Freitag, 10. Mai 2024

Der Endzweck, oder Kommt das Bestimmen doch einmal zu einem Schluss?

 

Der Grund der Vernunft, den die Kritik freigelegt hat, ist das reine Wollen - mit ihm beginnt der zweite, rekonstruierende Gang der Wissenschaftslehre. Wirkliches Wollen heißt aber, in der wirklichen Welt einen Zweck wirklich verfolgen: bestimmen wollen. Die Ausgangspunkt der Vernunft ist wollen; hat sie einen Horizont?

Wollen-überhaupt ist das Noumenon, das nötig wurde, um das Tätigwerden des Ich zu verstehen (=einen Sinn dar-in 'wahr'-zu-nehmen). Wollen in specie bedarf indessen eines – je besonderen – Zweckbegriffs. Ausgangspunkt ist immer: dass die Menschen tatsächlich tätig werden, nämlich hier, wo von ihren Vorstellungen die Rede ist, im Denken. Begriffe von den Dingen werden möglich durch Absichten mit den Dingen.

Dem steht gegenüber der Begriff des Zwecks-überhaupt. Zunächst eine summative Abstrak-tion: der Inbegriff aller möglichen Zwecke. Als solcher ist auch er: Noumenon. Real kann ich mir darunter nichts vorstellen. Er ist rein ideal. Brauche ich ihn, um mir unter den je konkreten Zwecken etwas vorzustellen? Nein. Sie sind real, er nicht.

Wollen-überhaupt gibt dem tatsächlichen Wollen der historischen Individuen einen Sinn: 'Ich' bin a priori um-zu. (Menschsein ist schlechthin intentional, würde der Adept einer an-dern Schule sagen.) Um das wirkliche Wollen historischer Individuen zu verstehen, ist das jedoch nicht nötig: Dass und was sie wollen, ist zu allererst bedingt und bestimmt durch ihre – durch das Gefühl vermittelte – physische Organisation; "Naturbedürfnis", essen, trin-ken und dies und das. Das bedarf keiner Erklärung und keines Verständnisses.

Einer Erklärung und eines Verständnisses bedürfte das historische Faktum, dass sich die Menschen, wohin man in ihrer Geschichte auch blickt, damit nie beschieden haben; be-dürfte einer realwissenschaftlichen Erklärung. Transzendentalphilosophisch ist es durch den Begriff des Reinen Wollens mit-gesetzt. Es begründet ein unendliches Streben, das Fichte an anderer Stelle Trieb nennt. Bedingt ist es rückwärts: durch die Tatsache der Tätigkeit, sie soll es erklären; es ist Noumen, es kann und muss seinerseits nicht gerechtfertigt werden.

Namentlich nicht durch einen Zweck-überhaupt. Der ist, anders als das Reine Wollen, kein Begriff, sondern eine bloße Idee, und als solche kann sie nichts begründen, sondern allen-falls praktisch rechtfertigen. Das liegt dann aber schon jenseits der Transzendentalphiloso-phie.
19. 10. 15

 

Der Endzweck, oder doch: Die Grenze der Vernunft? 
 von , fotocommunity;    zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Alles vernunftlose sich zu unterwerfen, frei und nach seinem eigenen Gesetze es zu be-herrschen, ist letzter Endzweck des Menschen; welcher letzte Endzweck völlig unerreich-bar ist und ewig unerreichbar bleiben muss, wenn der Mensch nicht aufhören / soll, Mensch zu seyn, und wenn er nicht Gott werden soll. Es liegt im Begriffe des Menschen, dass sein letztes Ziel unerreichbar, sein Weg zu demselben unendlich seyn muss. Mithin ist es nicht die Bestimmung des Menschen, dieses Ziel zu erreichen. Aber er kann und soll diesem Ziele immer näher kommen: und daher ist die Annäherung ins unendliche zu die-sem Ziele seine wahre Bestimmung als Mensch, d. i. als vernünftiges, aber endliches, als sinnliches, aber freies Wesen. 
_______________________________________________________________________J.  G. Fichte, Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, SW VI, S. 399f.


Nota. - Hier wird es nun problematisch.  

Bedenken wir zuerst, dass es sich um eine der frühesten öffentlichen Äußerungen Fichtes handelt und vor einem allgemeinen Publikum, auch philosophischen Laien. Bedenken wir aber auch, dass die Einschränkung, dass der 'Endzweck völlig unerreichbar' sei, nichts daran ändert, dass er dies eben Zweck nennt: alles Vernunftlose sich (als dem Agens der Ver-nunft) zu unterwerfen...

Andernorts heißt es dann, Übereinstimmung sei "der große Endzweck der Vernunft". Wo hat er das her? Ansonsten hält er sich weislich zurück, wenn es um die sachliche Bestim-mung dessen geht, was Vernunft 'ist'; selbst das Sittengesetz ist ihm nicht 'gegeben', son-dern etwas, das "erst durch uns selbst gemacht wird",* nicht als 'bestimmt', sondern als noch in Bestimmung begriffen.

