Ick bün alldo zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik
Niemand wird sich des Sterbens noch des Geborenwerdens bewusst. Es gibt also keinen Moment des /
Anfangens. Dieses synthetische Denken hat zwei Teile; welches ist nun
das Verhältnis beider? Ersteres ist das Bestimmte, letzteres das
Bestimmende. Z. B. wie ist denn das Denken einer gegenwärtigen und einer
abwesenden Sinnenvorstellung unterschieden, oder wie ist der
gegenwärtige Moment von allen vorhergehenden verschieden? Er ist bloß
das Bestimmte, und der vergangene als bestimmend gedacht. Das
Gegenwärtige wird be-stimmend werden, wenns einmal das Vergangene sein
wird, aber von einer Zukunft weiß ich noch gar nichts, das
Vorausgesetzte ist bestimmend und bestimmt.
So ist klar: Der
Zweckbegriff soll sein ein Bestimmendes zum wirklichen Wollen, letzteres
soll ein Bestimmtes sein, aber wohl kann es ein Bestimmendes werden,
davon reden wir aber nicht. – Also der Zweckbegriff ist nichts
Wirkliches, sondern bloß gesetzt, das Wollen zu erklären. Das Auswählen
des Zweckbegriffs aus dem mannigfaltigen Möglichen wird als das
Bestimmende gedacht.
________________________________________________________________ J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 189f.
Nota. – So wird es klarer. Der Zweckbegriff wird nicht wirklich entworfen – aus
gegebe-nem Material konstruiert –, sondern es wird gehandelt, als ob aus
einem unendlichen An-gebot von möglichen Zwecken dieser eine und einzige
ausgewählt würde. Den Zweckbe-griff 'gibt es' gar nicht, er ist bloß Noumenon und wird gedacht als ob. Tatsächlich wird bloß gehandelt.
Das wirft im Übrigen ein Licht auf Fichtes schwindelerregende Konstruktion eines ver-nünftigen Endzustandes,
in dem 'alle möglichen vernünftigen Zwecke erfüllt' sein würden und der
uns zum Glauben an eine göttliche Weltregierung befugte. Erstens sind
'alle mögli-chen (vernünftigen oder unvernünftigen) Zwecke' lediglich Noumena; hier sollen sie aber als realisiert
gedacht werden. Und zweitens kann der Endzustand nicht wissen, welchen
'als-ob'-gesetzten Zweck das handelnde Ich in jedem Moment seiner
realen Tätigkeit frei aus-wählen würde und wird. Es sei denn, F.
hätte eine zweckmäßig wollende übergreifende überirdische Intelligenz
heimlich bereits voraus- und hintangesetzt; und so wird es wohl sein.
29. 2. 16
Nota bene: Das Reich der möglichen Zwecke ist nichts anderes als das Reich der gemeinen Vernunft: Was immer als Zweck vorgefunden werden mag, war im Begriff vor-gedacht, und ist ein Atom in der intelligiblen Welt. Dass es Vernunft gibt, war die Prämisse der Vernunft-kritik und der Transzendentalphilosophie alias Wissenschaftslehre. Die Kritik stellt sie nicht "zur Disposition", sondern präzisiert ihre Gültigkeit; nämlich deren Umfang.
Könnte es aber sein, dass F. an dieser Stelle das Reich des gesunden Menschenverstandes mit der intelligiblen Welt überhaupt verwechselt hätte?
JE
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