3. Mein Eignes.

 Allard, Un enfant des Abruzzes

Es ist Ihnen vielleicht manchmal vorgekommen, als trüge ich meine Aussagen zu selbstsicher vor, ohne die gebotenen Kautelen und Rücksichten.

Das dient zunächst einmal der Klarheit. Dass das, was ich vortrage, 'nur meine persönliche Meinung' ist, versteht sich von selbst. Wenn andere es auch vortrügen, könnte ich es mir sparen. (Das gilt auch für Sätze, die Ihnen trivial erscheinen; nicht alle wiederhole ich in didaktischer Absicht; manche waren für mich, als ich sie niederschrieb, neue Gedanken.)

Weshalb glaube ich aber, dass ich zum Besten geben soll, was mir einfällt? Wenn das jeder täte!

Ich fühle mich ermächtigt und angehalten, meine Meinungen öffentlich zu machen, weil ich gewiss bin, einen Standpunkt gefunden zu haben, von dem aus einige Fragen lösbar oder besser lösbar erscheinen, als von anderen aus. Und den Standpunkt habe ich gefunden, aber nicht gesucht. Er hat sich ergeben als gemeinsamer Nenner von Einzelergebnissen.

Was ist also mein Eigenes? 

Zunächst ein paar Realien, die als solche weit auseinander liegen und nach einem gemeinsamen Nenner nicht gerade schreien.

1. Da ist zuerst meine Auffassung der Species homo sapiens als die ("kindlichste" und eo ipso:)  "männlichste" Spezies – weltoffen, unreif und bildsam. Soweit ich weiß, bin ich bis heute der einzige, der diese Ansicht vertritt.

2. Zweitens meine Auffassung der spezifisch europäischen Feudalität und ihrer vielfach bedingten Eigentums- und Herrschaftsformen als historische Voraussetzungen für die Ausbildung einer bürgerlichen Gesellschaft; und insofern als prägend für die abendlän-dische Kultur. Das mag vor mir schon mancher andere gemeint haben, aber direkt aus-gesprochen habe ich es noch nirgendwo sonst gefunden.

3. Meine Kennzeichnung der 1990 untergegangenen Gesellschaften sowjetischen Typs als feudalbürokratische Vergeudungs- und VerknappungssystemeDas ist, so feuilletonistisch die Formulierung klingt, eine ernstgemeinte historische Charakterisierung.

4. Viertens ein Stück Philologie: meine Auffassung, die Kritik der Politischen Ökonomie sei nicht zu begreifen mittels der Hegel’schen Logik, sondern mittels der 'Kritischen' Philosophie alias Wissenschaftslehre. 

5. Daraus folgt – wiederum als Realie – meine Ansicht vom Absterben des Tauschwerts.

 
Soweit die realen historischen Theorien, die Sie nirgends anders vertreten finden. Sie hängen zwar nicht ab von –, aber doch (zumindest methodisch) zusammen mit meinen eigentlich philosophischen Einsichten: 

Da ist zuallererst und für mich am wichtigsten meine Auffassung der Fichte’schen Wissenschaftslehre nicht als einer Theorie des Bewusstseins, sondern als einer Begriffsbestimmung der Vernunft. 

Diese 'Meta'-Einsicht stammt aus (und rechtfertigt) einige(n) philosophische(n) 'Objekt'-Erkenntnisse(n):
 

1) 'Die Welt' – und die ihr adäquate Bewusstseinsweise der Vernunft – ist eine Überkom-pensation naturwüchsig sinnsetzenden, aber im Prozess der Hominisation aufgegebenen  Umweltnische. 

2) Dies ist der Ur-Sprung des Specificum Humanum: unseres poietischen Vermögens. 

3) Das zwiespältige Resultat dieses Verlustes & Neuerwerbs ist die Freiheit als Folge des Zerfalls der angestammten Umweltnische in unsere Welt und meine Welt.*

4) Die Form der Vernunft in specie ist die Wissenschaft, die systematische Rekonstruktion unserer Welt. Als solche ist sie spezifisch öffentliches Wissen (wie überhaupt die Spaltung von unserer und meiner Welt ihre reelle Entsprechung findet in der spezifisch bürgerlichen Scheidung von Öffentlich und Privat). 

5) Die Wissenschaftslehre ist die vorbegriffliche Rekonstruktion der Erfindung von meiner Welt mit der Vernunft als ihrem terminus ad quem. 

6) Das Absolute als das unvermeidliche Korrelat ('wozu?') des sich-selbst-setzenden Ichs ist eine ästhetische Idee. Sie ist der Vereinigungspunkt, von dem aus unsere Welt und mei-ne Welt zugleich überschaubar werden. 

