Samstag, 30. Juli 2022

Sind die Neanderthaler an einem Gehirnfehler ausgestorben?


aus derStandard.at, 30. Juli 2022,                                                                                                        zuJochen Ebmeiers Realien

Hirnfehler könnten zum Aussterben der Neandertaler beigetragen haben
Was unterscheidet moderne Menschen von Neandertalern? Eine neue Studie zeigt, dass ein Detail in der Gehirnentwicklung womöglich eine wichtige Rolle spielte

von Julia Sica

Neandertaler waren jenen Menschen, von denen heute lebende Populationen größtenteils abstammen, nicht unähnlich. In vielen Menschen steckt sogar noch heute ein nicht unerheblicher Anteil DNA, der auf Neandertaler zurückgeht: Die beiden Menschentypen zeugten offensichtlich miteinander Nachwuchs. Und doch ist dieser Anteil mit bis zu vier Prozent relativ gering. Anthropologinnen und Anthropologen rätseln seit langem, wie es dazu kam, dass der Neandertaler ausstarb. Auch die Genetik hat in den vergangenen Jahren immer häufiger wichtige Hinweise geliefert – und zeigte sogar, dass das uralte genetische Erbe dieses Menschentyps mitunter gegen Covid-19 hilfreich sein konnte.

Nun bringt eine Studie mit interessantem Aufbau einen neuen Aspekt ins Spiel. Ein Team zweier Max-Planck-Institute machte auf einen Unterschied zwischen modernen Menschen und Neandertalern aufmerksam: Letztere dürften bei der Teilung bestimmter Zellen öfter Probleme gehabt haben – und so von einem evolutionären Nachteil betroffen gewesen sein. Die Ergebnisse veröffentlichte das Team um Svante Pääbo im Fachjournal "Science Advances".

Stammzellen des Gehirns

Doch zunächst zu den Gemeinsamkeiten: Sowohl Neandertaler als auch noch heute lebende moderne Menschen haben im Gehirn einen besonders großen Neokortex, der für wichtige kognitive Fähigkeiten ausschlaggebend ist. Inwiefern sich die Gehirne doch unterschieden haben, darüber wissen Fachleute noch sehr wenig. Bekannt ist aber, dass moderne Menschen ungefähr bei hundert Aminosäuren Veränderungen zu Neandertalern und Denisova-Menschen – einem weiteren ausgestorbenen Menschentypus – haben.

Aus diesem Grund nahm sich das Forschungsteam, zu dem Expertinnen und Experten der Max-Planck-Institute für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) in Dresden und jenes für evolutionäre Anthropologie (MPI-EVA) in Leipzig gehören, diesen Bereich vor. Genauer untersuchte es neurale Stammzellen, aus denen sich die Zellen des Neokortex entwickeln. Wenn ein Mensch heranwächst, vermehren sich seine Körperzellen durch Zellteilung: Die Chromosomen, die die DNA tragen, verdoppeln sich im Zellkern, bewegen sich in entgegengesetzte Richtung – und eine große Zelle teilt sich in der Mitte in zwei kleine Zellen, die wiederum anwachsen und sich teilen können.

Essenzielle Phase zur Vermehrung

Damit die Zellteilung ordentlich funktioniert, sind auch Proteine wichtig. Bei wenigen dieser Proteine traten insgesamt sechs Veränderungen der Aminosäuren auf, die moderne und frühere Menschentypen unterscheiden. Wie genetische Analysen zeigen, sehen diese Aminosäuren bei Mäusen und Neandertalern identisch aus. Also nutzte das Forschungsteam Mäuse als Modellorganismen und verglich die Entwicklung in ihren Zellen mit Mäusezellen, in die die Aminosäurekonstellation moderner Menschen eingefügt wurde.

Es stellte sich heraus: Bei den Zellen, die genetisch in dieser Hinsicht modernen Menschen ähneln, war eine wichtige Phase verlängert – nämlich die Metaphase, "in der die Chromosomen für die Zellteilung vorbereitet werden", erklärt Mora-Bermúdez. "Dies führt zu weniger Fehlern bei der Verteilung der Chromosomen auf die Tochterzellen der neuralen Stammzellen, genau wie beim modernen Menschen."

Das Mikroskopbild zeigt cyanfarben markierte Chromosomen bei der Zellteilung. Links sind jene zu sehen, die in neuronalen Stammzellen moderner Menschen sichtbar gemacht wurden. Rechts sieht man ein ähnliches Bild, aber unter veränderten Bedingungen: Wenige Aminosäuren wurden abgewandelt, sodass die Zellteilung nicht richtig abläuft und sich ein Teil der Chromosomen (siehe roter Pfeil) nicht richtig zum neu entstehenden Zellkern bewegt. Mit ähnlichen Problemen dürfte die Zellteilung bei Neandertalern abgelaufen sein: Es gab doppelt so viele Trennungsfehler bei Chromosomen.

Man kann also vermuten, dass sich die Stammzellen moderner Menschen gewissermaßen mehr Zeit nehmen für die Vorbereitung der Zellteilung. Anders verhielt es sich offenbar bei Mäusen und auch Neandertalern und Schimpansen. Zum Test setzte das Forschungsteam die Neandertalerkonstellation in Hirnorganoide ein: Diese Zellkulturen simulieren, wie sich die ersten Stammzellen eines Menschen zu einem Gehirn entwickeln

Trisomien beim Menschen


Der Versuch bestätigte den Verdacht: Die wichtige Extrazeit, um sich auf die Zellteilung vorzubereiten, fehlte – es kam zu etwa doppelt so vielen Fehlern bei der Aufteilung der Chromosomen auf die neu entstehenden Zellen. Wenn Chromosomen nicht getrennt werden, kann es sein, dass anstelle von zwei Chromosomen einer Sorte nur ein Chromosom in einer neuen Zelle landet – oder gleich drei. Solche Trisomien und Monosomien können für die Weiterentwicklung fatal sein.

Bei Menschen sind nur wenige Trisomie-Arten bekannt, die nahezu alle Körperzellen betreffen und bei denen ein Kind trotzdem zur Welt kommen kann: Trisomie 13, 18 und 21 sowie Trisomien bei den Geschlechtschromosomen X und Y. Trisomie 21 ist auch als Down-Syndrom bekannt, bei Trisomie 13 und 18 sterben besonders viele Neugeborene kurz nach der Geburt. Bei mehreren X- und Y-Chromosomen sind die Folgen weniger schwerwiegend. Manche Menschen können mit gesundheitlichen Problemen, die sich aus Trisomien ergeben, gut leben. Bei einigen kann die ungleiche Chromosomenverteilung auch nur manche Zellen im Körper betreffen, die eher zu bestimmten Erkrankungen neigen.

Folgen für Gehirnfunktion

Die Forschungsergebnisse der Studie werfen aber vor allem ein neues Licht auf die menschliche Evolution: Sie ließen vermuten, "dass die Gehirnfunktion der Neandertaler stärker von Chromosomenfehlern beeinflusst wurde als die des modernen Menschen", sagt einer der Studienbetreuer, Wieland Huttner. Es ist also möglich, dass das Gehirn sich bei Neandertalern durch diese Fehler nicht in gleichem Ausmaß entwickeln konnte wie das der anderen Menschen – und sie damit schlechtere Voraussetzungen hatten, um sich evolutionär durchzusetzen.

