen nicht unterscheiden. 

Der Unterschied ist: Die Delfine stagnieren seither auf dem einmal erreichten Stand; die Menschen haben sich immer weiter entwickelt. Denn auch die Sozialformen haben sich bei den einen dimensional ausgeweitet, bei den andern nicht.

Also doch der aufrechte Gang? 

Vorn herum nicht: Welch unmittelbaren Einfluss könnte der auf die Intelligenz haben? Aber hintenrum: Er hat die Hände vom Boden gelöst und sie dem Kommando des Gesichts unterstellt, das nun rundherum und von oben herab blicken konnte. 

*

Es trat eine Fortentwicklung ein, weil die Kooperationsformen selber eine progressive Dynamik entfalteten: Mit der Freisetzung von Hand und Kopf wird die  reguläre und alles regulierende Produktion der Lebensmittel selbst zur Arbeitsteilung, die auf ständige Differenzierung und Neukombination drängt.
JE




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Dienstag, 30. August 2022

Nackte Mannsbilder in Bremen.

das tigerschiff (portfolio of 10 w/justif. for bk by hans siemens) by renée sintenis aus FAZ.NET, 30. 8. 2022                  Renée Sintenis, Zwei nackte Knaben aus Das Tigerschiff              zu Geschmackssachen

AUSSTELLUNG ZUM MÄNNLICHEN AKT
Die nackte Wahrheit war griechisch
Die Kunsthalle Bremen zeigt in „Manns-Bilder“, warum der maskuline Akt genauso wichtig war wie der weibliche.

von Stefan Trinks

Die nackte „Judith“ von Jan van Hemessen hat etwas Irritierendes, wie sie da in der von Christine Demele kuratierten Ausstellung „Manns-Bilder. Der männliche Akt auf Papier“ der Bremer Kunsthalle entschlossen ins Bildinnere stapft. Auf dem Kupferstich von 1535 zeichnet sich die durchtrainierte Renaissance-Heldin wie die Schauspielerin Jella Haase als Stasiagentin Kleo in einer aktuellen Filmserie durch breite Schultern, wohlmodellierte Oberarme und pralle Waden aus.

Der eher männlich wirkende Körper in den vertrauten Umrissen einer Frau ist tatsächlich einer: In Dürers und Hemessens sechzehntem Jahrhundert gab es noch kaum weibliche Modelle, es sei denn, der Künstler nahm die eigene Ehefrau oder eine Magd zu Hilfe. In den meisten Fällen musste pragmatisch ein Werkstattgehilfe Modell stehen oder eben die künstlerische Imagination ausreichen, die eine römische antike Statue kurzerhand per Skizze oder eidetischem Bildgedächtnis in die gewünschte Form brachte.

. Antikischer Denker: In Louis de Boullognes Kreidezeichnung „Sitzender männlicher Akt“ aus dem Jahr 1713 ist die römische Skulptur des „Barberinischen Faun“ mit ihren gespreizten Beinen noch sehr präsent.

Licht und Schatten auf dem Körper von Hellas bis Rembrandt

Da aber die römischen Statuen nahezu durchgängig Kopien nach griechischen Originalen sind, erinnert die Ausstellung an einen oft vergessenen Grundbestand der Kunst: Bis zum Bruch mit dem „griechischen“ Menschenbild durch seinen Missbrauch in totalitären Systemen war der hellenische Körper die perfekte Einheit aus ernsthaftem Studium der Anatomie und Feier der Schönheit. Der gräzisierende Akt war die Basis beinahe jeder Darstellung von Menschen, sei es in Barock, Klassizismus, dem ungezügelte Erfolge feiernden Nudismus im Jugendstil um 1900 oder den scheinbar so entge­gengesetzten Expressionismen und Neoklassizismen der Zehner- und Zwanzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts.
Wenig bis gar nicht idealisiert, trotz Ehrentuchs hinter dem Nackten: Rembrandts Radierung „Männlicher Akt vor einem Vorhang sitzend“, 1646.

Es ist aber beileibe nicht nur der makellos schöne und dadurch oft auch langweilige Körper, der von den Künstlern verewigt wurde; gerade die griechische Skulptur legte enormen Wert auf Schultern, Knie und Füße, weit weniger auf primäre Geschlechtsmerkmale der Männerakte, die in der griechisch-römischen An­tike ohnehin größenmäßig unterdurchschnittlich gezeigt wurden. Wohldurchgeformte Körperlandschaften im Bereich der Schultern, der Kniezone um die Patella oder eben der Waden und Füße erlaubten den Künstlern, das Spiel des Lichts auf den zahlreichen Höhen und Tiefen dieser Körperlandschaften tanzen und den Marmorstein leicht werden zu lassen.

Auch wenn das Auftaktblatt der Ausstellung, Hendrick Goltzius’ „Großer Herkules“ von 1589, wegen seiner ungezählten über den gesamten Körper verstreuten Knubbel schon in seiner Zeit als „Knollenmann“ bespöttelt wurde, weil er wie die aus rundlichem Gemüse und Kartoffelknollen zusammengesetzten Figuren Arcimboldos wirkte, bleibt auch in diesem Extrembeispiel eines erkennbar: Selbst im überzeichnetsten Manierismus äußert sich noch diese „griechische“ Freude am Lichtspiel auf den Körpererhöhungen. Und wenn die Schau listig immer wieder Brechungen des Ideals etwa in der japanischen Grafik von Katsushika Hokusai aus dem achtzehnten Jahrhundert in seinem nicht geschönten „Selbstporträt als alter Mann“ oder japanische Holzschnitte der unförmigen Sumoringer-Fleischberge oder auch Rembrandts faszinierende Radierung eines keineswegs sonderlich idealisierten „Auf dem Boden sitzenden Nackten“ oder eines „Akts vor Vorhang“ (beide aus dem Jahr 1646) oder mit 
Max Beckmanns aquarellierter Lithographie „Schlafender Athlet“ (aus der Folge „Day and Dream“) von 1946 gar ein embryonal zusammengekrümmtes und verletztes muskulöses Mannsbild - Baselitz´ beschädigte Heroen lange vorwegnehmend - einschmuggelt, bestätigen die Ausnahmen hier die Regel: Die Markanz und der Blick fürs Detail des männlichen Akts schlagen auch in Altersdarstellungen die makellos reine Schönheit.