7) Metaphilosophie und Praktische Philosophie verhalten sich zueinander wie Frage und Antwort. Zwischen beiden steht als Klammer und Scheidelinie die Kritik. Metaphiloso-phie und Praktische Philosophie bilden zusammen (=als Frage und Antwort) die Anthro-pologie. Zwischen beiden liegt die Kritik als eine Selbstreflexion der Anthropologie.

 *[Nachtrag Jan. 2018: Daraus folgt die Zuordnung der Vernunft (und des Rechts) zu un-serer Welt - und der Moralität zur Ästhetik und zu meiner Welt.]

 
*

Das ist alles nicht der Weisheit letzter Schluss, aber so ist es in der Philosophie immer. Doch immerhin rechtfertigt es die Hartnäckigkeit, mit der ich meine Blogs betreibe. Und wenn ich – vielleicht nicht in allem, aber im wesentlichen – Recht habe, wäre es nötig, dass sie gelesen werden.

19. 4. '16 

 

 

Zu meinem Verfahren.

 R. Campin St. Joseph dans son atelier                   

Fichte hat bis zum Schluss versichert, er habe allezeit dasselbe gelehrt. Der gewissenhafte Student ist daher gehalten, die frühen Darstellungen der Wissenschaftslehre im Lichte der späteren, und die späteren Darstellungen im Lichte der früheren zu lesen. Das braucht seine Zeit. Erst wenn er es immer wieder erfolglos versucht hat, darf er daran gehen, die frühen und die späten Darstellungen je für sich und unabhängig voneinander zu verste-hen.

Dann allerdings muss er die Stelle dingfest machen, wo die späteren von den früheren abweichen; die Stelle, wo nicht bloß die Darstellung, sondern das Dargestellte ein anderes wird. Es liegt auf der Hand, diese Stelle irgendwo im Umkreis des Atheismusstreits zu suchen. So bin ich verfahren.

Dass zwischen dem unvollendeten Manuskript Rückerinnerungen, Antworten, Fragen und der veröffentlichten Bestimmung des Menschen nicht einfach ein Übergang, sondern ein Bruch stattfand, ein Sprung, ist nicht zu übersehen, er spricht ihn ja selber aus, indem ihm das bisherige Wissen ungenügend wurde und er den Glauben in die Transzendental-philosophie einfügte.

In die Transzendentalphilosophie? Das ja wohl eben nicht. Mochte Fichte selber meinen, die Wissenschaftslehre sei vorher und hinterher dieselbe gewesen – Transzendentalphilo-sophie war sie hinterher jedenfalls nicht mehr. Ein reales Absolutes, das – als dogmatische Zusatzbedingung – aber doch in keinem Moment Objekt werden soll, das erfordert in der Tat eine proiectio per hiatum irrationalem, und er wird die Zeit, die ihm verblieb, damit zubringen, sie unter dialektischen Winkelzügen zu verbergen.

Jacobi hatte ihn dazu verleitet, aber das hätte er nicht gekonnt, wenn es nicht bei Fichte schon einen wunden Punkt gab, in den er den Finger bohren konnte. Es war die Doppel-deutigkeit dessen, was Fichte unter Vernunft verstand.

*

Um die Wurzel dieser Doppeldeutigkeit aufzufinden, habe ich mich der Wissenschafts-lehre nova methodo zugewandt, der letzten Gestalt, die Fichtes Lehre vor dem Atheis-musstreit angenommen hatte. In dieser gegenüber der Grundlage von 1794/95 in syste-matischer Hinsicht wesentlich verbesserten Darstellung musste sich der Punkt finden lassen, wo die beiden konkurrierenden und eigentlich unvereinbaren Vorstellungen von der Vernunft auseinandertreten: hier als ein vorgegebener Plan, den die endlichen Intel-ligenzen aufzufinden und zu verfolgen hätten, dort als die Aufgabe unendlicher Bestim-mung aus Freiheit.

Ich wurde enttäuscht, ich fand diesen Punkt nicht. Wo immer Fichte die Vernunft trans-zendental aus der Freiheit herleitet, kann er sie immer nur als offene Aufgabe ausweisen; aus den Prämissen der Wissenschaftlehre selbst kann die dogmatische Auffassung eines zu erfüllenden Plans nie entwickelt werden. Sie ist ein Fremdkörper, der von außen künstlich in die Transzendentalphilosphie hineingetragen wurde.

