Dienstag, 14. Mai 2024

Weshalb die Vernunft überall sich selbst begegnet.

  Ick bün alldo                                  zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Niemand wird sich des Sterbens noch des Geborenwerdens bewusst. Es gibt also keinen Moment des / Anfangens. Dieses synthetische Denken hat zwei Teile; welches ist nun das Verhältnis beider? Ersteres ist das Bestimmte, letzteres das Bestimmende. Z. B. wie ist denn das Denken einer gegenwärtigen und einer abwesenden Sinnenvorstellung unterschieden, oder wie ist der gegenwärtige Moment von allen vorhergehenden verschieden? Er ist bloß das Bestimmte, und der vergangene als bestimmend gedacht. Das Gegenwärtige wird be-stimmend werden, wenns einmal das Vergangene sein wird, aber von einer Zukunft weiß ich noch gar nichts, das Vorausgesetzte ist bestimmend und bestimmt.

So ist klar: Der Zweckbegriff soll sein ein Bestimmendes zum wirklichen Wollen, letzteres soll ein Bestimmtes sein, aber wohl kann es ein Bestimmendes werden, davon reden wir aber nicht. – Also der Zweckbegriff ist nichts Wirkliches, sondern bloß gesetzt, das Wollen zu erklären. Das Auswählen des Zweckbegriffs aus dem mannigfaltigen Möglichen wird als das Bestimmende gedacht.
________________________________________________________________             J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 189f.


Nota. So wird es klarer. Der Zweckbegriff wird nicht wirklich entworfen – aus gegebe-nem Material konstruiert –, sondern es wird gehandelt, als ob aus einem unendlichen An-gebot von möglichen Zwecken dieser eine und einzige ausgewählt würde. Den Zweckbe-griff  'gibt es' gar nicht, er ist bloß Noumenon und wird gedacht als ob. Tatsächlich wird bloß gehandelt.

Das wirft im Übrigen ein Licht auf Fichtes schwindelerregende Konstruktion eines ver-nünftigen Endzustandes, in dem 'alle möglichen vernünftigen Zwecke erfüllt' sein würden und der uns zum Glauben an eine göttliche Weltregierung befugte. Erstens sind 'alle mögli-chen (vernünftigen oder unvernünftigen) Zwecke' lediglich Noumena; hier sollen sie aber als realisiert gedacht werden. Und zweitens kann der Endzustand nicht wissen, welchen 'als-ob'-gesetzten Zweck das handelnde Ich in jedem Moment seiner realen Tätigkeit frei aus-wählen würde und wird. Es sei denn, F. hätte eine zweckmäßig wollende übergreifende überirdische Intelligenz heimlich bereits voraus- und hintangesetzt; und so wird es wohl sein.
29. 2. 16

Nota bene: Das Reich der möglichen Zwecke ist nichts anderes als das Reich der gemeinen Vernunft: Was immer als Zweck vorgefunden werden mag, war im Begriff vor-gedacht, und ist ein Atom in der intelligiblen Welt. Dass es Vernunft gibt, war die Prämisse der Vernunft-kritik und der Transzendentalphilosophie alias Wissenschaftslehre. Die Kritik stellt sie nicht "zur Disposition", sondern präzisiert ihre Gültigkeit; nämlich deren Umfang.   

Könnte es aber sein, dass F. an dieser Stelle das Reich des gesunden Menschenverstandes mit der intelligiblen Welt überhaupt verwechselt hätte?
JE          

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