Denn erkennbar ist im Bremer Kapitel „Götter und Heroen“ die gezeigte Nacktheit in Marcantonio Raimondis makellosem „Apollo und Admet“ von 1506 oder in Gian Domenico Tiepolos schon fast gruselig schönem, weil nicht alterndem Dorian-Gray-„Bacchus“ eine heroisch ideale, wie der Archäologe Nikolaus Himmelmann das in seinem Opus magnum gültig fasste. Für Jusepe de Riberas derangierten „Trunkenen Selen“ gilt das dagegen nicht, obwohl er ebenfalls eine Gottheit darstellt, aber eben gebrochen.

Ein Christkind wie der junge Jupiter

Dass aber Künstler auch und gerade im Mittelalter für christliche Darstellungen des Lebens und Leidens Jesu die pralle Nacktheit und Körperlichkeit der Antike verwendeten, daran muss immer wieder von Neuem erinnert werden. Wie auf Albrecht Dürers Bremer Pinselzeichnung „Der thronende Christusknabe“ von 1506 (leider seit 1945 in die Moskauer „Baldin-Sammlung“ verschleppt) der kleine Erlöser mit Babyspeck breitbeinig thronend sein Geschlecht wie ein junger Jupiter offenbart oder in dem ebenfalls als Kriegsverlust zu beklagenden, von Dürer beeinflussten und wahrhaft meisterhaften „Christus am Kreuz“ aus der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts der Gekreuzigte vollständig nackt ohne Lendentuch am Marterholz zu sehen ist.

Wenig Leiden, viel Schönheit: Albrecht Dürers Kupferstich „Heiliger Sebastian am Baume“ von 1501.

Oder wie etwa der Märtyrer Sebastian, halb oder gänzlich nackt an einen Baum gebunden, im Mittelalter zum verehrten Schutzherrn der Homosexuellen werden konnte, ist angesichts von Dürers beiden Bremer Kupferstichen, die den Heiligen einmal 1499 an einer Säule und 1501 an einem Stamm fixiert seine körperlichen Vorzüge zeigen lassen, unmittelbar eingängig. Eine Entdeckung ist die Grafik Jacob Bincks aus der Dürerzeit, von der Bremen viel und Gutes zeigt, was der Kupferstecher nach Raimondis Kopien von Michelangelos Sixtinischem Fresko in Rom in nordalpine Gefilde brachte. Etwa die biblische Erzählung der „Trunkenheit Noahs“, bei der der Stammvater und Erfinder des Weinbaus stockbetrunken und unbekleidet daliegend seinen Körper präsentiert, während seine drei Söhne Sem, Ham und Japhet unterschiedlich mit dieser Nacktheit umgehen.

Und der Gevatter schiebt ihn voran: Sebald Behams Kupferstich „Der Tod und das unzüchtige Paar“ von 1529.

Dass darüber hinaus für Aktdarstellungen schon seit jeher die Wahrheit „sex sells“ zutrifft, ist keine originelle oder gar neue Einsicht. Lucas Cranachs Bildtafeln der nackten Stammeltern Adam und Eva, von Judith oder Lucretia hingen auch nicht offen in den Stuben ihrer Renaissancesammler, sondern waren Schlafzimmerbilder für den privaten Genuss. Das war wohl auch besser so, zeigt doch etwa einer der drei sogenannten „Gottlosen Maler von Nürnberg“, Sebald Beham (von dem die Kunsthalle besonders viel besitzt), in seiner Umsetzung des Bibelstoffes „Joseph und Potiphars Weib“ von 1526 den alttestamentlichen Joseph mit erigiertem Glied, stellt so durch die Erektion die christliche Behauptung seiner Unschuld gegenüber der ihn in der Bibel verführenden Frau des Pharaos infrage. Bei anderen „Häresien“ bedient sich Beham ebenso geschickt wie durchschaubar seiner Kenntnis der Antike, wenn er unter das sich fast schon pornographisch stimulierende Adam-und-Eva-hafte Duo mit dem Schnitter im Hintergrund in „Der Tod und das unzüchtige Paar“ von 1529 die Inschrift setzt „Horaz: Mors ultima linea rerum“, „Der Tod ist die ultimative Grenzlinie aller Dinge“.
Die Spannungslinien der Schau liegen somit in ihrer Ausweitung der Kampfzone: Auf erwartbare Bilder des männlichen Akts folgen immer solche, die das scheinbar hinlänglich gekannte um überraschende Aspekte bereichern. Von Renée Sintenis, der Schöpferin des Berliner Bären, stammt die hauchfeine Zeichnung „Zwei nackte Knaben“ (als Illustration zu Hans Siemsens „Das Tigerschiff“ von 1923), die man intuitiv wohl einem Mann zuschreiben würde. Paula Modersohn-Beckers zwei „Stehende männliche Akte“ sind offiziell die ersten, die in Deutschland von einer Künstlerin gefertigt wurden. Und Hans von Marées erstaunlichem, weil für 1873 sehr abstrakten Entwurf „Idylle II“ für ein Fresko in Neapel wird man mit seiner sprühenden Freude an der Darstellung nackter Figuren beiderlei Geschlechts erst dann wirklich gerecht, wenn man es mit der daneben gezeigten Studie von Cézannes „Badenden“ als einem der Gründungsbilder der Moderne vergleicht, die allerdings zweiundzwanzig Jahre später datiert. Derartige Weitungen des Blicks machen die Bremer Ausstellung zu einer der wichtigen dieses Jahres.