Von außen? Von außerhalb der Wissenschaftslehre, ja; aber von Fichte selbst, und es war schon die seine, bevor er die Arbeit an der Wissenschaftslehre überhaupt begonnen hatte. Er hat sie ausgesprochen in den populären öffentlichen Vorträgen Von den Pflichten der Gelehrten, die er unmittelbar vor Beginn seiner akademischen Lehrtätigkeit in Jena gehal-ten hat; das wird Gegenstand einer späteren gesonderten Darstellung sein, hier teile ich es nur 'historisch' vorab mit; es kann ja jeder selbst nachlesen.

*

Die logische Forsetzung der WL nova methodo wäre der Übergang zu einem System der Ästhetik gewesen. Dazu ist es aus den bekannten Gründen nicht gekommen. Stattdessen ist sein System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre 1798 erschienen, während er eben begonnen hatte, die Wissenschaftslehre zum ersten Mal "nach neuer Methode" vorzutragen. Man muss sie daher als eine Fortsetzung der Grundlage, der ersten Darstellung der WL betrachten.

Tatsächlich knüpft sie thematisch unmittelbar an die Einführungsvorlesungen Von den Pflichten der Gelehrten aus dem Jahr 1794 an und war wohl als Schlussstein - clef de voûte - des ganzen Systems gedacht. Dass er in der Darstellung der Wissenschaftslehre nach neuer Methode an die Sittenlehre noch einen ästhetischen Systemteil fügen müsste, war ihm noch nicht bewusst. Zwar schließt er auch dort seine Pflichtenlehre mit einem Abschnitt über die "Pflichten des ästhetischen Künstlers" ab, aber eben doch als die An-gelegenheit eines besonderen gesellschaftlichen Standes.

Die Aufgabe der Sittenlehre sei "die: Freie Willen sollen zu einem gewissen mechanischen Zusammenhang und Wechselwirkung gefügt werden. Nun gibt es so einen Naturmecha-nismus an sich nicht, er hängt zum Teil mit von unserer Freiheit ab", heißt es nun. Es müsse ein Übergang gefunden werden aus dem Standpunkt des natürlichen Bewusstseins der konkreten Menschen (zu denen der Philosoph selber gehört) auf den Standpunkt der Transzendentalphilosophie. Es entstünde der Philosophie die Aufgabe, "in ihr ihre eigene Möglichkeit zu erklären". 

"Es ist faktisch erwiesen, dass es so ein Mittleres gibt zwischen der transzendentalen und gemeinen Ansicht; dieser Mittelpunkt ist die Ästhetik. Auf dem gemeinen Gesichtspunkte erscheint die Welt als gegeben, auf dem transzendentalen als gemacht ('Alles in mir'); auf dem ästhetischen erscheint sie als gegeben, so als ob wir sie gemacht hätten und wie wir selbst es machen würden (vide Sittenlehre von den Pflichten des ästhetischen Künst-lers)." 

*

Angenommen nun, dass der Wechsel vom gemeinen zum ästhetischen Standpunkt die Bedingung der Möglichkeit der Wissenschaftslehre ist; ist er dann womöglich auch die Bedingung der Möglichkeit von... mehr? Ist er Bedingung der Möglichkeit nicht nur der theoretischen, sondern unmittelbar auch Bedingung der Möglichkeit der praktischen Vernunft? 

Andere haben es so aufgefasst und haben die Moralität aus der Ästhetik hergeleitet. Ich habe außer philosophischen auch lebenspraktische Gründe, diese Lösung zu favorisieren. 

Dann müsste Fichtes Sittenlehre von 1798 auf fehlerhaften Gründen beruhen. Ich habe eine Vermutung: Es ist wieder die Doppeldeutigkeit seiner Vernunft. Ich will mich ihr daher nun im Besondern zuwenden.

Die Einleitung war dazu ein erster Schritt.

13. 1. 18
 
 
Nachtrag.
 
Die Vorträge Von den Pflichten der Gelehrten  wurden vor Beginn seiner regulären Vorle-sungen an der Jenaer Universität gehalten; man dürfte sie füglich als Voraussetzung der Wissenschaftslehre ansehen. Dürfte, wenn wir nicht über den Text einer noch früheren Einführungsvorlesung Fichtes verfügen würden. Unmittelbar vor seinem Fortgang aus Zürich, wo er als Hauslehrer tätig gewesen war, hat er einer Handvoll örtlicher Honoratio-ren unterm programmatischen Titel Über die Würde des Menschen einen Abriss der Kri-tischen Philosophie, wie er sie verstand, vorgetragen. Hier stellt er mit aller wünschbaren Schärfe Vernunft als freie Schöpfung der Menschen dar. 'Kritiker' war Fichte, ehe er 'Mysti-ker und Romantiker' wurde. Auf jeden Fall aber war der Zwiespalt da, bevor ein System der Wissenschaftslehre entstand. Mehr behaupte ich nicht, doch auch nicht weniger.
 