Allerdings seien weitere Studien nötig, um diese Erkenntnisse zu stützen und besser zu verstehen, sagt Studienbetreuer Svante Pääbo. So ließe sich untersuchen, "ob sich die geringere Fehlerrate auf Merkmale des modernen Menschen auswirkt, die mit der Gehirnfunktion zusammenhängen". Abgesehen davon können die Ergebnisse der Studie auch daran erinnern, dass es sich lohnt, ausreichend Zeit zu nehmen, um wichtige Dinge gründlich angehen zu können. 

Kulturelle Aneignung!

                   zu öffentliche Angelegenheiten

1969 debütierte Jessys Norman in der Rolle der Elisabeth in Richard Wagners Oper Tannhäuser in der Deutschen Oper Berlin . Noch während der zweiten Pause bot das Haus ihre einen Vierjahresvertrag an. Das war der Beginn einer einzigartigen Karriere - bald sogar daheim in den USA.

Stellen Sie sich vor, damals hätte die hiesige B.Z. wegen ihrer unpassenden Hautfarbe ge-schrieben, das sei kulturelle Aneignung!

Man kann über Axel Springer sagen, was man will, aber Rassist war er nicht. Er hätte wohl gesagt, dass andere Völker sich auch die westliche Kultur aneignen, sei ein unum-gänglicher Schritt zu einer liberalen Weltgesellschaft.



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Donnerstag, 28. Juli 2022

Das Kind ist der Vater des Mannes.

L’enfant est le père de l’homme.
französische Redensart

Infantil nennen wir das zur Schau gestellte Bedürfnis. Dabei können die Kinder gar nichts dafür.
Als der Mann aus seiner häuslichen Botmäßigkeit in die Öffentlichkeit floh und zum Weltbürger erwuchs, hat er Weib und Kinder als Unerwachsene zurückgelassen. Und   so, wie es sich bei dem substantivierten Partizip ‚der Erwach-sene’ deutlich hörbar um eine verlegene Spätschöpfung handelt, ist auch das Kind ein semantischer Neuerwerb.Ursprünglich bezeichnet daz kint ein Verwandtschaftsverhältnis, nämlich Söhne und Töchter, unabhängig vom Alter. In Wolframs Parzival kann dann jeder Jüngere gegen-über jedem Älteren als kint erscheinen – ein Generationenverhältnis. Als Angehöriger eines definierten gesellschaftlichen Standes ist das Kind allerdings eine Kreation der bürgerlichen Gesellschaft. Denn weil die Frau ihre öffentliche Anerkennung schließlich durch Arbeit rechtfertigen konnte, bleibt das Kind in seiner Unerwachsenheit alleine übrig. Und jetzt sieht es so aus, als bilde es den bestimmten (bedürftigen) Gegensatz zur Erwachsenheit. Es ist aber kein Gegensatz, sondern ein Residuum. Als solches steht es nicht nur dem gemeinsamen Ursprung, sondern ironischerweise auch der ge-meinsamen Zukunft näher als manche andern. 

Ernsthafte Leute halten das Kindliche nämlich für die wahre Bestimmung des Menschen. „Neotenie“: so heißt die These, wonach sich der Evolutionsprozeß von Homo sapiens dadurch auszeichnet, daß er im Lauf der Generationen zu solchen Gestaltformen zurück-kehrt, die im Tierreich die spezifisch kindlichen waren. Die auffälligsten (aber nicht einzi-gen) Kennzeichen dieser „ewigen Unreife des Menschen“, wie sie Leszek Kolakowski nennt und die der Beitrag seines männlichen Anteils ist, sind die relative Übergröße des Kopfes, der Verlust des Haarkleids und die Überlänge der Gliedmaßen bei verkürztem Rumpf.


 
Doch wäre das Morphologische alles – es wäre nur ein naturgeschichtliches Kuriosum. Ihren Sinn erhält die Kindlichkeit unserer Körperformen aber durch unsere spezifisch kindliche Zugewandtheit zur Welt: die Neugier. „Nur der Mensch behält – neben den körperlichen Merkmalen der Jugendlichkeit – auch die kindliche Neugier bis ins hohe Alter. Unsere permanente Wißbegier ist ein persistierendes Jugendmerkmal, unser explo-ratives Forschen ist dem Spiel des Kindes verwandt“, sagt Konrad Lorenz. „Dieses Kind im Manne ist ein echter Lausbub. In der Brust des normalen Erwachsenen leben zwei Seelen, eine, die den hergebrachten Traditionen treu ist, und daneben die Seele des Re- volutionärs. “Und daß der Volksmund das Kind im Manne ansiedelt und nicht in der Frau, hat einen offenbaren guten Sinn. Mutwille, Vergeudung von Material und Lebenskraft, Unrast und Ungeduld, ewiges Streben nach Lob und Aner-kennung, Größentraum und der Blick in die Sterne – kaum ein Merkmal des spezifisch Kindlichen, das sich nicht auch als „typisch Mann“ verlästern ließe. Ein rein humaner Neuerwerb ist die charakteristische Nähe der Männlichkeit zum Kindlichen übrigens nicht. Sie ist in der Naturgeschichte vorgezeichnet. Quer durch die Tierwelt, mindestens jedoch bei den Säugern, scheint das Leistungsschema der weiblichen Organismen auf eine konstante, durchschnittliche Dauerbelastung angelegt zu sein, ohne dabei den kritischen Punkt zu erreichen. Dagegen strebt das männliche Individuum, wie es scheint, immer wieder bis an die Leistungsgrenze, aber „von Natur“ fehlt ihm die Ausdauer; er braucht Muße. Und das ist ein spezifisch kindlicher Zug – nämlich das energetische Prinzip eines Organismus, der noch wächst. Womöglich sind also Neotenie und Selbstbehauptung des Männlichen in der Gattungsgeschichte von Homo sapiens zwei Seiten desselben Vor-gangs (und man verstünde, wie Michael Jackson zum Größten Star Aller Zeiten werden konnte).[1]

„Zweierlei will der echte Mann: Gefahr und Spiel“, heißt es in den Reden Zarathustras. „Besser als ein Mann versteht das Weib die Kinder“, geht es zwar weiter, und nach nichts ringt (sagt Schiller) die weibliche Gefallsucht so sehr wie nach dem Schein des Kindlichen – von wegen der reinen Bedürftigkeit. „Aber der Mann ist kindlicher als das Weib. Im ech-ten Manne ist ein Kind versteckt, das will spielen.“ Denn das Kind ist eben keine reine Bedürftigkeit: Es will ja auch Gefahr und Spiel. Körperkraft und biologische Fruchtbar-keit teilt es wohl nicht mit den Männern – aber dieses, worauf es viel mehr ankommt: das bestimmte Gefühl, daß etwas fehlt. „Ich bin, was ich bin“ ist so unkindlich wie unmänn-lich. Denn es gibt Eines, was das Kind auf jeden Fall will: größer sein. L’enfant est le père de l’homme - der des Menschen sowieso, und der des Mannes erst recht.

Ein Mann kann nicht wieder zum Kind
werden, oder er wird kindisch. Aber muß er
nicht selbst wieder auf einer höheren Stufe
bestrebt sein, seine Wahrheit zu reproduzieren? 
Marx

Natürlich sind nicht Frauen so und Männer so. Sondern manche Neigungen wurden durch das Spiel von Auslese und Anpassung unter den Geschlechtern ungleichmäßig ver-teilt. Es ist keine Sache von entweder-oder, sondern von mehr oder weniger, und auch das nur im breiten Durchschnitt. Was im einzelnen zutrifft, muß sich im einzelnen erweisen. Wieviel daran Natur ist und wieviel bloß Kultur, ist interessant, aber nicht wichtig, denn über Wert und Unwert sagt es nichts. Allerdings gibt es historische Momente, da sind ge-wisse Neigungen mehr gefragt als andere.

