Freitag, 30. Juni 2023

Einbildungskraft und Urteilsvermögen.

 Le Corbusier, Monument, Chandigarh                               zu Philosophierungen

Urteilen ist der Alles fundierende poietische Akt: ein-Bilden eines Quale.
Ist also das Urteilsvermögen das Geheimnis der Einbildungskraft?

Die Einbildungskraft ist das Geheimnis des Urteilsvermögens.  

Tatsächlich ist mein Vermögen eins: Alles, was ich vermag. Unterscheiden kann ich lediglich, was ich tue; und zwar an dem Gegenstand, an dem ich es tue.
2. 5. 18



Mittwoch, 28. Juni 2023

Das Einfache ist nicht gegeben, sondern gemacht

 A. Derain                             zu Philosophierungen

Was uns “erscheint”, ist nicht einfach, sondern ungeordnet chaotisch.

Wir nehmen nicht die einzelnen Sinnesreize wahr, sondern immer schon das, was unser Sensorium daraus gemacht hat. Ein vorsorglicher Filter, in dem die Erinnerung an Millio-nen Jahre Gattungserfahrungen operationalisiert ist, hat schon das (ihm) Bedeutende von dem Unbedeutenden geschieden. Was uns ‘erscheint’, sind immer schon mehr oder min-der bestimmte Bilder; ‘Figuren’ vor einem ‘Hintergrund’, die – zusammengesehen – etwas ‘bedeuten wollen’.

Das Bewusstsein alias die Reflexion tritt hinzu und fragt: Was soll das bedeuten? Das ist eine Frage ans Gedächtnis, dort ist allerhand gespeichert, mit dem die eingehenden Bilder verglichen und geordnet werden können nach dem Muster passt oder passt nicht. Passt es nicht, muss Neues hinzu erfunden werden.

Das ist ein ganzer komplizierter Apparat, der da in Bewegung getreten ist und, bevor ich irgendwas davon bemerkt habe, ins ungeordnete Gewimmel der Sinneszreize eine Ord-nung gebracht hat. Was er hervor gebracht hat, ist nicht Dieses oder Das, sondern ein Tableau von beweglichen Figuren vor einem nicht minder beweglichen Hintergrund.

Mein Denken im eigentlichen Sinne – das Anwenden von vorgehabten Begriffen auf noch nicht gehabtes Anschauungsmaterial, das Vergleichen von Unbekanntem mit Be-kanntem – greift in ein schon vorbearbeitetes Vorstellungsfeld. Es sortiert nach Begriffen: Was fällt darunter und was fällt daneben? Für das, was daneben fällt, müssen gegebenen-falls neue Begriffe angefertigt werden – oder es wird, als Einzelnes, bildhaft und analog gespeichert; in der ständigen Gefahr, zwischen den Registern der digital abgespeicherten Begriffe unauffindbar verloren zu gehen. Das Ideal meines Gedächtnisses ist: das Vorge-fundene so klar und eindeutig (clare et distinctum) im Register zu bewahren, dass es ohne Zeitverlust ad hoc auffindbar ist.

Mein Gedächtnis will vereinfachen.

Das trifft sich gut. Meine Urteilskraft will auch vereinfachen. Dann muss sie nur noch ja oder nein sagen; nicht zwar, vielleicht, aber unter diesen Umständen, doch eventuell, und andererseits; sondern einfach nur: so oder so. Meine Urteilskraft will genau so ihre Ruhe haben wie mein Gedächtnis. Unermüdlich ist lediglich meine Einbildungskraft. Die hat’s gern üppig und sprudelt.

Das ist das Kreuz: Die Einbildungskraft will nicht das Altvertraute, sondern das Verwun-derliche. Sie hat sogar die Kraft, mein Sensorium dahin zu verführen, auf das, was gat-tungsgeschichtlich längst als unerheblich ausgemustert war, dennoch aufzumerken und es wahr- und wert zunehmen.

Mit andern Worten, ich kann Absichten fassen und danach das ungeordnet Mannigfal-tige neu ordnen. 

Denken heißt, wie gesagt, vereinfachen
.