Später werden wir hören, das in der Tathandlung sich 'intellekual-anschaulich' setzende Ich sei die unmittelbare Identität von Subjekt und Objekt. Das Ich "als Idee" hingegen "ist das Vernunftwesen, inwiefern es die allgemeine Vernunft teils in sich selbst vollkommen dar-gestellt hat, wirklich durchaus vernünftig und nichts als vernünftig ist; also auch aufgehört hat Individuum zu sein, welches letztere es nur durch sinnliche Beschränkung war".** Das Ich als Idee ist das aus der intellektuellen Anschauung her zum Postulat gewendete Agens der Vernunft, und sofern das Ich "als Individuum" vernünftig ist, ist es sein Ideal. Soll er sich ihm also als Individuum, soll er ihm 'den ganzen endlichen, sinnlichen Menschen' un-terwerfen und sie... "zur Übereinstimmung bringen"?

Die Frage ist nicht, ob er das kann, und sei es nur 'in unendlicher Annäherung'. Vielmehr gibt es keinen Grund, weshalb er das wollen sollte.

Vernünftig ist nicht ein Einzelner. Vernunft ist das Medium, in dem sich zwei verständigen können, anders "gibt es" sie nicht. Vernunft ist nur da, wo (mindestens) zwei sich verstän-digen können-müssen-wollen. Vernünftig ist dasjenige an den Individuen, was zur Verstän-digung taugt. Vernunft findet statt in unserer Welt. In meiner Welt ist sie Gegenstands
-los. Das pragmatische Kriterium ist: Was sich symbolisieren lässt, kann zu einer Sache der Ver-nunft werden; was nicht, das nicht.

Die Wissenschaftslehre ist eine Anthropologie einschließlich Lebenslehre nur hintenrum; indem sie qua Kritik alle Erleuchtungen und Offenbarungen zunichte macht; positiv wird sie erst als das, was übrigbleibt.


*) System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. IV, S. 192
**) Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW I, S. 517f.
18. 2. 14


Der Endzweck muss versucht werden.
                   zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

...das Handeln mehrerer Vernunftwesen ist eine einzige durch Freiheit bestimmte Kette. Die ganze Vernunft ist nur ein einziges Handeln. Ein Individuum fängt an, ein anderes greift ein und so fort, und so wird der ganze Vernunftzweck durch unendlich viele bearbeitet und ist das Resultat von der Einwirkung aller. 

Es ist dies keine Kette physischer Notwendigkeit, weil von Vernunftwesen die Rede ist. Die Kette geht immer in Sprüngen, das Folgende ist immer durchs Vorher/gehende bedingt; aber dadurch nicht bestimmt und wirklich gemacht (vide Sittenlehre). Die Freiheit besteht darin, dass aus allen Möglichen nur ein Teil an die Kette angeschlossen werde. 
___________________________________________________________
 J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 232f.



Nota I. - Die Wissenschaftslehre erzählt nicht nach, 'wie es wirklich ist', sondern stellt dar, was in der Vorstellung wirklich vorkommt und weshalb das notwendig ist. Hier steht also sinngemäß: Alles Reden von Vernunft hat einen intelligiblen Sinn nur, wenn man sie so auf-fasst. Wird der Weg fortgegangen, so wird es eine Kette sein. Aber sie wird aus Freiheit fortgewirkt. Wenn wir uns also (in der Abstraktion) denken, dass sie einmal an ein Ende käme, so wäre es nicht durch physische Notwendigkeit als Folge seiner Ursache, sondern durch Freiheit als Zweck gesetzt: 'bedingt, aber nicht bestimmt'. Die Freiheit hätte an jedem Punkt auch andere Möglichkeiten wählen und andere Teile anfügen können. Der 'End-zweck' wäre ein anderer geworden.

Wenn Hans Vaihinger die Wissenschaftslehre nova methodo gekannt hätte, wären ihm die Augen übergegangen und er hätte auf seine dickleibige Philosophie des Als Ob achselzuk-kend verzichtet. Und wenn Fichte seinen Weg nova methodo 'zuende gegangen' wäre, hätte er sich nie auf die dogmatische Auffassung eines Realabsoluten und eines gegebenen End-zwecks der Vernunft einlassen können.
 
12. 10. 17

Nota II. - Ließe sich daraus folgern, dass alles, was auch immer in unserer Geschichte vor-kam, zu seiner Zeit vernünftig, nämlich ein notwendiges Glied des problematisch projizier-ten Vernunftzwecks gewesen ist? Vernünftig ist das Handeln nach selbstgesetzten Zwecken: aus Freiheit. Freiheit bedeutet nicht, dass kein Irrtum möglich ist; wie auch das? Wenn das Handeln die Zwecke, die gesetzt waren, nicht realisiert, sondern Folgen zeitigt, die nicht als Zwecke gesetzt waren und aus Freiheit nicht wählbar wären, so wird die Vernunft neu und anders wählen.
 