Manns-Bilder. Der männliche Akt auf Papier. In der Kunsthalle Bremen; bis zum 6. November. Der Katalog kostet 12 Euro

Nota. - Das ist originell, bei der griechischen Plastik den Akzent auf die dezenten Schattierungen auf dem nackten Körper zu legen. Die werden am Muskelspiel sichtbar, und das naturgemäß eher auf dem männlichen als auf dem weiblichen Körper. Dass sie in Bremen die Kunstgeschichte unter diesem Gesichtspunkt noch einmal neu darstellen, hat schon seinen Reiz.

Es ist aber eine optische Täuschung. Sie beruht auf der jahrhundertealten Legende von der Weißen Antike. Aber man weiß inzwischen - wusste es eigentlich schon länger, wollte es aber nicht wahrhaben -, dass die griechischen Skulpturen erst nach Jahrhunderte weiß geworden sind, am Ursprung aber - selbst die Bronzen - knallbunt angemalt waren wie amazonische Papageien. Da dürfte von subtilem Lichteffekt nicht viel zu sehen gewesen sein.

Dass die Bremer Kunsthalle aber um eines originellen Effekts willen eine der bedeutendsten kunsthistorischen Erkenntnis der letzten Jahrzehnte zu unterlaufen sucht, ist 
unseriös. Und für die Erklärung der griechischen Vorliebe fürs nackte Männerfleisch muss man sich was bessere einfallen lassen. Ohne Erotik wird wohl nichts. 
JE

Gewärtigkeit - eine Revolution in Permanenz.

Riesenrad; Wien, Prater                                                              zu Philosophierungen                                                
Wir nehmen keine Erscheinungen wahr. Wir nehmen keine Bedeutungen wahr. Wir nehmen Dieses oder Das wahr. Was ist Dies oder Das? Eine Erscheinung, die etwas bedeutet. Könnte sie mir nichts bedeuten, würde sie mir nicht erscheinen.

Die Unterscheidung geschieht nicht in der Anschauung, sondern in der Reflexion. Wahrnehmung ist das Produkt beider. Die Reflexion rechnet auf eine Bedeutung. Wenn sie keine erkennen kann, fragt sie; sogar, wenn sie döst. Reflexion ist Absicht.

In seiner Wirklichkeit ist unser Wahrnehmen kein linearer Ablauf in Stufenfolge – erst anschauen, dann reflektieren, dann wahrnehmen in specie; oder andersrum. Sondern, wie die zeitgenössische Hirnforschung nahelegt, ein systemischer Prozess “in Permanenz”. Es wird nicht erst diese, dann jene und schließlich eine dritte Hirnregion aktiv, sondern sie interagieren “apriori”; und sie warten regelrecht darauf, zu tun zu kriegen, sie suchen sich ihren Stoff. Darum spielt es auch keine Rolle, welche der jeweils beteiligten Regionen stammesgeschichtlich die ältere und welche die jüngere ist. Heute agieren sie allezeit uno actu als Ein Ganzes System.
.
system
So geschieht das Bewerten des unmittelbar durch die Sinnesreize Gegebenen – was man das ‚ästhetische Erleben’ nennen könnte – gleichzeitig in mehreren Hirnarealen, insbesondere dem Limbischen System, das aus mehreren entwicklungsgeschichtlich sehr alten Teilen besteht, und der als Gustatorischer Cortex bezeichneten ‚Inselrinde’, die in der entwicklungsgeschichtlich viel jüngeren Fissura Lateralis liegt. Und zugleich spielen in noch immer unverstandener Weise die Reaktionen des Plexus solaris hinein, der überhaupt nicht zum Zentralen System gehört, sondern aus einem Nervenknoten in der Bauchhöhle besteht – und insofern „uralt“ ist.

Wenn also Baumgarten seinerzeit das ästhetische Erleben als das „niedere“ Erkenntnisvermögen bezeichnet hat, war das in neurophysiologischer Hinsicht grundfalsch. Es spielt in die „höheren“ Erkenntnisvorgänge jederzeit hinein, so wie jene in diese.

ketteAber in philosophischer Hinsicht ist es diskutabel. Die Philosophie betrachtet das Wissen – als Inbegriff all unseres Gewärtigseins – nicht in seinem physiologischen oder psychologischen Vorkommen, sondern nach seinem logischen Aufbau. Logisch kommt von logos, und bezeichnet alles auf Sinn und Vernünftigkeit Bezogene (und nicht lediglich die Regeln des korrekten Schlussfolgerns). Zwar ist auch in logischer Hinsicht das Wissen (wenn es da ist) jederzeit ‚ganz und auf einmal’ da. Aber zugleich ist es ‚geworden’.

Allein in logischer Hinsicht folgt notwendig eines aus dem andern, nur in logischer Hinsicht gibt es ‚Begründung’ (und in der Naturwissen- schaft wird die Vorstellung der Kausalität nur ‚sozusagen’ verwendet, zu heuristischen Zwecken). In logischer Hinsicht ‚gibt es’ also zuerst und danach. Da müssen die Sinnesreize zuerst ‚da’ sein, bevor sie ‚gemerkt’, und gemerkt werden, bevor die ‚gewertet’ werden können. Die logisch-genetische Betrachtung ist etwas anderes als die historisch-empirische.

Allerdings ist in logischer Hinsicht die Begründungskette umkehrbar (was sie in der Naturwissenschaft, wo Begründung nur ‚sozusagen’ vorkommt, nicht ist). Wenn das eine notwendig das andere zur Folge hat, dann hat das andere notwendig das eine als Grund. Mit andern Worten, der Schluss ‚begründet’  in logischer Hinsicht den Anfang ebenso, wie jener ihn. Stellen wir uns das Wissen als einen unbegrenzten Prozess vor – was es genetisch sicher ebenso ist wie historisch -, dann ist das wirkliche Wissen eine endlose Umbegründung alles wechselseitig Begründeten.