•Februar 18, 2009


Dienstag, 27. Juni 2023

Konsens oder kritische Reduktion?

 aus wikipedia                                                                       zu Philosophierungen

'Vernunft und Öffentlichkeit bedeuten dasselbe...' - sofern nämlich Öffentlichkeit schlechterdings Kritik bedeutet, und zwar Kritik ohne jede Grenze, weder in der Zeit noch im Raum. 

Vernunft ist kein Stoff und keine Energie, die man haben oder nicht haben kann. Ver-nünftig kann man sein, und das bedeutet: allgemein nur gelten lassen, was sich der Kritik stellt und ihr standhält. 'Vernunft' ist der Inbegriff all dessen, was die Kritik überstanden haben wird. Sie ist ein bloßes proiectum, weil die Kritik sachlich nie zu einem Ende kommt.

Nein, damit ist Vernunft nicht als Konsens oder als bloße Intersubjektivität bestimmt. Konsens ist das, was eine bestimmte und daher zufällige Anzahl von Individuen unter sich zu einem gegebenen Zeitpunkt aus je gegebenen, aber unergründlichen Motiven als momentan für einander gelten sollend vereinbart haben. Eine Art kleinster gemeinsamer Nenner, eine Menge, die zu einem andern Zeitpunkt größer oder kleiner hätte ausfallen oder auch ausbleiben können. Das ist in logischer Hinsicht so kontingent wie das gele-gentliche Meinen und Dafürhalten von Irgendwem. 'Was Vernunft gewesen sein wird' ist nicht Ergebnis einer allmählichen, einvernehmlich Anhäufung, sondern im Gegenteil Re-sultat einer Reduktion: Das, was der prozessierenden öffentlichen Kritik noch immer standhält, darf als allgemein und notwendig gelten. Vom privaten Meinen des einen oder andern ist es ganz unabhängig.

Merke: Was nicht in die Öffentlichkeit gehört, ist der Vernunft gleichgültig.
24. 5. 2015


Montag, 26. Juni 2023

Konsens und öffentliches Wissen.

nationalgeographic         aus Philosophierungenzu öffentliche Angelegenheiten

Wissenschaft ist öffentliches Wissen, habe ich gesagt. Wissenschaftlich ist ein auf seine Gründe geprüftes Wissen. Das Medium der Prüfung ist Kritik. Öffentlichkeit ist eo ip-so Kritik; eine ununterbrochene, immer wieder neu beginnende Überprüfung von Grün-den.

Das ist keine Konsensfindung, sondern geradezu das Gegenteil. Der Konsens ist eine zufällige Anhäufung. Zufällig ist die Anzahl der Übereinstimmenden, zufällig ihre Zu-sammensetzung, zufällig sind die Meinungen, die sie mitbringen, zufällig sind die Meinun-gen, auf die sie sich verständigen. Da Verständigung gesucht wurde, blieb Kritisches un-benannt. Was richtig und was falsch ist, ist eine Sache bloßer Meinung, eine prüfende In-stanz gibt es nicht. 
Konsens ist angehäufte Privatmeinung. Sie können sich über lauter Falsches einig sein. Wenn sich eine Prüfung an der Realität ergibt, stieben sie auseinander. 


Wissenschaftliche Öffentlichkeit verfährt nach dem Prinzip der biologischen Auslese. Er-halten bleibt nur, was sich bewährt, was sich nicht bewährt, wird ausgemustert. Allerdings nur, was sich nicht bewährt: was der Kritik nicht standhält. Nicht das, was nur momentan nicht verwendbar ist: In der Natur wird auch das ausgeschieden, obwohl es unter neuen Bedingungen – veränderten Auslesekriterien – vielleicht noch brauchbar werden konnte. In der Schriftkultur der Wissenschaft fällt das schlimmstenfalls in Vergessenheit; kann und wird wiedergefunden werden, weil die Wissenschaftler konkurrieren und auch das Fernst-liegende für die Karriere verwertet wird. Und selbst was einmal als endgültig widerlegt er-schien, kann wieder zum Vorschein kommen 
– gerade weil seine Überwindung einmal als ein großer Sieg der Wissenschaft ins Kollektivgedächtnis eingegangen ist. Zum Beispiel die Wiederauferstehung von Lamarck im Zeichen der Epigenetik.