Es heißt hier nicht, wie bei Hegel, das Wahre sei das Wirkliche. Der Weg der Vernunft in der Geschichte ist keine aufsteigende Linie, wie könnte er? Das Kriterium ist noch nicht, dass die Zwecke aus Freiheit gesetzt waren; das ist erst die notwendige Bedingung. Sondern, ob sie durch vernünftiges Handeln in der sinnlichen Welt realisiert werden. Da geht es um praktisches Bestimmen. Das mag immer scheitern, sei's am Widerstand der sinnlichen Welt, sei es an falschen Begriffen. Ob oder ob nicht ist keine Sache theoretischer Vorhersehung, sondern des wirklichen Versuchs.

Es geht zuerst einmal um die Bedingung: aus Freiheit. Doch was aus der Freiheit gemacht wird, ist, worauf es am Ende ankommt. Und die Frage ist immer konkret.

JE, 11. 4. 19
 
 
Nota III. - Hier zum xten Mal: Was bedeutet im transzendentalen Sinn 'notwendig'? - Ge-geben sind zwei Termini: Erstens die historisch vorgefundene Tatsache, 'dass es Vernunft gibt'; und zweitens die durch analytischen Regress aufgefundene Einsicht, dass am Anfang Freiheit 'gewesen sein muss'. Zwischen beiden Polen ist ein Bogen zu spannen. Da am An-fang Freiheit war, waren alle vorstellbaren und selbst nicht vorstellbare Akte möglich und mögen auch geschehen sein. Wir müssen aber nur die beachten, die wirklich auf den Weg einer fortschreitenden Bestimmung von Freiheit zur Vernunft gehören. Alles andere bleibt außer Acht.
 
Wenn wir auf diesem Weg zur Rekonstruktion einer intelligiblen Welt bzw. einer Reihe ver-nünftiger Wesen gelangen, ist der Bogen zwischen beiden Termini gespannt und ist alles, was auf ihm geschehen ist, als notwendig erwiesen vernunft notwendig. Mehr wird nicht behauptet; schon gar nicht, dass es anders gar nicht hätte kommen können.
15. 6. 21 

Nota IV. - Ein ebenso kluger Mann hat es später so ausgedrückt: Die Menschen machen ihre Geschichte nicht unter frei gewählten Voraussetzungen, aber sie machen sie selber (oder war es umgekehrt?).
JE, 19. 11. 22           
 


Vernunft ist die Fähigkeit, Zwecke zu setzen.
                                                                   zu Philosophierungen

Vernunft ist nicht einfach mehr als bloß die - "effiziente" - Fähigkeit zum Anstreben be-stimmter Zwecke beziehungsweise zum Lösen bestimmter Aufgaben. Sie ist vor allen Dingen nicht "mehr" von ein und demselben Stoff. Sie ist etwas schlechterdings anderes. Ein Haus ist nicht bloß mehr als ein Ziegelstein, sondern - etwas schlechterdings Anderes. Das erkennt man ohne Spitzfindigkeiten oder höhere Eingebung; es braucht nur ein biss-chen Vernunft. Die Ziegelsteine hätten - schlechterdings keinen Sinn - oder prosaisch: keine Bedeutung -, wenn die Absicht, ein Haus zu bauen, nicht da gewesen wäre. 

Vernunft ist die Fähigkeit, Absichten zu fassen und Zwecke zu setzen. Fielen Ziegelsteine fix und fertig vom Himmel, hätten sie für ihren Finder keinerlei Bedeutung ohne die Vor-stellung von einem Haus. Das Haus ist nun aber auch bloß ein Zweck. Für die, die drin wohnen wollen. Für den Stadtplaner, der ein Heer fähiger Architekten kennt, ist es ledig-lich ein Mittel. Mittel zu einem Zweck: Städtebau. Und der ist noch lange nicht der End-zweck. Da geht es weiter - Wirtschaft, Kultur, Kunst und Philosophie; auch Unterhaltung, die nicht nur Mittel ist zur Erholung und Bildung, sondern selber ein Zweck, was sie mit der Kunst gemein hat. Auch Wissenschaft ist nicht nur ein Mittel zu all diesen Zwecken, sondern Wissen ist selber ein Zweck - für die Menschen, die wissen wollen, was sie auf der Welt können und... können.

Das ist der Zweck der Vernunft. Er setzt voraus, dass die Menschen - anders als die Tiere - nicht nur so leben, wie die Natur alias die Evolution es ihnen vorbestimmt hat, sondern ihr Leben führen müssen - hier lang oder dort lang. Sich selbst und - da die Menschen nicht wie Robinson allein sind, sondern nur in Gesellschaft leben können - der Menschheit eine Richtung geben müssen.

Wohl bemerkt: Einem, der meint, wie es ist, sei gut genug, kann man etwas anderes nicht beweisen. Dass nicht nur 'mehr', sondern auch anderes möglich ist, ist keine nachweisliche Tatsache, die man jedem andemonstrieren kann, sofern er bei Verstand ist, sondern ist ein Postulat: ist die Prämisse aller Vernunft. Wie auch die resignierte Einsicht, dass du und ich einem allerletzten Zweck in diesem Leben wohl nicht mehr begegnen werden.

Kommentar zu  Eine Einführung ins Philosophieren: Was ist Vernunft? JE, 7. 5. 22

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