Der aktuelle Moment ist die Ablösung der Wirtschafts- und Arbeitsgesellschaft durch... was? Immerhin ist es, nach dem aufrechten Gang und der Er-findung der Arbeit, unser dritter großer Sprung. Da wird es noch einige Generationen brauchen, bis sich die Konturen des Werdenden abzeichnen. Es ist aber das erstemal, daß wir in vollem Bewußtsein springen. Darum wissen wir immerhin, was nicht wieder wer-den wird: ein Reich von Kreislauf und Gleichgewicht. Es wird eine Zeit der Umbrüche. Und dafür wird das Genügen am eignen Hiersein und seinen Notdürften weniger taugen als der Mutwille mit dem eingewachsenen Stachel, daß er seine Werke rechtfertigen muß.

 Ob auch die neue Welt aus sich heraus eine ‚Substanz’ gene-riert, die sich zum ‚Maß’ ihrer Werte eignet, steht in den Sternen. Die Emergenz neuer Werte ist gar nicht abzusehen, aber die alten verfallen. Was in der Zwischenzeit immer Geltung beansprucht, wird sich foro publico selber rechtfertigen müssen, jedes auf eigne Faust. Anders gesagt, an die Stelle der unter der Verkleidung von ‚ökonomischer Notwen-digkeit’ um Befriedigung wett- eifernden Notdurften treten politische Entscheidungen im eminenten Sinn. Ob sich die weltliche Öffentlichkeit von der viralen Infektion durch ni-schige Privatismen reinigen kann, wird dabei zur Existenzfrage. Das postmoderne Be-dürfnisbefriedigungs- und Selbstverwirklichungsyndrom ist das Caput mortuum einer schon verflossenen Zeit. Freiwillig wird es nicht abtreten. So wird es nötig, im öffentli-chen Raum eine Zulassungsordnung einzurichten: Öffentliches Auftreten läßt sich nur rechtfertigen durch die Abenteuer des Selberdenkens und den Stolz, für seine Resultate gradezustehn – immer eingedenk, daß noch was fehlt. Es ist eine Bildungsaufgabe; die Bildungsaufgabe

Da trifft es sich gut, daß unsre Spezies darauf nicht erst wieder durch einen jahrtausende-langen Domestikationsprozeß schmerzhaft zugerichtet werden muß. Die Neigung dazu ist ihr doppelt gattungsgeschichtlich eingepflanzt, indem wir unter allen Lebensformen nicht nur die männlichste, sondern eben auch die kindlichste sind. Sie muß nur freigesetzt werden.


Rational und emotional sind zwei Paar Schuhe


aus scinexx.de                                                                                                                                     zuJochen Ebmeiers Realien

Selbstkontrolle im Gehirn verortet
Zwei Formen der Impulskontrolle gehen bei Kindern auf verschiedene Hirnareale zurück


Kinder entwickeln erst im Alter von drei bis vier Jahren die Fähigkeit, ihre Impulse zu kontrollieren. Welche Veränderungen im Gehirn hinter diesem wichtigen Entwicklungs-schritt stecken, haben nun Forschende erstmals aufgeklärt. Demnach hängt die Selbstkontrolle in eher „kühlen“, nicht emotionalen Situationen von der Reifung eines zentralen Kontrollnetzwerks ab, das unter anderem im Stirnhirn sitzt. Die Kontrolle emotionsgeladener Impulse wird hingegen von anderen Hirnarealen bestimmt.

Als Erwachsene besitzen wir die Fähigkeit, unsere Gedanken, Emotionen und unser Verhalten zu kontrollieren. Wir geben nicht wahllos unseren Impulsen nach und können dadurch strategisch handeln, konzentriert lernen und uns an soziale Regeln halten. Studien zeigen, dass wir dies dem sogenannten kognitiven Kontrollnetzwerk (sCCN) verdanken, einer engen Verschaltung von Hirnarealen im Stirn und Scheitellappen des Cortex mit tieferliegenden Zentren wie dem Thalamus, der unter anderem als Filter für Reize fungiert.

Zwei Arten der Impulskontrolle

Doch diese Fähigkeit zur Selbstkontrolle ist nicht angeboren: Kinder entwickeln sie erst im Alter zwischen drei und vier Jahren – ihre Impulskontrolle erlebt dabei einen regelrechten Entwicklungssprung. Was dabei im Gehirn passiert, war jedoch bisher unklar. Philipp Berger und seine Kollegen vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig haben deshalb diesen Entwicklungsschritt bei 37 drei- und vierjährigen Kindern in Verhaltensexperimenten und funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) untersucht.

Zunächst testeten die Forschenden dafür zwei Formen der Selbstkontrolle bei den Kindern. Im ersten Test der „heißen“ Impulskontrolle sollten die allein im Raum sitzenden Kinder der Versuchung widerstehen, eine Süßigkeit direkt zu verzehren. Motivation dafür lieferte die Versprechung einer größeren Süßigkeitsportion nach Ende der Testzeit. Im zweiten Test einer „kalten“ Selbstkontrolle sollten die Kinder nur dann einer Anweisung zum Klatschen oder einer Bewegung folgen, wenn diese von einem bestimmten Kuscheltier gegeben wurde.

Wandel zwischen drei und vier Jahren

Wie erwartet änderte sich die Reaktion der Kinder bei diesen Tests mit dem Alter: Die Dreijährigen schafften es in beiden Aufgaben noch nicht, ihren spontanen Impulsen zu widerstehen. Den meisten Vierjährigen gelang es dagegen, ihre Lust auf die Süßigkeit zugunsten der späteren Belohnung zu vertagen. Sie reagierten im „kalten“ Test auch korrekt auf das richtige Kuscheltier. Allerdings schnitten die Kinder dabei häufig je nach Aufgabentyp unterschiedlich gut ab.

Wie sich die Hirnaktivität der Kinder unterschied und welche Hirnareale für die Selbstkontrolle bei ihnen zuständig sind, enthüllten anschließend die Hirnscans. Das Forschungsteam wollte dabei vor allem wissen, wo die beiden verschiedenen Formen der Impulskontrolle verortet sind. „Bisher ist strittig, ob diese beiden Formen der Selbstkontrolle eine gemeinsame neuronale Basis haben oder ob sie auf voneinander unabhängigen Prozessen beruhen“, erklären Berger und seine Kollegen.

Unterschiedliche Hirnregionen

Es zeigte sich: Um den Test der „kalten“ Impulskontrolle zu bestehen, mussten wichtige Teile des kognitiven Kontrollnetzwerks bei den Kindern ausreichend ausgereift sein, darunter der rechte Scheitellappen und der präfrontale Cortex. Diese Region im Stirnhirn ist bei Erwachsenen primär für die Planung und Steuerung von Handlungen zuständig und gilt als besonders wichtig für die Selbstkontrolle. Je weiter diese Hirnbereiche bereits entwickelt und mit weiteren Hirnarealen des Kontrollnetzwerks verknüpft waren, desto besser bewältigen die Kinder die „kalte“ Selbstkontrolle.

Interessant jedoch: Für die Kontrolle „heißer“, emotionsträchtiger Impulse spielten Stirnhirn und Scheitellappen bei den Kindern eine geringere Rolle als gedacht. Stattdessen war dafür das Volumen der rechten Thalamushälfte und die Reifung des Gyrus supramarginalis entscheidend. Letzterer ist eng mit der Aufmerksamkeitssteuerung verknüpft, wie die Forschenden erklären.

