Mittwoch, 22. Mai 2024

Die rationale Fiktion.

                                                                             aus Philosophierungen 
 
Dem diskursiven Denken liegt als Prämisse die ungeahnte Fiktion zugrunde, der logische Raum – Ein und Alles ('alles, was der Fall ist') – sei eine geschlossene Sphäre, deren Um-fang lückenlos von Begriffen angefüllt ist, die einander wechselseitig bestimmen.

In unserer wirklichen Vorstellung ist die Welt hingegen ein – 'zwar endlicher, aber unbe-grenzter' – Raum, in dem Bedeutungen teils so nah bei einander liegen, dass sie einander berühren, ineinander verfließen und bei genauem Hinschauen gar nicht recht zu unter-scheiden sind; und teils ganz beziehungslos neben einander liegen ohne ein Drittes, an dem sie wenigstens zu vergleichen wären. Das logische Ein und Alles verhält sich zum wirklichen Vorstellen etwa so, wie die Welt des naturwissenschaftlichen Labors zu den Dingen unseres Mesokosmos.
ca. 2009

Die ungeahnte Fiktion nehmen wir in Anspruch, wenn und wo wir uns vernünftig verhal-ten wollen. Nicht, dass wir glaubten, dass es wirklich so ist; aber wir handeln doch so, als ob es so sei.

Das sind die sonntäglichen Momente in unserm geschäftigen Alltag. Normalerweise reicht uns ein Ungefähr, um tagein tagaus zurechtzukommen. Der scharfe Konflikt, der nur auf Messer Schneide zu entscheiden wäre, ist gottlob die Ausnahme. Doch nur, weil Vernunft uns ausnahmsweise in jedem Fall zuhanden oder doch zu Kopfe ist, können wir unser all-tägliches Ungefähr riskieren.*

Das ändert nichts daran, dass ein fertiges System der Vernunft immer eine Fiktion bleibt. Nur weil wir meinen, an sich sei die Welt ein wechselwirkendes System aus realen Teilchen, die zugleich
 Bedeutungs-Partikel darstellen, und insgesamt einen Sinn hat, der unabhängig davon ist, ob ihn jemand einsieht - nur darum ist es möglich, dass wir und in unserer All-tagsroutine regelmäßig verständigen und nach heftigem Kampf am Ende meist noch eine Friedenslösung finden. Indem sie zeigt, wie sie zustande kam, stellt die Transzendentalphi-losophie klar, dass es sich um eine Fiktion handelt.

Wozu ist das gut?

Um dem Missverständnis abzuhelfen, im Sein der Dinge sei irgend ein Sinn eingeschlos-sen. "Ihr Hauptnutzen ist negativ und kritisch. Es mangelt in dem, was nun gewöhnlich für Lebensweisheit gehalten wird, nicht daran, daß sie zu wenig, sondern daran, daß sie zu viel enthält. Man hat eben die erräsonierten Sätze der oben beschriebenen erschaffenden Meta-physik hereingetragen – und diese sollen
 [wieder heraus] gesondert werden. Sie hat die Bestim-mung, die gemeine Erkenntnis von aller fremden Zutat zu reinigen... Für die theoretische Philosophie, Erkenntnis der Sinnenwelt, Naturwissenschaft ist sie regulativ. Sie zeigt, was man von der Natur fragen müsse.

Ihr Einfluß auf die Gesinnung des Menschengeschlechts überhaupt ist, daß sie ihnen Kraft, Mut und Selbstvertrauen beibringt, indem sie zeigt, daß sie und ihr ganzes Schicksal ledig-lich von sich selbst abhängen; indem sie den Menschen auf seine eignen Füße stellt."
aus J. G. Fichte, Rückerinnerungen, Antworten, Fragen.

*) Das so genannte Zeitalter der Vernunft begann, als in den Verträgen von Münster und Osnabrück der Westfälische Frieden geschlossen wurde. Nachdem GOtt dreißig Jahre lang für Mord und Verwüstung gesorgt hatte, musste als glaubwürdiger Bürge die Vernunft nachrücken.
23. 1. 19  
 
 
PS. Ich vergaß hinzuzufügen, dass die Fiktion einer restlos begrifflich verfassten Welt das unausgesprochene Dogma jener zeitgenössischen philosophischen Richtung ist, die sich unerklärlicher Weise die systematische nennt; und da neu anfängt, wo Kant das rationali-stisch-metaphysische System der Wolff-Baumgarten abgebrochen hatte.

 
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Kategorischer Imperativ ist das reine Wollen.

Michelangelo                                           aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkriti 4. Die Schwierigkeit ...