Konsensbildung ist eine zufällige Kumulation auf Widerruf, Öffentlichkeit ist systemati-sche Reduktion und Revision auf Dauer. 

22. 11. 15



Samstag, 24. Juni 2023

Konsensfindung und Vernunfturteil.

arcor                              aus Philosophierungenzu öffentliche Angelegenheiten

Vernunft kann nur herrschen, wo Öffentlichkeit ist. Sie ist das allgemeinste Verständi-gungsmittel. Ohne sie kann es keine Gesellschaft geben, die auf dem Verkehr aller mit allen beruht.

Mit andern Worten, Vernunft ist der ausgezeichnete Charakter von Unserer Welt. Ihr sinnfälligster Ausdruck ist die Wissenschaft, in der die bürgerliche Gesellschaft ihr oberstes Maß erkennt.

Hat also Vernunft in Meiner Welt nichts zu suchen?


Das Unterscheidungsmerkmal ist, auf welchem Weg typischerweise Entscheidungen zu-stande kommen: durch Übereinkunft oder durch Vernunfturteil. Vernunft fragt nach Gründen, das Vernunfturteil beruht auf dem prozessierenden Ausscheiden des Falschen: desjenigen, dessen Gründe der öffentlichen Kritik auf die Dauer nicht standgehalten haben. So entsteht Wissen, gesammelt und konzentriert in der öffentliche Instanz 'Wis-senschaft'. Deren Modus ist die unendliche Revision alles einmal Gegebenen. Ihre Richt-sprüche gelten immer 'einstweilen endgültig'; nämlich solange, bis sie durch Gründe wi-derlegt (oder auch nur erübrigt) werden. Ihre Schlüsse erscheinen im gegebenen Moment als notwendig.

So ist es in Unserer Welt. Ihr Platz ist Öffentlickeit. Da gehören Alle zu, ob es ihnen recht ist oder nicht.

Was zu Meiner Welt gehört, entscheidet sich nicht durch geprüftes Wissen, sondern durch geteiltes Erleben. Die Entscheidungen, die hier getroffen werden, beruhen typischerweise nicht auf Gründen, die der Kritik unterzogen wurden, sondern auf Motiven, die Beifall gefunden haben; Leidenschaften, Neigungen, momentane Launen. Man findet sich zu-sammen auf einem gemeinsamen Boden von Werturteilen, und die sind im Kern ästhe-tisch – doch über das Ästhetische lässt sich nicht vernünfteln. 


Es zählt hier nicht, was Alle wissen und einsehen können, sondern das, was Einige mei-nen. Urteile entstehen nicht auf dem Wege kritischer Reduktion, sondern durch Kumu-lation und Anlagerung. Sie sind willkürlich und zufällig. Sie gelten immer ganz und gar, aber nur im Augenblick, doch der kann ewig dauern: willkürlich und zufällig. Es mögen auch immer Vernunftgründe zu ihnen beigetragen haben; aber nicht, weil sie begründet waren, sondern weil sie Beifall gefunden haben. Denn was stört, kommt unter den Tep-pich, und wenn es noch so vernünftig wäre. Es bleibt alles privat, wem es nicht gefällt, der kann ja gehen.

*


In den achtziger Jahren trat in Deutschland eine Partei auf, die die Konsensfindung an-stelle von Mehrheitsbeschlüssen zum politischen Prinzip machte. Politisch heißt öffentlich par excellence, Einvernehmen ist die typische Entscheidungsfindung im Privatbereich. Aufgelöst wurde der Widerspruch durch die Losung Das Private ist politisch, doch prak-tisch lief es auf die Privatisierung des Politischen hinaus ["wie mir grade ist"]



Das müssen Sie sich so vorstellen: Wenn alles 'ausdiskutiert' werden muss, bis keine Meinungsunterschiede mehr übrigbleiben, dann dauern Sitzungen bis in die Nacht; die, die am nächsten Tag früh aus den Federn müssen, gehen abends zwischen zehn und elf, wer zäh ist oder lange schlafen kann, bleibt bis nach Mitternacht, und wegen eintretender Müdigkeit werden die Meinungsverschiedenheiten immer kleiner. Es behalten diejenigen das letzte Wort, die am längsten ausharren. So kommen "konsensuell" Beschlüsse zustan-de, die willkürlicher und zufälliger sind, als es ein Mehrheitsvotum je sein könnte.