Zweigeteilte Kontrolle

Damit sprechend diese Ergebnisse dafür, dass die verschiedenen Aspekte der Selbstkontrolle bei Kindern – und möglicherweise auch Erwachsenen – keineswegs von den gleichen Komponenten des kognitiven Kontrollnetzwerks gesteuert werden. Stattdessen gehen „heiße“ und „kalte“ Impulskontrolle offenbar auf unterschiedliche Verschaltungen und Areale im Gehirn zurück. „Verschiedene Komponenten des Kontrollnetzwerks sind demnach mit verschiedenen Aspekten der Impulskontrolle verknüpft“, so das Team.

Das könnte auch erklären, warum der Entwicklungssprung zur Kontrolle der „heißen“ und „kalten“ Impulse bei Kindern nicht zur gleichen Zeit erfolgen muss – und unterschiedlich gut ausgeprägt sein kann. So haben Studien beispielsweise gezeigt, dass beispielsweise bei Kindern mit ADHS diese beiden Aspekte der Selbstkontrolle oft nicht gleichem Maße betroffen sind. (Journal of Neuroscience, 2022; doi: 10.1523/JNEUROSCI.2235-21.2022)

Quelle: Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften
25. Juli 2022
von Nadja Podbregar

Nota. - Im Streit um die Willensfreiheit spielt dem deterministischen Lager unterschwellig die Lebenserfahrung in die Hände, wonach Stimmungen und verständige Erwägungen so dicht miteinander vermengt auftreten, dass man sie kaummehr unterscheiden kann. Da-von darf sich der gesunde Menschenverstand aber nicht täuschen lassen. Denn auch er wird zugeben, dass, was aus zwei verschiedenen Quellen stammt, kaum ein und dasselbe sein kann - unterscheidbar höchstens nach Graden. Doch zwei klar unterschiedene Stoffe können miteinander verrührt werden. Eine Vinaigrette aus Essig und Öl ist eine Emul-sion. Zu deren Besonderheiten zählt aber, dass sie rasch verzehrt werden muss, sonst zer-fällt sie. Weshalb überschlafen meistein guter Rat ist.
JE

Mittwoch, 27. Juli 2022

Öffentlichkeit – eine männliche Dimension.



           
  Das Prinzip der modernen Welt fordert, daß, was
jeder anerkennen soll, sich ihm als ein Berechtigtes zeige.
Hegel

All dem entgegen steht der Augenschein einer männlichen Vorherrschaft überall dort, wo Öffentlichkeit herrscht. Das kann auch gar nicht überraschen: Öffentlichkeit ist eine 'welt-hafte', mundane Dimension im Innern der selbstgezimmerten Nische Arbeitsgesellschaft. Sie ist gewissermaßen „das Außen nach innen gekehrt“. Ist sie eine männliche Erfindung? Jedenfalls konnte es nicht ausbleiben, daß sich Männer dort stets wohler gefühlt haben als die Frauen.

Allerdings ist die Öffentlichkeit erst ein Produkt der letzten zwei, dreihundert Jahre – mit der bürgerlichen Gesellschaft. Sie ist nicht zu verwechseln mit der politischen Macht. Die ist vor vielen tausend Jahren entstanden mit den Priesterköniginnen im Zeichen der Großen Mutter. Dabei ist semantische Vorsicht geboten. Politisch ist Herrschaft immer, wenn sie Macht von wenigen über die Vielen (polys) ist. Aber darum ist sie noch nicht öffentlich; das ist sie erst, wenn die Vielen selber untereinander in Verbindung stehen; denn dann kann die Idee aufkommen, daß die Wenigen sich zu rechtfertigen hätten. Politische Herrschaft wird erst unter der Prämisse des Repräsentativstaats “öffentlich”. Zu feudalen Zeiten haben die Familien der Großen die politische Macht wie ihre Privatsache behandelt – im Krieg, der von Männern durchgeführt, aber nicht nur von ihnen geführt wurde.

Entstanden ist Öffentlichkeit als Exklave an den Rändern der Kunstnischen. In Gesell-  schaften auf der Stufe einfacher Reproduktion sind die „getrennten Hauswirtschaften“ (Marx-Engels) die ökonomischen Grundgege-benheiten. Arbeitsteilung gibt es nur im Innern. Die Macht liegt im Haus. Und ob die Männer dort mächtiger sind als die Frauen, ist eine heikle Frage – weil keiner sagen kann, worauf sie sich bezieht. Im Haushalt wiegt die Scheidung zwischen den Generationen schwerer als die zwischen den Geschlechtern, selbst im antiken Rom, wo die Mater familias politisch überhaupt keine Rechte hatte – wohl aber kultisch, was im Alltag der vom Politischen ausgeschlossenen Masse viel wichtiger war. 

Im alten Europa besteht (selbst in den Städten) zwischen den Haushalten so wenig Kon-takt wie in Asien zwischen den Dorfgemeinschaften – nämlich nur zufällig, beim Verpras-sen der Überschüsse, beim Spiel, beim Kult, beim Fest. ‚Das Politische’ greift nur gele-gentlich ins Leben ein, als Krieg und Plünderung (und danach als Steuer). Doch nicht immer werden Überschüsse verpraßt. Manchmal tauscht man, was man übrig hat, gegen das, was der andere übrig hat. Das kann man ritualisieren. Dabei waren Männer aktiver. Wenn dann zum Zweck dieses Austauschs produziert wird, entsteht Arbeitsteilung zwi-schen den Haushalten, und die Männer gewinnen gesellschaftliche Macht – weil so Gesellschaft erst entsteht.


 Der Handel schafft Öffentlichkeit – und durch verallgemeinerte Arbeitsteilung eine erweiterte Reproduktion. Die Frauen bleiben bei Kindern, Küche, Kirche. Solange sie sich’s leisten können: Denn mit der großen Industrie verlagert sich der wirtschaftliche Elementarprozeß nach außen, in den Markt, und die Öffentlichkeit greift in die Haushalte ein: Arbeit wird Lohnarbeit. Die Proletarierfrauen geraten in den Sog einer Arbeitsteilung, auf die sie gern verzichtet hätten. Gegenüber von Proletariern und Proletarierinnen stehen jetzt freilich fast nur Männer. Daß das Sprachgebaren des modernen Feminismus so reichlich aus dem Wortschatz des proletarischen Klassenkampfs schöpft, hat hier seine Ursache. 

Aber keinen Grund. Mit der Öffentlichkeit hatten die Männer bei Spielen, Kult und Festen ‚die Welt’ in ihr sorglich gemauertes Loch zurückgeholt. In der Öffentlichkeit hatten sie sich eine mundane Art von Reife anerfunden. Der öffentliche Mann, der Welt-Bürger, ist der Erwachsene. Die große Masse wurde es nicht als Unternehmer, sondern als Lohnarbeiter, das ist wahr, aber besser so als gar nicht. Dies war die größte zivilisatorische Leistung der bürgerlichen Gesellschaft: die Schaffung eines offenen Raumes, zu dem prinzipiell Jeder Zutritt hat. Er ist aber ungewiß und fraglich – weil jeder dort vor jedem andern bestehen muß, denn sein Medium ist (wechselseitige) Anerkennung, und die ist problematisch. Sie versteht sich nicht von selbst, man muß sie rechtfertigen. Dort muß er, anders als in den agrarischen Umwelten, wo Blut und Boden gelten, etwas tun, um wer zu sein – konkurrierend. In der Öffentlichkeit gilt Keines an und für sich, sondern Alle nur vermittelt durch einander. 