Das Gewärtigsein ist, wenn alles klappt, eine Revolution in Permanenz.

Dass alles klappt, ist in Ansehung unserer engen bürgerlichen Verhältnisse selten. Das ist schlecht für die Verhältnisse.
24. 8. 13
Erdriss

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Montag, 29. August 2022

Das problematisch-pragmatische System.

oder doch nicht?                                                          aus Philosophierungen 
Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. 
Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden. 
_________________________________________________
Friedrich Schlegel, Athenaeums-Fragmente N° 53


Nota. - Die Athenaeums-Fragmente stammen aus der Zeit, als das Ehepaar Schlegel in Jena mit Fichte unter einem Dach wohnte. Dieses hier kommentiert offenbar die Wissen-schaftslehre: Sie ist ein System und ist doch keins. Genauer gesagt, sie ist ein problemati-sches System; nämlich eins, das nur unter einer Bedingung möglich ist. Und sie ist ein pragmatisches System, nämlich eines, dessen Bedingung man sich selber setzen muss.
JE,
20. 2. 19




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Der Zweck aller Kultur ist ihre universelle Aneignung.


aus
 derStandard.at, 29. 8. 2022                                                                          zu öffentliche Angelegenheiten

Kulturelle Aneignung ist für Robert Pfaller Komplize neoliberaler Umverteilung
Philosoph Robert Pfaller sieht in der Aneignungsdebatte einen problematischen Partikularismus wirksam werden.

Die Debatte um kulturelle Aneignung hat in den vergangenen Tagen absurde Züge an-genommen. Konzerte, die abgebrochen oder abgesagt wurden, weil weiße Musiker Dread-locks trugen, ein Verlag, der Begleitbücher zu einem Winnetou-Film nach Rassismus-Vor-würfen zurückzog. "Wir haben es hier mit einer tendenziellen Refeudalisierung der Gesell-schaft zu tun", kommentiert dies der österreichische Philosoph Robert Pfaller. Hier seien letztlich antidemokratische Kräfte am Werk.

In vielen Büchern, Artikeln und zivilgesellschaftlichen Initiativen ist der 1962 in Wien geborene und derzeit an der Kunstuniversität Linz lehrende Philosoph gegen Überreg-lementierung, Bevormundung des Bürgers und Infantilisierung der Gesellschaft aufgetre-ten. Fühlt er sich nun bestätigt – oder schüttelt er nur noch den Kopf? "Beides natürlich", schmunzelt Pfaller im Gespräch mit der APA. "Ich fühle mich bestätigt – eben darin, dass ich schon lange den Kopf schüttle. Das Entscheidende, das man dazu sagen muss, ist ja, dass Leute, die solche Forderungen erheben, offenbar nicht wirklich an der Emanzipation der Gruppen interessiert sind, in deren Namen sie zu sprechen behaupten."

Nur scheinbar von Benachteiligten

Die aktuelle Aneignungs-Diskussion sei "auf jeden Fall in einem großen politischen Zusammenhang zu sehen. Diese postmoderne Kulturpolitik ist der Komplize und der Profiteur der neoliberalen Umverteilung und Entdemokratisierung der Gesellschaft. Das zerstört genau die Terrains, die in Europa und an einigen anderen Orten seit der frühen Neuzeit mühsam erkämpft wurden – eben, dass man in der Öffentlichkeit von den Besonderheiten der Anderen absieht und sie als gleichberechtigte Bürger und Bürgerinnen betrachtet. Das mag eine Fiktion sein, aber das ist eine sehr entscheidende Fiktion, um überhaupt Demokratie zu ermöglichen."

Peter Sloterdijk habe schon vor vielen Jahren festgestellt, "dass sich die Macht heutzutage gerne mit der Schwäche paart und tarnt". Gleiches sei nun zu konstatieren: "Das sind Initiativen, die zwar scheinbar von den Benachteiligten ausgehen. Aber der starke Effekt, den sie auf die Gesellschaft haben, rührt daher, dass sie den Mächtigsten erlauben, andere zum Schweigen zu bringen, die in der Lage wären, eine Kritik an den bestehenden Verhältnissen zu üben oder auch nur demokratische Mitbestimmung einzufordern."

Entdemokratisierte Unis

Als Beispiel aus seiner unmittelbaren Erfahrung nennt Pfaller "die Universitäten, die in den letzten Jahren nicht nur in Österreich extrem entdemokratisiert wurden. Die universitäre Mitbestimmung ist seit dem Universitätsgesetz von 2002 eine Farce. Unter diesen Bedingungen ist es für die monokratischen Leitungsorgane sehr hilfreich, wenn man etwa Studierende hat, die sich darüber beschweren, dass sie in einem bestimmten Seminar mit verletzender Sprache konfrontiert worden wären oder mit verletzenden Motiven der studierten Inhalte. Das hilft den Rektorinnen und Rektoren, Macht auszuüben über kritische Mitarbeiter der Universität. Damit kann man sie einschüchtern."

Robert Pfaller zitiert aus dem "Anthropophagischen Manifest" des Brasilianers Oswald de Andrade (1890-1954), der darin zum kulturellen Kannibalismus aufrief: "I'm only interested in what's not mine." Diese Offenheit für das Andere habe zu einer globalisierten Weltkultur geführt. Es ist eine Fiktion zu glauben, dass man die Urheber von bestimmten kulturellen Hervorbringungen "ethnisch, territorial oder sonst wie ausfindig machen könnte. Darf etwa Curry-Huhn nur von Leuten aus Indien zubereitet werden? In Indien gibt es aber sehr viele unterschiedliche Bevölkerungsgruppen – und sie verwenden diverse Zutaten, die von spanischen, portugiesischen und britischen Handelsschiffen aus anderen Kontinenten gebracht wurden."