 


Mein System.

Le Corbusier

Lieber Leser, 'mein System', von dem ich immer wieder rede und von dem Sie vielleicht doch noch nicht viel erkennen konnten, nimmt langsam Gestalt an; weniger literarisch als sachlich. Das Ästhetische schimmert immer öfter aus dem Strom der Wörter hervor, und nicht bloß als thematischer roter Faden oder als Hintergrundrauschen, das alle andern Töne einfärbt, sondern als das Bindemittel ;zwischen der Anthropologie auf der empirischen und der Transzendentalphilosophie auf der theoretischen Seite.

Das klingt nun ebenso eitel wie trivial; wenn man nämlich von dem Ästhetischen einen trivialen Begriff hat. Ich fasse aber das Ästhetische (wie Fichte an Schiller schrieb) so weit, wie Sie es sich nicht einmal träumen lassen. So weit und so scharf, wie ich ergänzend hin-zufüge, und dann ist es nicht mehr trivial.

*

Auf den ersten Blick ist es freilich das Thema der Vernunft, durch das die Anthropologie mit der Transzendentalphilosophie zusammenhängt; als das specificum humanum hier und als Medium und Gegenstand dort: Selbstreflexion der Intelligenz.

Die Intelligenz selber zeichnet das Humane schon lange nicht mehr aus. Je länger die Etho-logen observieren, um so weiter wird das Feld der tierischen Intelligenz. Angefangen hat es mit dem Werkzeuggebrauch der Schimpansen, inzwischen sind wir bei absichtlicher Täu-schung und Perspektivenwechsel bei den Rabenvögeln, und wer weiß, was noch kommt.

Es ist wohl wahr, tierische Intelligenz manifestiert sich immer punktuell und momentan, nur bei der Familie Homo ist ihr Gebrauch habituell und ubiquitär. Wäre das kein Unter-schied? Es wäre keiner, der sich bestimmen lässt. Denn dazu müsstest du eine Grenze ziehen. Doch auf welchen Punkt du immer reflektierst, der Übergang ist fließend.

Qualitativ dagegen ist dieser Unterschied: Im Tierreich steht aller Intelligenzgebrauch im Dienste der Selbst- oder der Arterhaltung, auch da, wo er nicht genetisch, sondern kulturell vererbt wirbt. Allein Homo sapiens bemüht - und je länger seine Geschichte auf Erden dauert, umso wissentlicher - Zwecke, die abseits der Erhaltungsfunktion liegen: Verum, bonum, pulchrum.

Das ist es, was den Menschen vor andern Lebewesen auszeichnet: Er kann nicht nur wahr-, sondern auch wertnehmen. Und recht eigentlich muss er wertnehmen, so dass Max Scheler sagen konnte: Wertnehmen kommt vor wahrnehmen, es ist seine Bedingung. 

Das ist ein Satz, der der Anthropologie ebenso angehört wie der Transzendentalphiloso-phie, die das Praktische vor und über das Theoretische stellt. Wertnehmen ist das Wahrneh-men von Qualitäten, und so nennen wir Eigenschaften, die schlechterdings - "ohne Inter-esse" - von einem Urteil des Beifallens oder der Missbilligung begleitet sind. Und eben das ist das Ästhetische.

Was morphologisch der aufrechte Gang für die Hominisation bedeutete, bedeutet für die geistige Hominisation die Entwicklung seines ästhetischen Vermögens. Es ist der Stoff der Vernunft.



So weit die Anthropologie.

Vernunft nennen wir nun diejenige Intelligenz, die nicht nur die Wirkzusammenhänge der Dinge in Hinblick auf unsere Zwecke beurteilt, sondern die Zwecke selbst. Eine Intelligenz, die sich als einem Maß unterworfen vorstellt. Vernünftig nennen wir ein Handeln, das seine Zwecke als einer obersten Instanz, als einem Zweck der Zwecke verantwortlich erachtet. Dies genetisch herzuleiten aus dem idealen Ursprung der Vernunft selbst, jener Tathand-lungin der sich das Ich als frei setzt, ist wiederum Sache der Transzendentalphilosophie. Die Fiktion eines obersten Zwecks - verum, bonum, pulchrum - ist eine ästhetische Idee. Sie ist nicht bedingt, sondern durch Freiheit möglich. Und recht besehen, ist am äußersten Ende der Vernunft nur sie noch durch Freiheit möglich.

*

Das sind die beiden Pole, zwischen denen "mein System" verläuft.*

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*) Wie es verläuft, sehen Sie, wenn Sie meinen Links folgen. 

27. 6. 14

 

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