Und seither ist das Politische öffentlich schlechthin. Anerkennung findet es nur durch seine Leistung. Die bürgerliche Welt verdoppelt einen Jeden zu einer privaten und einer öffentlichen Person. Aber er ist das eine als das andere: Ob er sich öffentlich hat rechtfertigen können, macht gerade auch privat den entscheidenden Unterschied. (Man erkennt es an der Hinterlassenschaft der DDR. In einer Kultur, wo keine Öffentlichkeit war, wuchsen Menschen auf, die nicht meinten, sich rechtfertigen zu sollen.)[i] Die Verdoppelung hat ihm eine kritische Instanz selber eingebaut – “forum” internum. Das ist es, was ihn erwachsen macht. Und es ist die sachliche Bedingung politischer Freiheit.

Ort der Vermittlung zwischen Privat und Öffentlich – zwischen individuellem Bedürfnis und gesellschaftlichem Wert – ist die große Industrie; für die Masse der Proletarier ein durchaus prekärer Boden der Anerkennung, nämlich nur für die, die Arbeit haben. Indem die Frauen dem Sog des Arbeitsmarkts folgten und sich von Kindern, Küche, Kirche lösten, sind auch sie erwachsen geworden. Anerkennung ist auch ihnen nicht zugefallen, sie mußten sie rechtfertigen. Es reichte nicht, wer zu sein, man und frau muß etwas tun, um was zu werden.
 
Das Private ist politisch.
Alice Schwarzer
Ich will so bleiben, wie ich bin!
- Du darfst, du darfst.
 Aus der Werbung
  Ihre Bedürfnisse: also ihre Natur.
 Deutsche Ideologie











Das war die Moderne. Die Postmoderne hat die Öffentlichkeit stattdessen zum Showplatz allgemeinen Infantilismus’ verflacht. Sie ist nicht mehr Forum der Rechtfertigung, sondern ein Brettl bloßen Auftritts. Da muß man nix können, nix wissen, da will man in Erscheinung treten. Küblböck, Westerwelle, Wowereit – ich bin, was ich bin, und muß mich nicht genieren. Das Politische wird zur Privatnummer. Daß das an der Medialisierung des Öffentlichen selber läge, ist eine optische Täuschung. Es liegt am Niedergang der industriellen Zivilisation; aber anders, als man denkt.
 
Begonnen hat es ‘68 mit der Revolte gegen das „Leistungsprinzip“. Gegen das Prinzip, daß man etwas tun müsse, um was zu sein. Descartes’ Ego mußte zu dem Behuf immerhin denken. Das emergierende postmoderne Selbst rechtfertigte sich schon durch seine Notdurft, mal ökonomisch, mal triebökonomisch. Bedürfen setzt Identität, Zehren ersetzt Leistung. “Das Private ist politisch” ist in der Tat ein weibliches Prinzip; der moderne Feminismus hat nur auf die Spitze getrieben, was im Zug der Zeit lag, und das erklärt, warum er, minoritär wie sonstwas, dennoch ganz korrekt die öffentliche Meinung modelliert. Jedefrau ist schön, jedefrau ist klug, jedefrau ist begehrenswert (sogar Eva Mattes).

Das hat seine Vorgeschichte im wirklichen Leben. Die Arbeitsge-sellschaft hat sich von innen überholt – durch die Überformung der produktiven Arbeit von der Verwaltung. An die Stelle des Arbeiters, dessen Handgriffe zusehends die Maschine übernimmt, tritt der Angestellte, der die Realprozesse vermittelnd begleitet. Und an die Stelle der Unternehmer treten die Vollzugsbeamten des Kapitals. Ob man es, mit James Burnham, als the managerial revolution beschreibt oder, mit Bruno Rizzi, als la bureaucratisation du monde - es ist derselbe Prozeß der Ersetzung lebendiger Arbeit durch fixes Kapital. Es ist gar nicht mehr das Individuum, das hier ‚leistet’, sondern die in die Maschinen eingebaute Intelligenz ihrer Konstrukteure.

„Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört auf und muß aufhören, die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert das Maß des Gebrauchswerts.“ Das Wertgesetz verfällt, die Teilung der Arbeit erübrigt am Ende die Arbeit. 

Wird die Arbeit von der intelligenten Maschine besorgt, verlieren die Werte ihr angestammtes Maß. Alles Maß verliert auch das Bedürfnis. Aber das macht ihm nichts. Es erhält sich als Esse a se, Causa sui, Begründung seiner-selbst. In einer Kultur, wo reduzierter Luxus wie Notdurft wirkt, muß es gar nicht erst als Leiden, sondern darf gleich als Selbstverwirklichung in die Welt treten. Wer oder was ist aber ein Selbst? Es ist, was es braucht. Sein Grund ist reinziehn, was Spaß macht, und darauf hat es seinen anteiligen Anspruch. Quote erübrigt Rechtfertigung – in den öffentlichsten Berufen, die es gibt: Staatsdienst und Medien.


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1) Die proletarische Existenzweise ist charakterisiert durch Unsicherheit. Das erfordert Verantwortung. Was Jörg Schönbohm Zwangsproletarisierung nennt, war in Wahrheit Klientifizierung. Das ist ein feudales Verhältnis, kein industrielles.
<<<zurück Der Mann am Herd, oder Die Domestikation des Männlichen.


Canaletto-Bellotto in Elbflorenz.


aus FAZ.NET, 26. 7. 2022                    Dresden vom rechten Elbufer unterhalb der Augustusbrücke            zu Geschmackssachen

Dresdner Fotoalbum des Rokokos

Wie der Neffe des venezianischen Canaletto in Sachsen die Kunst revolutionierte und was sich De Chirico später genau ansah: Dresden zeigt die ganze Kunstfertigkeit „seines“ Bernardo Bellotto

von Stefan Trinks

Im Jahr 1747 kam der venezianische Maler Bernardo Bellotto nach Dresden, angelockt durch ein Jahresgehalt von sehr respektablen 1750 Talern, die ihm der sächsische Kurfürst Friedrich August III. bot. Diese legte er offenkundig gut an: Ein Dresdner Versicherung-sinventar von 1762, nach Zerstörung seines Hauses im Siebenjährigen Krieg, führt Schä-den im Wert von nicht weniger als fünfzigtausend Talern auf, darunter 515 Bücher und mehrere Druckpressen für seine gut verkäuflichen Radierungen, zudem ein sehr wert-volles Meißner Service als Geschenk seines Mäzens, des sächsischen Premierministers Heinrich Graf von Brühl, für den er viele seiner Gemälde ein zweites Mal fertigte. Doch aus Bellottos anfangs rein materieller Lockung nach Dresden wurde bald schon echte Begeisterung für die Residenzkapitale seines Dienstherren, die so völlig anders war als seine Heimatstadt Venedig.

Statt der mäandernden Kanäle und überwiegend dunklen Gassen nur ein großer Fluss; statt der prächtigen Renaissancepaläste am Rialto ein Haufen mittelalterliche Bruchbuden und hier und da ein ansehnlicheres Barockpalais dazwischen. Aber der Künstler, der wie schon sein Onkel Antonio Canal nach venezianischer Art Canaletto („Kanälchen“) ge­nannt wurde, wie zweihundert Jahre zuvor schon der Renaissancemaler Jacopo Ro­busti aus der Lagunenstadt in Tintoretto-„Färberchen“ umgetauft worden war, venezianisierte die sächsische Hauptstadt: Bellotto verwandelte Dresden in seinen Bildern in eine pulsie-rend mediterrane Stadt. Und wie schon die von den Touristen der Grand Tour gern gekauften gemalten Souvenir-Capriccios Piranesis in Rom und Canalettos Veduten in Venedig die ursprünglichen Bilder im Kopf in der fernen Heimat bald überlagerten, so überschreibt und übermalt Bellotto das Bild im Kopf, das die Dresdner und Pirnaer von ihren Städten hatten, sehr schnell mit neuen, großzügigeren.