Heute habe sich "Multi-Kulti" in Abgrenzung und "ghettoisierenden Partikularismus" verwandelt. "Die Debatte um kulturelle Aneignung ist eine Strategie, die darauf abzielt, marginalen oder subalternen Gruppen eine kulturelle Hegemonie in der Gesellschaft zu verunmöglichen. Es wird so getan, als ob diese Gruppen nicht in der Lage wären, irgendetwas hervorzubringen, das auch für alle anderen Wert und Gültigkeit besitzt. Damit entmündigt man sie."

Pfaller bringt ein Beispiel: "Wenn man etwa sagt, die kulturellen Errungenschaften der Schwarzen in den USA dürfen von niemandem anderen genutzt werden, dann ist das genauso, wie wenn man sagte: 'Wenn Sie nicht aus der Arbeiterklasse stammen, dürfen Sie keine Rockmusik hören oder keine Lederjacken tragen.' Dass das aber getan wurde, war keine schändliche kulturelle Aneignung, sondern ein kulturpolitischer Erfolg der Linken. Es ist gelungen, sogar den Klassenfeind zu zwingen, sich für die proletarische Kultur zu interessieren und sie zu würdigen. Und die 'Aneignung' des Blues durch Elvis Presley und die Rolling Stones hat der schwarzen Musik zu Anerkennung und weltweiter Bekanntheit und Erfolg verholfen."

Robert Pfaller warnt vor einer "problematischen Essentialisierung" von Gruppen. "Gruppen sind heterogen. Wenn man also sagen würde: Die Österreicher sind subaltern gegenüber den Deutschen, und wenn sich Deutsche Lederhosen kaufen, ist das kulturelle Aneignung, dann tut man so, als ob alle Österreicher Lederhosen tragen würden." Stattdessen solle gelten: "Kultur gehört allen, die ihre Träger sind." Womit nicht nur Lederhosenträger gemeint sind.


Nota. - Habe ich Robert Pfaller gestern Unrecht getan, als ich ihn für einen Parodisten hielt? Heute mach ichs wieder gut und nehme ihn ernst.

Jede Kultur, wo und wann immer sie auftaucht, ist ein Beitrag zum Welterbe der Mensch-heit. Nicht jede versteht sich so. Manche ist absichtsvoll partikularistisch, exklusiv und eigensüchtig. Nicht alle Kulturen sind eben gleich gut. Will sagen: Nicht jeder Bestandteil einer jeden Kultur ist ein Beitrag zum Welterbe. Manches gehört ausgeschieden.

Sammeln und Ausscheiden: Die Sichtung und Bewahrung ihrer Werte - manchmal passt sogar dieses Wort - nennen wir den Forstschritt der Zivilisation. 

Das kann nicht geschehen in einem globales Amalgam, wo alles, was die einzelnen Kultu-ren gegeneinander profiliert, in Indifferenz versinkt. Die Eigenheit des Besonderen zu wahren und verteidigen, ist Sache derer, die es wert schätzen. Dabei konkurrieren sie, wie es in Künsten und Wissenschaften unabdingbar ist. Sie konkurrieren miteinander, und jeder, der was vorweisen kann, darf es.

Es ist auf unserm Planeten durch Kriege, Massaker und andere Katastrophen eine Kultur erwachsen, die eben darin ihre auszeichnende Besonderheit erkennt; die westliche. Darum reden wir von einer westlichen Zivilisation.
JE


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Sonntag, 28. August 2022

Sprachspielnetz.

                                                      zu Philosophierungen
Das Wort (Klangbild) ist ein Symbol. Die Sprache ist ein System von Symbolen; System im Vollzug, indem sie gebraucht wird in der Sprachgemeinschaft; "Sprachspiel"; diachro-nisch. Es läßt sich aber als System darstellen, synchronisch: als kodifizierter Verweisungs-zusammenhang. Doch jeweils nur als endlicher Verweisungszusammenhang: Lexikon, Grammatik, "Logik". Das Wort "bezeichnet", benennt ein Ding als "das, was" es ist; aber das Ding kann selber Symbol sein: etwas "bedeuten", das sich seinerseits nicht "endlich darstellen" läßt; Gedanken- ding, "Begriff". – Das gilt für das System der Sprache selbst: Es "sieht so aus, als ob" es Alles umfaßt. "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt", Tractatus [5.6] [aber was heißt hier "bedeuten"? Bezeichnen? "Darstellen"? "Sein"?] 

Die Besonderheit dieses Systems ist, daß es – historisch und logisch! – unbegrenzt erwei-terbar ist. Es ist Bild der Welt. In der Welt sind nicht nur die Dinge, die die Wörter benen-nen, sondern auch ihre... (und andere) Bedeutun-gen! Die Sprache ist ein (historisch je) endliches Symbol für ein "unendliches" Ding. Nicht nur können immer neue Wörter ein-gefügt werden; es können auch neue Sätze gebildet werden, in denen die Wörter neu ver-wendet, "umgewidmet", d. h. umgedeutet werden. Denn sie sind Symbole, Bilder, keine Abbilder.

Und sie können auch sinnwidrig verwendet werden: "uneigentliches" Sprechen z. B. Man kann die Wörter regelwidrig verwenden: das "Spiel" stören. Sprach-Spielverderber.
Januar 15, 2009


Nachtrag. Eine 'Welt' gibt es überhaupt nur als Bild.
2. 8. 16



Schuld und Scham.

               
aus spektrum.de, 25. 8. 2022                                                                                                                       Satire.