*


Das konnte nicht lange dauern, schon gar nicht, seit die Grünen hier und da in Regie-rungen einrückten. So absurd es war – ganz aus der Luft gegriffen war die Grundidee nicht. Denn tatsächlich konstituiert das Politische in gewissem Sinn ein Zwischenreich zwischen unserer Welt und der Meinen. Es bleibt das Öffentliche par excellence, davon ist nichts zurückzunehmen. Aber der Modus der Entscheidungsfindung ist in der Politik nicht der der Wissenschaft. Der Politiker kann nicht warten, bis im stetigen Prozess kri-tischer Reduktion einmal ein Punkt erreicht ist, wo man sagen kann: Das ist 'einstweilen endgültig'. Politische Entscheidungen müssen fallen, wenn sie fällig sind, ob ausdiskutiert oder noch ganz in der Schwebe. 

Anders als im wissenschaftlichen Bereich gelten sie ganz und gar, nicht unter Vorbehalt; und anders als im privaten, sind sie terminiert: bis zur nächsten Wegbiegung. Sie sind nicht notwendig, sondern zufällig. Es werden nicht Gründe bis zu ihrer Erschöpfung geprüft, sondern Meinungen gesammelt; Motive, Werturteile, Ästhetisches. Doch wenn die Revision auch nicht permanent ist wie in der Wissenschaft, ist sie in 'vernünftig' or-ganisierten Gemeinwesen immerhin periodisch

Denn dieser Unterschied zum Privaten, diese Verbindung zu Vernunft, Wissen und Wis-senschaft bleibt unbeschadet: Alle Akteure, idealiter auch die privaten Wahlberechtigten, erkennen und messen einander als einem höheren Zweck und allgemeingültigen Grün-den verpflichtet. Anders als in Meiner Welt gilt auch im Politischen der Hinblick auf ein Absolutes, und darum gehört es zu Unserer Welt.
16. 2. 16



Können Maschinen Kunst?

 J. Wtwael, Selbst, 1601                                      zu Geschmackssachen, zu Philosophierungen

Mein Gewährsmann sagt, Geist ist Einbildungskraft. Einbilden muss ich nicht nur kön-nen, sondern wollen; wenn sie kräftig sein soll zumal: Sonst könnte ich nämlich nichts davon behalten

Dem theoretischen Philosophen geht es nicht um das Hervorbringen überhaupt, sondern um das Hervorbringen von Vernunft. Das betrifft die Qualität der Zwecke. Gewählt wer-den sie aus Freiheit. Wenn ich sie im sinnlichen Reich, in Raum und Zeit realisieren will, müssen sie so sein, dass sie von andern, in deren Weg sie liegen, ihrerseits gewollt werden können; da eröffnet sich eine Welt.  

Davon ist hier nicht die Rede. Kunst verwirklicht ihre Zwecke im höchsten Fall als Bilder, die liegen niemandem im Weg. Es muss sie keiner wollen und wählen. Wenn sie gefallen, ist es gut, und wenn nicht, ist es auch gut. Mit andern Worten, es geht um Qualitäten, die nicht um eines andern, sondern um ihrer selber willen wählbar sind.

Eine Maschine könnte per Zufallsgenerator auch solche Qualitäten... na ja, nicht einbil-den, aber doch ausdrucken. Doch wählen, welche sie davon behalten will, kann sie schon nicht mehr. Genauer gesagt, ein ästhetischer Produzent braucht ein ästhetisches Publi-kum, sonst produziert er in den Wind. 

Wo es ein Publikum aus Maschinen gibt, die per Zufall wählen, nein: herauspicken, was sie behalten wollen, könnte es maschinelle Kunst geben. Wer sollte aber ein solches Pub-likum schaffen? Maschinen nicht; sie könnten es nicht wollen.

Kommentar zu Kunst von Maschinen - für Maschinen? 23. 3. 21



Freitag, 23. Juni 2023

Anschauung, Vorstellung, Begriff.