Pirna von Copitz aus  1754-1756 

Mit Recht heißt die große Schau zum 300. Geburtstag des malenden Stadtver­hexers in der Galerie Alte Meister zu Dresden daher „Bernardo Bellotto – Zauber des Realen“. Tat-sächlich idealisiert er kaum noch, ganz anders als sein Onkel mit dessen immer aufgeräum-ten und geschönten Venedigansichten. Vielmehr lehrt er die Sachsen, ihre baulichen und verhaltensmäßigen Eigenarten mit mediterranen Augen zu sehen.

Sein Blick sieht auch schmutzige Wäsche

Wenn Bellotto etwa 1753 die „Schiffvorstadt in Pirna“ malt, fährt der Blick erst einmal nach kurzem Gleiten über eine spiegelnde Elbebucht gegen die Wand. Spitzweghaft stehen da von der Mitte des Bildes an bucklig mittelalterliche Fachwerkhäuschen mit verbretterten Obergeschossen und löchrigen Dächern. Das Schloss hoch oben auf dem Felsen gewahrt man nur in einem winzigen Anschnitt auf der linken Bildseite. Der Seitenarm der Elbe im Vordergrund ist so flach, dass das Wasser den saufenden Kühen nur bis knapp über die Hufe geht. Während aber am Ufer Wäschetag ist und drei Personen eine abenteuerliche Holzkonstruktion zum Trocknen der Tücher errichtet haben, stutzt man über ein gelblich braunes Laken auf dem Gestänge. Das soll nicht nur sauber, sondern rein sein? Überragt wird das seltsame Trockengestell von den spinnrigen Fingern eines abgestorbenen Weidenbaums, durch den Bellotto den Blick zu den Bruchbuden auf der anderen Seite der Bucht weiterleitet. Dort ist der – neben den Rindern im Wasser – zweite Schuldige auszumachen: ein Aborterker, anhand dessen die Wand nach unten ziehender Schmutzspur klar ist, warum in diesem Teil der Elbe Wäsche und Gewaschene nie blütenweiß werden, ähnlich wie auch in Venedig oft bis heute wenig vertrauenswürdiges Wasser in den Kanälen und Leitungen fließt.

Trümmer der ehem. Kreuzkirche in Dresden, 1765

Ebenso fallen auf dem zwei Jahre zuvor entstandenen monumentalen „Altmarkt in Dresden von der Seegasse aus“ nicht die Frauenkirche, die nur im Anschnitt zu sehen ist, oder die unübersehbare Menschenmenge an diesem quirligen Markttag ins Auge, die lediglich aus pointillistisch hingetupften Kopfpunkten in Orange, Grün, Gelb und Rot besteht. Vielmehr blickt man vorrangig auf die vorn im Schatten lungernden Sänftenträger, die ihre Chaisen abgestellt haben und auf Kundschaft warten. Diese Taxifahrer des achtzehnten Jahrhunderts sehen dabei ähnlich wüst aus wie ihre heutigen Pendants, und ähnlich mitgenommen zerzaust sieht auch der links im Vordergrund feilgebotene Hammel aus, über dessen Verkauf sich zwei gut gekleidete Herren unterhalten.

Was die malerische Darstellung von Architektur betrifft, blieb Bellotto überwiegend beim Erfolgsmodell seines Onkels und bei seinem „Lehrer“ in Sachen Veduten, dem niederländischen Maler Caspar van Wittel, der in Dresden mit einem hervorragenden Bildbeispiel vertreten ist. Er schuf detailverliebte Straßenprospekte, die mit ihrem leichten Grünstich und Sepiaschleier auf den Fassaden auch Fotografien der Fünfzigerjahre sein könnten, was durch die deutlich harscheren Licht-Schatten-Kontraste verstärkt wird, die jedes Oberflächendetail überblenden und die Bauten grafisch wirken lassen. Im Vergleich zu seinem Onkel hat der eine Generation jüngere Bellotto auch mehr Augen für die Schönheit und Skurrilität von Ruinen: Sein himmelragendes Großformat „Die Trümmer der ehemaligen Kreuzkirche in Dresden“ von 1765 könnte ebenso vom Surrealisten Franz Radziwill stammen: Selbst der Turmstumpf der Kreuzkirche, der da Stein für Stein abgetragen wird, ragt noch achteinhalb Geschosse hoch und wirkt mit den in ihm wuselnden Abrissarbeitern wie ein gigantischer Termitenhaufen. Der im Siebenjährigen Krieg stark beschädigte mittelalterliche Turm konnte nicht ohne Gefahr für seine Umgebung gesprengt werden, daher die fitzelige Arbeit, die rein manuell vonstattengeht. Vor dem Trümmerhaufen aus Bauschutt werkeln Steinmetze schon am Wiederaufbau der Kirche. Und in der Galerie bilden sich wiederum vor den Trümmern Menschentrauben: Ältere Dresdner, die den Untergang der Stadt im Zweiten Weltkrieg noch miterlebt haben, stehen besonders lange und mit tränenverhangenen Auge



Der Marktplatz von Pirna  1753
Einerseits zeigt die Schau ausführlich das Werden Bellottos: seine eigene Bildungsreise nach Florenz, Rom, Turin sowie Verona mit den Etschbrücken und spätere Zwischenstationen in Wien und München, schließlich in der finanziellen Krise nach dem Siebenjährigen Krieg mit dem nach Polen „geflohenen“ Friedrich August III. von 1766 an auch Warschau (zu dem im Semperbau ein ganzes Kabinett mit Ansichten der polnischen Residenzstadt und ihrer Umgebung eingerichtet ist). Ebenso wird der fesselnde elfteilige Zyklus mit den riesigen Ansichten Pirnas präsentiert und damit die noch einmal größere Freiheit, die Bellotto sich bei diesem freien Sujet nimmt. Speziell aber die präimpressionistischen Zeichnungen von Landschaften und die Capriccios „Lagune mit Turm“ oder der „Turm von Maghera“ aus der Museum & Art Gallery in Bristol sind Offenbarungen. Angesichts der fahlen Haus-Gesichter mit großen, mundartigen Portalbögen in einer surreal leeren Wasserlandschaft versteht man intuitiv, was Giorgio de Chirico im zwanzigsten Jahrhundert so sehr an Bellottos bisweilen bizarren Architekturen fasziniert hat.

Andererseits werden auch die technischen Grundlagen der Kunst nicht vernachlässigt, wenn gezeigt wird, wie Bellotto die Kreidevorzeichnungen seiner Architekturen in der Farbe aufgehen lässt, Baudetails ins noch frische Öl ritzt, Figuren nur tupft und für die meisten seiner tief nach unten gezogenen Himmel nurmehr eine einzige Malschicht anlegt.

Beides, der Augenschmaus und die am Objekt gezeigte Techne Bellottos, machen die Schau zu einer der ansehnlichsten und instruktivsten des Jahres.