»Weil du es kannst, kann ich es nicht«
Wenn Scham die breite Brust zeigt: Der Philosoph Robert Pfaller kritisiert die moderne Identitätspolitik. Eine Rezension


von Josef König

Man solle sich schämen, wenn man SUV fährt, in den Urlaub fliegt oder Fleisch isst. Mit solchen Vorwürfen finden sich viele in den sozialen Medien konfrontiert. Häufig wird man auch mit Aussagen wie »Weil du dich nicht schämst, schäme ich mich für dich« kon-frontiert: ein öffentliches »Fremdschämen« mit Ansage und stolzgeschwellter Brust.

Mit solchen Ausprägungen der Identitätspolitik beschäftigt sich der österreichische Phi-losoph Robert Pfaller in seinem neuen Buch »Zwei Enthüllungen über die Scham«. Das Werk ist zugleich eine philosophische Auseinandersetzung mit Schamtheorien und ein Beitrag zu ihrer Präzisierung und Revision.

Aktuelle Muster von Scham zeichnet der Autor im ersten Kapitel. Scham mutiere zum Luxusartikel und zur Maske eines unverhohlenen Stolzes, zum sozialen Faktum und zum Mittel der Denunziation der Unliebsamen – etwa dem Vorwurf, jemand sei ein »alter wei-ßer Mann«. Viele der neuen Muster entstammten einer überbordenden Identitätsdiskus-sion, die sich an Gender, Sexismus oder Rassismus entzündeten. Transformiert uns diese Identitätspolitik von einer Schuld- zu einer Schamgesellschaft? Bevor Pfaller hierauf ant-wortet, enthüllt er zwei Irrtümer über Scham.

Die erste Enthüllung zielt auf einen Irrtum der Anthropologie, die Scham als außenge-leitet, Schuld hingegen als innengeleitete Vorwürfe betrachtet. In Margret Meads Beob-achtungen aus den 1930er Jahren erkennt Pfaller den Hauptirrtum, der seitdem von vielen tradiert werde. Der Autor zeigt an Beispielen, dass Scham auch im Inneren der Person ihren Platz habe, wohingegen Schuld aus Vorwürfen Dritter gegen Verfehlungen entstehe. Scham betreffe die ganze Person und sei plötzlich da; man errötet. Schuld komme dage-gen allmählich und partiell. Sie kann mit Scham verbunden sein, muss es aber nicht. Und: Man könne sich entschuldigen, nicht aber entschämen.

Eng an der Textvorlage zeigt Pfaller am Fallbeispiel Bronislaw Malinowskis, dass die ver-botene Liebe eines jungen Trobrianders zu seiner Cousine im Dorf lange allgemein be-kannt war. Erst die öffentliche Klage des Nebenbuhlers habe den Trobriander in den Selbstmord getrieben. Das verletzte Diskretionsgebot sei in dem Fall der Auslöser von Scham – vergleichbar mit einem Fleck am Hemd des Gegenübers, über den Dritte nicht mehr hinwegsehen, oder wie die Untertanen die Nacktheit des Kaisers ignorieren, bis das Kind in Andersens Märchen diese laut benennt.

Die zweite Enthüllung Pfallers betrifft den Irrtum der Psychoanalytiker: Weil das »Ich« das eigene Ungenügen im Vorbild des »Über-Ichs« erkenne, schäme es sich. Diese Auffas-sung verwirft Pfaller als »theoretische Fehlkonstruktion«, für die keine »immanente Rich-tigstellung« möglich sei. Das gesamte System der Begriffe und Voraussetzungen müsse neu konstruiert werden.

Pfaller dreht den Spieß um: Scham komme nicht von oben, sondern von unten. Sie ent-stehe im »naiven Beobachter«, den der französische Anthropologe und Psychoanalytiker Octave Mannoni (1899–1989) im kindlichen Blick sieht, den der Erwachsene manchmal einnehme. Jener könne nicht zwischen Augenschein und Wahrheit unterscheiden. Diesem »naiven Beobachter« gibt Pfaller im psychoanalytischen System den Namen »Unter-Ich« als Pendant zum Über-Ich. Das Unter-Ich wünsche sich das eigene Ich als etwas Schönes, Positives, wofür es »sich zu leben lohne«, denn »um sich schämen zu können, muss man Ehre und Stolz besitzen«. Scham entstünde, wenn das Unter-Ich »entsetzt auf ein ent-blößtes Ich« blicke, von diesem enttäuscht sei, weil es ihn – real oder metaphorisch – plötzlich in seiner Nacktheit sehe.

Laut Pfaller leben wir nicht in einer neuen Schamgesellschaft. Er beruft sich auf den So-ziologen Oliver Nachtwey, der westliche Kulturen als »Abstiegsgesellschaften« charak-terisiert. Die Menschen glaubten nicht mehr, dass sie oder ihre Kinder es einmal besser haben werden, sehen nur die Welt zu Grunde gehen. »Wer keine Zukunft hat, beruft sich auf seine Herkunft«, folgert Pfaller. Wessen Identität bedroht sei, reagiere mit narzissti-scher Kränkung, überempfindlich und werfe anderen Schamlosigkeit vor, mit stolzge-schwellter Brust – selbst noch beim eigenen Versagen: »Weil du es kannst, kann ich es nicht«.

Das Buch ist intelligent und klar geschrieben, gut zu lesen, erfordert aber einige Kennt-nisse psychoanalytischer und philosophischer Argumentation.


Robert Pfaller
Zwei Enthüllungen über die Scham

Verlag: S. Fischer, Frankfurt 2022

ISBN: 9783103971378 | Preis: 20,00 €


Nota. - Das klingt ganz witzig - als wär's ne Parodie. Und das ist auch gut so. Der freudsche Quatsch lässt sich ja gar nicht anders wiedergeben. Eine "the-oretische Fehlkonstruktion", die eine "immanente Richtigstellung" gar nicht zulässt? Der Fehler ist ja gerade, dass es konstruiert ist... und nur durch transzendenten Spott kritisier-bar. Statt des Es' ein "Unter-Ich"! Da fliegt dem Dokter alles um die Ohren.
JE  

Samstag, 27. August 2022

Das System der Vernunft ist uns gegeben.

