Sonntag, 26. Mai 2024

Das Ding an sich und der ästhetische Zustand.

                                 zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Die Vorstellung vom Ansich-Sein der Dinge ist unhintergehbar. Die Vorstellung reflektiert nicht, sie schaut nur an.

Anschauung ist die primäre Reflexion, aber davon weiß sie nichts. Dazu bedürfte sie der Begriffe. Die Anschauung ist vom Ding nur ein Bild, und als ein solches ist es nicht be-stimmt, und nur, so lange es nicht als dieses oder jenes bestimmt ist, bleibt es an sich. "Es ist nur da, inwiefern man es nicht hat, und entflieht, sobald man es auffassen will."*

Kanns nicht behalten, doch auch nicht vergessen, und fass ich es ganz, kann ich es nicht messen, singt Hans Sachs in der Fliederarie der Meistersinger. Je mehr du nach ihm greifst, je mehr entwird er dir, heißt es bei Meister Eckart: Das ist, was Schiller den ästhetischen Zustand nennt. Im ästhetischen Zustand ist der Mensch ohne alle Bestimmung; ist selbst noch nicht bestimmt und hat noch nichts bestimmt.

Ein Ding ist als solches nur in Raum und Zeit. Was es ist, bedarf der Bestimmung. Durch wen oder was? Durch ein Wollendes, das ihm mit Absicht begegnet. Worauf ich an dem Ding absehe, ist das, als was ich es bestimme. Dass es ist in Raum und Zeit, kann ich an-schauen. Was es mir ist, muss ich wollen; muss ich denken. So haben wir das Ding zweimal: einmal als Seiendes und einmal als Gedankending, einmal als Phänomen und einmal als Noumen. Und beidemale an sich, nämlich jedes einzeln. Und beide Male kann ich es nicht erfahren: Erfahren kann ich ein Ding nur als ein Seiendes, das mir etwas bedeutet. Als bloß Angeschautes ist es vor jeder Erfahrung. Als bloß Bedeutendes ist es lediglich Begriff: vor jeder Erfahrung. Wirklich, nämlich erfahren wird es als Gegenstand einer absichtsvollen Tätigkeit. An sich mag es sein in meiner bloßen Anschauung; oder als Bedeutung/Begriff/Noumenon.

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Nun ist aber die Wissenschaftslehre keine Realgeschichte des individuellen Bewusstseins, sondern ein Modell der Vernunft. Als solches ist es 'da' auf einen Schlag, mit einem Mal. Der ästhetische Zustand ist keineswegs eine Durchgangsetappe der Bewusstwerdung. Es ist sogar umgekehrt: Die Vernunft muss bereits einen Durchschnittsstandard von Reflexion er-reicht haben, um sich auf den ästhetischen Standpunkt zu erheben

Der als allgemein verbindliche anerkannte Grad an Reflexion/Vernunft heißt common sense,  gesunder Menschenverstand auf Deutsch. Der fällt seine Urteile gewohnheitsmäßig, nämlich ohne jedesmal nach den Gründen zu fragen. Er verlässt sich darauf, dass dies hin-länglich von den vorausgegangenen Generationen besorgt worden ist, die uns ihr Wissen überliefert haben: Reflexion als erbliches Guthabenerbliches Guthaben. Erst wenn etwas geschieht, das gänz-lich unerwartet und von unserer Schulweisheit nicht vorgesehen war, wird er sich nach Gründen fragen und selber zum Reflektieren zusammenreißen.

Der geschäftige Mensch hat in der bürgerlichen Gesellschaft weder genügend Abstand noch Muße für gewohnheitsmäßige Reflexion. Das delegiert er an eine Instanz, die das Reflektieren zu ihrem Alltagsgeschäft gemacht hat und der Tagesinteressen überhoben ist: der Wissenschaft; sie bewahrt das Überlieferte. Und auch die muss, wenn ihre Untersu-chungen zu verwertbaren Ergebnissen führen sollen, die Gegenstände, die sie betrachtet, als ihr gegeben auffassen: als so und nicht anders gegeben unabhängig von den Bedingungen von Raum und Zeit; weshalb sie diese Bedingungen in ihren Laboren ausscheidet. Ein Ding an sich kommt ihr nie unter die Augen, sondern immer nur solche, die bereits so oder so bestimmt sind und die sie noch weiter fortzubestimmen trachtet. So wenig wie der gesunde Menschenverstand unterscheidet sie das Ding 'an sich' von seiner Bedeutung.