Zauber des Realen - In der Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden; bis zum 28. August. Der wie gewohnt vorzügliche Katalog im Sandstein Verlag kostet 48 Euro.

Die Festung Königstein 1756-1758.

Nota. - Je mehr Realitätssinn in die Rokokomalerei kommt, umso mehr nähert sie sich der gegen Ende des Ancien Régime aufkommenden romantischen Stimmung - wie übrigens in den englischen Gärten der Übergang von Kent zu Brown; und wäre nicht in Frankreich eine Revolution ausgebrochen, wär's vielleicht auf ein Frühbiedermeier hinausgelaufen. Während der Onkel London noch unter italienischem Himmel malte, ist der Neffe fast so in den Verfall verliebt wie sein Landsmann Guardi

Ein Wort zu Casper van Wittel, bekannter vielleicht als Gaspare Vanvitello. Er hatte sich nicht wie mancher "iatlisierender"  Niederländer darauf beschränkt, daheim Phantasielandschaften mit italienischer Beleuchtung auf die Leinwand zu bringen, sondern war noch ganz jung nach Rom gegangen, wo er triumphal die Kunst der holländischen Stadtlandschaften einführt: Die weltberühmte italienische Vedutenkunst war die Erfindung eines Holländers.
JE

Dienstag, 26. Juli 2022

Der Mann am Herd, oder: Die Domestikation des Männlichen.

 
Aus der Sorge entspringt die Wirtschaft
Friedrich Bülow, Nationalökonom

Gute zwei Millionen Jahre lang haben unsere steinzeitlichen Vorfahren in einem ökologi-schen Gleichgewicht mit ihrer Umwelt zugebracht. Sie haben gejagt und gesammelt, die Anzahl der Menschen war begrenzt durch das vorhandene Angebot an Lebensmitteln. War ein Landstrich abgeweidet, zog man weiter – von einer Nische zur andern. Manchmal geschah eine Katastrophe, bei der eine ganze Population zugrunde gehen mochte. Aber die war unvorhersehbar, man konnte nicht vorsorgen.  

Wie auch? Viel Vorrat konnten sie auf ihren Wanderungen nicht tra-gen; und wie sollten sie ihn haltbar machen? Gelegentliche Überschüs-se mußten vergeudet werden, im Fest. Der Überfluß war ebenso un-vorhersehbar wie die Not. Denn beide waren Ausnahmen, die die Regel bestätigen: das ökologische Gleichgewicht. Unsere Vorfahren darbten nicht stets am Rande des Untergangs. Sonst hätten sie sich nicht von Ostafrika aus über die ganze Welt verbreiten können. Und nicht in steter Sorge: sonst hätten sie kaum die Muße gehabt, uns jene prachtvollen Zeugnisse ihres künstleri-schen Genies zu hinterlassen, die wir in den Höhlen der Dordogne und der kantabrischen Berge.

Bleiben oder wandern, das war die einzige Alternative. Mehr gab es nicht vorzusehen. Mit dem Übergang zum Getreidebau und der Seßhaftigkeit änderte sich das. Das war die „neo-lithische Revolution“, nach der Erfindung des aufrechten Ganges die zweite dramatische, nämlich selbstgemachte Wendung in unserer Gattungsgeschichte. Sie begann vor etwa zwölftausend Jahren bei Jericho im Tal des Jordan. Von nun an gab es einen regelmäßigen Überschuß – auf den man zählen konnte und mit dem man rechnen mußte.

Denn dieser Überschuß war haltbar: Man kann ihn akkumulieren. Wozu er dienen soll, muß und darf nicht der unmittelbaren Notdurft überlassen bleiben. Getreide ist seiner natürlichen Beschaffenheit nach nicht nur haltbar, sondern vor allem auch unendlich teil-bar. Würde er sogleich verteilt, wird er verzehrt und vergeudet. Es muß aber ein Vorrat angelegt werden für die Zeit bis zur neuen Ernte. Doch was „notwendig“ ist, läßt sich nun nicht mehr mit bloßem Augenschein ermessen. Man muß es errechnen. Aus der Sorge wird Vorsorge. Man braucht einen Plan. 

Der Plan 


Um zu planen, muß man messen. Muß man kombinieren und schlußfolgern. Logik ist die Ökonomik des Vorstellens. Die Welt ‚ist’ nur, wenn sie gedacht wird. Aber eine logisch konstruierte Welt ist beinahe keine mehr: sondern eine selbstgezimmerte Umwelt mit mondänem Blendgiebel. Die Welt ist vor allem offener Raum. Jene planvolle Unter-Welt oder Über-Nische ist – vor allem andern – knappe Zeit. Denn ab jetzt regiert die Arbeit.
 
Die grundsätzliche Möglichkeit der Ertragssteigerung setzt das natürliche Gleichgewicht zwischen Nahrungsangebot und Bevölkerungsentwicklung außer Kraft. Die Population kann jetzt ständig wachsen – und so wird die Überbevölkerung endemisch. Jede Mißernte und jede äußere Störung macht deutlich, welcher Teil des Volks „weniger wichtig“ und zur Not entbehrlich ist. Seit die Entscheidung über den Plan von einem Volksteil mono-polisiert wird, gibt es eine überschüssige Bevölkerung – der andre Teil! Der Übergang zum Ackerbau ist der Anfang der Politik und der Beginn der Klassengesellschaft. Der Kampf um die Verteilung wird zum Angelpunkt der Condition humaine. Aus der Wirt-schaft entspringt die Sorge. Durch das Wirtschaften wird Notdurft zum ‚Gattungswesen’ des Menschen.


Tätige Sorge ist Arbeit. Sie ist das universelle Mit-tel, die Notdurft zu befriedigen. Nicht Risiko, son-dern Befriedigung heißt seither das Entwicklungs-gesetz. Was jedermanns und jederfraus Eigenstes ist: ihr Bedürfnis, wird durch Zirkulation zum Spezifikum von Allen generalisiert. Zur Notdurft-an-sich tritt Befriedigung-an-sich: der „Wert“ der Nationalökonomen. Was eine Sache wert ist, mißt sich daran, wieviel Arbeit es braucht, um sie zu be-schaffen. An diesem Maßstab kann alles miteinan-der verglichen und gegeneinander getauscht wer-den. Die Verteilung der Arbeit auf die Bedürfnisse durch den Austausch von Waren wird  zum Nor-malzustand des Homo sapiens. Ihr letztes Wort war die Große Industrie des 19. und 20. Jahrhun-derts.
 

Ausgezeichneter Ort der Sorge und Vorsorge ist der Haushalt – gr. oikos, lat. familia. Er ist aber eben eine Nische höherer Ordnung, eine, die Kraft und Ingenium erheischt, denn sie will eingerichtet und ausgebaut sein. Und das Gleichgewicht in ihrem Innern ist nicht ökologisch vorgegeben, sondern wird erst durch Politik jedesmal neu austariert. Im Gro-ßen wie im Kleinen: „Die Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft“ heißt nichts anderes als daß sich ‚die Gesellschaft’ selber als Ein Großer Haushalt vorkommt. Denn Notdurft ist ihre Klammer, Einsicht in die Notwendigkeit lautet ihre Moral. Und Politische Ökono-mie heißt ihre Gesetzestafel. Aus der Welt ist der Mensch in eine Nische zurückgekehrt, die er sich selbst gemauert hat. 