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Die Wissenschaftslehre hat zum Gegenstand das uns heute gegebene System des Wissens. Dieses will sie verstehen: zurückführen auf seine immanenten Prämissen. Sie beschreibt nicht, wie dieses System in der historischen Wirklichkeit entstanden ist. Entstehen konnte es nur, indem aus den wirklich vorkommenden Vorstellungen progressiv alles für die Systembildung Unbrauchbare ausgeschieden wurde. Es ist Material einer historischen Darstellung. In einer Darstellung des fertigen Systems hat es nicht zu suchen.

Der gegenwärtige Teilhaber dieses Systems - einer 'Reihe vernünftiger Wesen' - kann nicht anders, als seine Vorstellungen mit dem ihm als Apriori gegebenen System ins Verhältnis zu setzen: Seine Vorstellungen drängen zum Begriff. Dass sie von ihm "unzertrennlich" wären, trifft aber nur in der einen Richtung zu: Die Begriffe sind von den in ihnen gefass-ten Vorstellungen unzertrennlich. Doch nicht gilt die Umkehrung. Nicht jede Vorstellung bedarf ihrer Bestimmung; sondern nur diejenige, die mit den Andern (='vernünftigen Wesen') geteilt werden soll. Was ich ganz für mich behalten darf, mag unbestimmt und begriffslos bleiben.

In einer historischen Darstellung müsste gezeigt werden, dass und wie die Vorstellungen zu Begriffen erst wurden - durch progressives Ausscheiden des Unbrauchbaren im Ver-kehr
3. 7. 17



Wirkungen der Stoa.

                           zu Philosophierungen
aus spektrum.de, 27. 8. 2022            Die Stoa des Attalos wurde im zweiten Jahrhundert v. Chr. von Attalos II. von Pergamon in Athen gebaut. Nach ihrer Zerstörung im Jahr 267 ließ man die Säulenhalle in den 1950er Jahren zu Museumszwecken rekonstruieren

Die Abkehr von der Leidenschaft
Verschiedene Ideen aus dem philosophischen Stoizismus erfreuen sich bis heute großer Beliebtheit. Nicht umsonst ist inzwischen einer der berühmtesten stoisch inspirierten Denker eine fiktive Figur. Eine Kolumne.

von Matthias Warkus

»Stoa« στοά - heißt im Altgriechischen eine Säulenvorhalle. Von ihr leitet sich das Wort »stoisch« ab, das uns heute in den Nachrichten vor allem dann begegnet, wenn Sportler Widrigkeiten überstehen oder Personen oder politische Gruppierungen lange Zeit auf etwas nicht reagieren. Stoizismus scheint umgangssprachlich eine Art Starre oder Hart-näckigkeit zu sein, die nicht unbedingt positiv gewertet wird. Aber was hat das nun mit der Säulenhalle zu tun?

In der namensgebenden Stoa in Athen traf sich in hellenistischer Zeit (ab zirka 300 v Chr., also deutlich nach der Zeit der heute bekanntesten antiken Klassiker Sokrates, Platon und Aristoteles) eine philosophische Schule, und zwar nicht irgendeine, sondern eine äußerst populäre und die über Generationen einflussreichste ihrer Art. Jahrhunderte später konnte sie noch führende Persönlichkeiten des Römischen Reichs zu ihren Anhän-gern zählen – bis hin zu Mark Aurel, der im 2. Jahrhundert n. Chr. römischer Kaiser war, aber als Philosoph vielleicht sogar noch berühmter geworden ist.

In der Tat hat der philosophische Stoizismus durchaus etwas mit Starre oder Hartnäckig-keit zu tun. Die Eigenheit, mit der man ihn heute vor allem verknüpft, ist die Forderung nach Freiheit von Leidenschaften. Jede Leidenschaft, also jeder Einfluss von Begierde oder Furcht – und ihren Ergebnissen, nämlich Freude und Leid –, führt dazu, dass die Vernunft etwas anderes anstrebt als die Tugend. Der nach stoischer Meinung wahrhaft weise Mensch hat aber erkannt, dass das Gute und damit auch das Glück allein in der vernünftigen Ausübung von Tugenden liegt. Alles andere, was uns in der Welt möglicher-weise gut oder schlecht erscheint – Geld, gutes Essen, Schmerzen, Ruhm, Sex oder seine Abwesenheit, das Gerede der Leute –, ist allerhöchstens unter bestimmten Umständen von Nutzen oder von Schaden. Daher strebt, wer stoisch ist, eine Sicht auf die Welt wie aus der Vogelperspektive an, die das Gewimmel verschwinden lässt und das große Ganze vor Augen führt. Regelmäßige geistige Übungen wie gezielte Selbstgespräche oder tägli-che Reflexionen sollten dabei helfen, diesen Zustand der Gelassenheit und Freiheit von emotionalen Einflüssen zu erreichen.

Es würde den Rahmen dieser Kolumne sprengen, darauf einzugehen, wie genau die stoische Schule, die sich nicht nur mit ethischen Überlegungen beschäftigte, sondern auch eine eigene Logik, Metaphysik und Naturphilosophie hatte, diese Forderungen herleitete. Der Grundgedanke besteht aber darin, die Natur, ja das ganze Universum, als vernünftig aufgebaut und strukturiert zu begreifen. Der Mensch findet dann seinen Platz, indem er das zu seinem Ziel macht, worauf das (vernünftige) große Ganze erfahrungsgemäß ohnehin zustrebt.