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Allerdings ist kritische oder Transzendentalphilosophie nicht möglich, solange das Ansich-sein der Dinge nicht in Frage kommt. Wie sonst könnte ich ihre Bestimmtheit als diese oder jene davon unterscheiden und nach deren Herkunft fragen? Die Entelechien des Aristoteles, von denen Leibnizens Monade abstammten, hatten ihre Bestimmungen ebenso wie ihr Da-sein an, nämlich in sich gehabt, und ihr Erscheinen in der Zeit war ihr immanentes Gesetz. Aus dieser Vor-Bestimmung musste man heraus getreten sein, ehe man nach Gründen fra-gen konnte.

Dem analytischen, begrifflichen, diskursiven Denken wird ein An-sich nie unter die Augen treten. Dazu bedarf es der interesselosen Betrachtung - gr. theôría, lat. contemplatio. Den 'okularen' Griechen war sie noch vertraut und die Römer taten wenigstens so. Doch nach ein paar Jahrhunderten definitions- und konklusionswütiger Scholastik war es im Westen verlorengegangen, und es war nicht der praktische Geist der bürgerlichen Wirtschaftsweise, der sie wiederentdecken konnte.

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Am Ende der Wissenschaftslehre nova methodo benennt Fichte die Stelle, wo der regulär vernünftige Menschverstand einen Übergang findet in die Transzendentalphilsophie: "Was gibts für einen Übergang zwischen beiden Gesichtspunkten. - Frage über die Möglichkeit der Philosophie. Beide Gesichtspunkte sind sich ja gerade entgegengesetzt. Gibts nicht ein Mittleres, so ist nach unseren eigenen Grundsätzen kein Mittel, zu ihm über-/zugehen.
 
Es ist faktisch erwiesen, dass es so ein Mittleres gibt zwischen der transzendentalen und gemeinen Ansicht; dieser Mittelpunkt ist die Ästhetik. Auf dem gemeinen Gesichtspunkte erscheint die Welt als gegeben, auf dem transzendentalen als gemacht ('Alles in mir'); auf dem ästhetischen erscheint sie als gegeben, so als ob wir sie gemacht hätten und wie wir selbst es machen würden (vide Sittenlehre von den Pflichten des ästhetischen Künstlers)."**

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Das griechisch-lateinische Kunstwort Ästhetik hat Alexander Baumgarten erfunden.*** Es handelt, der griechischen Wortbedeutung entsprechend, vom "unteren Erkenntnisvermö-gen": der sinnlichen Wahrnehmung.

Baumgarten war neben Chrstian Wolff der führende Kopf der rationalistisch-metaphysi-schen Philosophenschule, aus der auch Immanuel Kant herkam. Kant stand wohl im inter-nen Streit der Schule Baumgarten näher als Wolff, aber seine Beschäftigung mit dem Thema des Schönen ging auf andere zurück.

Kant schrieb in seiner 'vorkritischen' Zeit über Manches. So setzte es sich in den Beobach-tungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen mit der schottischen Moralphiloso-phie, namentlich mit Hutchesons Systematisierung von Shaftesburys moral sense als Ingre-diens des sensus communis auseinander, der die ästhetischen Leistungen des menschlichen Geistes mit der natürlichen Anlage zu moralischen Empfindungen begründete. Edmund Burke hatte dagegen dem eingeborenen Sinn für das Schöne einen ebenso eingeborenen Sinn für das Erhabene entgegengestellt - wobei das Schöne für Sympathie und Gemein-schaft, das Erhabene aber für Ichsucht und Streit verantwortlich gemacht wurde.

Philosophisch interessant ist dabei lediglich, dass Kant den engen Horizont des Wolff-Baumgarten'schen  Rationalismus - und sei es nur versuchsweise - schon überschritten haben musste, um sich von David Humes skeptischen Sensualismus "aus seinem dogma-tischen Schlummer erwecken" lassen zu können. Anders gesagt: Er musste, und sei es nur versuchsweise, einen Gesichtpunkt oberhalb der beiden Dogmatismen schon einmal ange-nommen haben. 

Es war ein ästhetischer Gesichtspunkt.

*) System derSittenlehre, in: SW I/72
**) WL nova methodo, S. 243f. 
***) Aesthetica, Frankfurt/Oder, 1750 6. 7. 21




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