Homo faber

Der Mann ist Arbeitnehmer und Soldat.
Gottfried Benn
Des Weibes ewige Politik ist die Eroberung des Mannes.
Oswald Spengler
  Man muß sich Sisyphus glücklich vorstellen.
  Albert Camus

Daß es der Gattung Homo überhaupt gelang, die Energien der männlichen Population für Ernährung und Aufzucht der Nachkommen zu erschließen, war ein großer Selektions-vorsprung gegenüber konkurrierenden Arten. Indem dabei die spezifisch männliche Tä-tigkeit – die Jagd – zugleich die elementare Lebensweise prägte – die Vaganz -, wurde die Familie Homo zur gewissermaßen männlichsten unter den Lebewesen.

Mit der Seßhaftigkeit trat der weibliche Arbeitstyp, Sammeln und Hackbau, in den Vor-dergrund: Das lateinische cultura bedeutet ursprünglich Ackerbau und kommt von colle-re, sammeln. Der Ackerbau ist – anders als der Hackbau, aber wie die Jagd – körperliche Schwerarbeit. Er wird Männersache. Er verlangt aber auch – wie der Hackbau, anders als die Jagd – Gleichmut und Ausdauer. Der Mann richtet sich nach der Frau.

 

Symbolisch ist die Zähmung des Feuers. Zunächst ist das Feuer, quer durch die Kulturen, ein Symbol des Männlichen, es steht für seine Kraft und Gefährlichkeit. Aber gerade dar-um gehört es in sichere Hände. Der Mann entzündet es, aber die Frau hat es in ihrer Hut. Auch das ändert sich mit der Seßhaftigkeit. Aus der Nutzbarmachung des Feuers entste-hen die ersten Berufe – Ofensetzer, Metallurge, Schmied; Männer, die an den heimischen Herd gebunden sind. Das Schmelzen von Kupfererz dürfte als Nebenprodukt beim Gla-sieren von Keramik entdeckt worden sein. Neugier, Spieltrieb und Erfindungsgeist – dienstbar gemacht für den Innenausbau der Nische. Der Mann am Herd ist das Sinnbild der kommenden Jahrtausende: Homo faber. Er symbolisiert die Einvernahme des Mut-willens durch die Sorge. 

Krieg und Klassenspaltung 


Doch Schmiede waren nur die wenigsten. Alle andern waren Bauern und taten mehr oder weniger dasselbe – Ackerbau und häusliches Handwerk. Bis sich die Gesellschaft in Her-ren und Knechte schied. Dazwischen liegt die Erfindung des Krieges. Auch die Wanderer kannten neben der Jagd schon den Raub. Doch erst die Bauern führen Krieg – seit sie einen Boden zu verteidigen haben: ihre Nische, den Haushalt, den Herd.[1] Und den Krieg führen sie typischerweise gegen die Nomadenstämme – jene Volksgruppen, die die Seßhaftigkeit hochmütig verschmähten und jagend hinter den wilden Tieren herzogen, bis sie zu deren Hirten wurden. Das sind die Herrenvölker – selbst Jahwe zog den Hirten Abel dem Bauern Kain vor.

Die Herren verschmähen die behäbige Lebensart der Bauern, aber ihre Ernten verschmähen sie nicht, und regelmäßig er-scheinen sie unter den Mauern, um zu plündern – von Jeri-cho bis Samarkand und Timbuktu. Dem Ansturm der Herren von außen stellen sich die Herren im Innern entgegen. Aus der Kaste spezialisierter Krieger bildet sich, im Bündnis mit den Priesterinnen der Großen Mutter, eine herrschende Klas-se. Das sind Herren im Dienste der Frauen. Sie herrschen, aber sozusagen nur “in Kommission”. (Das ist der wahre Kern von Bachofens ‚Matriarchat’.)

Und die große Masse sinkt herab zu Fronbauern am Nil, zu Staatssklaven an Euphrat und Tigris. Wo ist das mutwillige Element geblieben, das die Bildung der Gattung Homo ein-mal hervorgerufen hatte, wo die Freiheit? In der Arbeitsgesellschaft sind die Gelegenhei-ten, nein zu sagen, ungleich verteilt. Wählen kann der Herr, aber der muß nicht arbeiten. Das Los des werktätigen Knechts ist Sorge. Der wählt nicht frei zwischen den Möglich-keiten, sondern wägt ab zwischen mehr oder weniger Notwendigem. Das Gefühl, ge-zwungen zu sein, wird er nicht los.

Und wenn er glaubt, anderswo besser dran zu sein, halten ihn Weib und Kinder an der Scholle fest – wenn er eine eigne Scholle hat! Dann bleibt ihm die Hoffnung, durch Mehrarbeit und vorsorgliche Planung einen Überschuß wenn nicht heute, dann vielleicht morgen zu erzielen und auch ein Stücklein Freiheit zu ergattern. Und so jedes Jahr aufs neu. Er ist gar kein faber, sondern ein Haushälter: Homo oeconomicus. Der verhäuslich-te, mit Konrad Lorenz zu reden: der verhausschweinte Mann.

Der Unternehmer

Die Vollendung der Arbeitsgesellschaft zur großen Industrie war kein Naturvorgang. Es war ein drama-tischer Prozeß mit Brüchen und Sprüngen, durch die jeweils das männliche Element wieder freigelassen wird und sich zu neuen Typen stilisiert. Immer nur eine kleine Vorhut aus der großen Masse der Homini oeconomici, aber ein Ferment, das neue Wirklichkei-ten schafft. So tritt während der germanischen Wan-derungen aus den Trümmern der Sklavenhaltergesell-schaft der Fahrende Ritter.

Aber schon bald setzt er sich auf der Scholle fest und hält Hof. Die „Idiotie des Landlebens“ (Marx) holt ihn ein. Der Mutwille, das Handeln fristet ein Ni-schendasein – beim Krämer zwischen den Stadtmau-ern, beim reisenden Kaufmann zwischen den Städ-ten. 

Damit er in Gestalt des Unternehmers noch einmal ganz nach vorn treten konnte, brauchte es nicht weniger als die industrielle Revolution – die zugleich die breite Masse der Ackerleute aus ihren Nischen jagt und ins Elend der Lohnarbeit „frei setzt“. Im sel-ben Maß, wie sich dann der Proletarier zum Angestellten zurichtet, verhäuslicht der Un-ternehmer zum Manager – Funktionär und Verwalter des Kapitals. „Die Sicherheit ist der höchste soziale Begriff der bürgerlichen Gesellschaft“, ahnte Marx. Die ehedem Weite Welt als Bedürfnisbefriedigungs- anstalt, die Große Industrie ganz ohne Unternehmer, der Große Plan ganz ohne Freiheit: das war dann der realexistierende Wie-hieß-er-doch-gleich, die feudalbürokratische Hyper-Nische. Sie ist 
untergegangen wie Ninive und Babylon.   

Welche die männlichsten Männer sind, haben durch Zuchtwahl noch immer die Frauen bestimmt, und der domestizierte Mann läßt sich’s gefallen. Der Mutwille konnte durch all die Jahrtausende nur an den Rändern überleben. Als Kondottiere und Kon-quistador, als Seefahrer, Pirat und Entdecker; als Erfinder, Spinner und Philosoph, und schließlich als Künstler und Revolutionär. All diese Ausreißer und Grenzgänger der Arbeitsgesellschaft müßten sich rechtfertigen, und das könnten sie nur durch den Erfolg; der ist aber den wenigsten vergönnt.

[1] Die antiken Kriegsgötter waren ursprünglich Ackergötter; so Ares-Mars, der – als Fruchtbar-keitsgott – später mit Eros-Amor in Beziehung gebracht wurde.
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Dynamische Darstellung, statische Kritik, I.

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