Stoizismus gibt es auch bei »Star Trek«

Der heutzutage sicher berühmteste stoisch inspirierte Denker ist gar keine reale Person und noch nicht einmal ein Mensch: Es ist der Vulkanier Spock aus der Serie »Star Trek«. Er (und seine ganze fiktive Spezies) ist die Verkörperung eines radikalen Stoizismus, der Leidenschaften völlig ablehnt und für den die aktive Bekämpfung der eigenen Emotionalität lebensleitend ist. Man darf aber nicht den Fehler machen, Spock für den perfekten Stoiker zu halten, da die stoische Lehre durchaus anerkennt, dass es gute und berechtigte Emotionen gibt – beispielsweise das Sehnen danach, tugendhaft zu sein, oder die Freude darüber, wenn es einem glückt. Zudem ist der klassische stoische Weise ein Mensch, der nicht bloß tugendhaft denkt, sondern auch ohne zu zögern handelt, etwas, mit dem Spock hin und wieder seine Schwierigkeiten hat.

Bestimmte stoische Ideen finden sich heutzutage in psychologischen Praktiken wie beispielsweise der kognitiven Verhaltenstherapie wieder. Aber ganz allgemein erfreut sich die Philosophie der Stoa (wenn auch gerne in vereinfachter Form als simple Lebensregel) großer Beliebtheit. Es gibt in Großbritannien sogar eine gemeinnützige Organisation, die den Stoizismus unter trendigen Schlagworten wie Achtsamkeit und Resilienz propagiert und jedes Jahre eine »Lebe-wie-ein-Stoiker«-Woche veranstaltet. Falls Sie es ausprobieren wollen: 2022 geht es am 24. Oktober los.


Nota. - Womöglich ist die Stoa unter allen antiken Denkschulen die in Europa bis heute einflussreichste - gar nicht mal wegen ihrer Lebensweisheiten, sondern weil sie erstens seit Kition und bis Marc Aurel bestanden hat - unterschiedlich einflussreich und darum eine "erste", "zweiten" und "dritte" Stoa unterschieden wird; und zweitens eher im Verborge-nen, aber darum um so wirksamer ins athenische Alltagsbewusstsein gewirkt hat. Ein Großteil der Gedanken, die in der Renaissance als platonisch "neu" entdeckt wurden, stammten in Wahrheit aus stoischem Erbe; und mehr noch als ihre Verhaltenslehren waren das die kosmologischen Spekulationen der sog. Zweiten Stoa, die das westliche Weltbild bis heute prägen.

Man weiß das eigentlich nur en gros, denn en détail haben sie kaum etwas Schriftliches hinterlassen, wir sind weitgehend auf mündliche Überlieferung angewiesen, deren Quellen naturgemäß unbekannt sind.

Ein eindrückliches Beispiel: Der Satz, dass die Natur keine Sprünge mache - quot natura non fecit saltus -, ist wohl erstmals von Leibniz zu Papier gebracht worden. Als Denkregel ist er aber ein stoisches Prinzip. Insgesamt war ihre naturphilosophische Spekulation wohl von holistischen und organizistischen Bildern geprägt, wie sie in unsern modernen systemischen  Lehren fortleben.

JE

Freitag, 26. August 2022

Die Frage nach dem System stellt sich beim Philosophieren von allein.

M. Großmann, pixelio.de                                                                       aus Philosophierungen

Subjektiv betrachtet, fängt die Philosophie doch immer in der Mitte an, wie das epische Gedicht. 
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Friedrich Schlegel, Athenaeum, Ersten Bandes Zweytes Stück. Berlin 1798 


– Ein hübscher Aphorismus zum Thema philosophischer Systematik. 

Jeder Philosoph fängt mit seinem Philosophieren irgendwo mittendrin an. Ganz einfach, weil er vor dem Entschluss zu philosophieren schon allerlei gewusst und seinem gesunden Menschenverstand unterzogen haben muss. Das nimmt er naiv als Startkapital und fängt an zu wirtschaften. Erst nachträglich, in dem Maße nämlich, wie er auf unerwartete ge-dankliche Probleme stößt, denkt er daran, sein Kapital zu inventarisieren – ob es wirklich so reichlich war, wie er dachte, und wie große Risiken er sich damit leisten kann. Das ist Meta philosophie, und obwohl sie logisch an den Anfang gehörte, kommt sie immer erst nachträglich.

Und dann, wenn er sich fragt, welches Risiko seinen Einsatz wert ist, taucht erstmals in klarer Kontur die Frage auf, worauf er eigentlich hinauswill. Und siehe da, das praktische Problem verhält sich auf einmal zum metaphilosophischen wie Kopf und Zahl. Unmög-lich zu sagen, welches den Vorrang hat. Und nun erscheint auch all das, was er bisher schon geschafft hatte, geschafft zu haben meinte, als der theoretische Teil eines aufzustel-lenden Systems. Der hängt jetzt aber in der Luft, nämlich mitten zwischen den komple-mentären Vorbehalten des praktischen und des metaphilosophischen Teils. Eine General-revision ist nötig; eine Kritik des theoretischen Teils. Und wenn man schonmal so weit ist, wird sich in der Durchführung der Kritik erweisen, dass recht eigentlich sie selber den theoretischen Teil ausmacht!

Nun aber erscheint sie als das Hauptstück, plat de résistance, des ganzen Systems. Weil nämlich nur durch sie Metaphilosophie und praktische Philosophie zusammengeführt werden konnten. Der praktische alias Meta-Teil ist zwar der, auf den es am Ende an-kommt. Aber möglich wurde er erst durch die Kritik, als deren Klammer.


Merke:
Die Absicht, Philosoph zu werden, und der Entschluss zu philosophieren sind nicht dasselbe.
2. 9. 14

Dynamische Darstellung, statische Kritik, I.

spandau-arcaden                                             aus Philosophierungen Die genetische Darstellung unterscheidet sich von de...