                                                               aus Philosophierungen

Mit Vorstellung meine ich die Re-Präsentation eines zuvor schon angeschauten Bildes; wo-bei es unerheblich ist, ob das Bild 'wahr-genommen'* oder 'ein-gebildet' wurde. Entscheidend ist die Anschaulichkeit.

Das Re-Präsentieren geschieht, indem das Bild mit einem Symbol ausgezeichnet und in einem Speicher abgelegt werden. Dort werden sie durch das Aufrufen des Zeichens 'vergegenwärtigt'.**

Vorstellungen, die durch ein Symbol bezeichnet sind, lassen sich ipso facto zu einem System fügen; und werden zu Begriffen. 


Juli 21, 2009

**) Wir sagen erinnern, aber meinen eräußern.


*) Nota. - Nachzutragen ist: Das sinnlich-Gegebene - mit den Augen Gesehene, mit den Ohren Gehörte, mit der Nase Gerochene - ist kein 'Ding'; sondern immer nur dieses oder jenes Gefühl. 'Wahrgenommen' wird nur dies. Zu einem Bild werden Gefühle erst durch ihre zusammenfassende Bestimmung als Dieses (dieses Eine als ein Ganzes Mannigfal-tiges).** Dieses erst wird als Bild  angeschaut; bildend ist die Anschauung nicht rezeptiv, sondern tätig.

**) Der erste Beitrag der Einbildung: die Wahrnehmung des Gesehenen als eine Gestalt aus Figur und Grund.


Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Donnerstag, 22. Juni 2023

Anschauung, Begriff und Aktualität der Kritik.

 Magnus Enckell                                                                  aus Philosophierungen

Den sinnlichen Anteil an der Anschauung nennt Fichte Gefühl, Leiden: ein unfreier Zu-stand. Anschauen ist - als ein Reflektieren auf das Gefühl - ein Handeln, und geschieht aus Freiheit(Kant hatte zwischen Anschauung und Sinnlichkeit noch nicht unterschie-den.)

Die Scheidelinie zwischen anschauen und denken markiert der Begriff. Und zwar geht es nicht darum, ob ich ihn 'richtig' gebrauche, so wie alle anderen in derselben Situation; sondern dass ich ihn mir vorsetze als Regel, wonach ich ihn konstruieren soll. Ich habe meine Anschauung gefasst heißt: Ich habe sie so auseinandergelegt, wie ich sie bei näch-ster Gelegenheit wieder zusammenzusetzen mir vornehme. Nun erst habe ich sie. Denn als Begriff ist er aus dem Zeitverlauf ausgeschieden, er ist 'im Raum' verfügbar geworden wie ein Rechenchip. Ich kann mit ihm operieren, ohne meine Einbildungskraft neu bemü-hen zu müssen; die vertrüge nämlich keine (Re-)Konstruktionsvorschrift

Empirisch handelt es sich wohl um den Akt der Digitalisierung. Jedoch: Die Transzenden-talphilosophie beschreibt nicht einfach, was geschieht, sondern will seinen Sinn deuten. Das ist kein bloßes Übersetzen aus der einen Sprache in die andere. Es ist - übrigens in beiden Richtungen - mehr als das.

Und nie vergessen: Wir treten in der Wissenschaftslehre aus der Vorstellung nie hinaus. Sie bleibt überall immanent, sie ist Selbstaufklärung des Vorstellens. (Aber außerhalb des Vorstellens ist nichts weiter. - Oder alles, was es gibt, gibt es in der Vorstellung und durch die Vorstellung. Was ich mir nicht vorstellen kann, kann ich mir nicht einmal vorstellen.)
11. 7. 17 

Es sieht nur so aus, als wollte ich Fichte eine Geringschätzung des Begriffs andichten. Transzendentalphilosophie ist Vernunftkritik, Kant nahm als seinen Gegenstand das ratio-nalistische Weltsystem der Leibniz-Epigonen Wolff und Baumgarten, das ein halbes Jahr-hundert lang die deutsche Philosophie beherrschte. Es war ein bloßes Begriffssystem. Al-es schien begriffen, sobald es nur definiert werden konnte. Die Begriffe waren wahrer als die Erscheinungen, in ihnen schimmerte durch, was die Dinge an sich waren.

Nach Kant war Stoff des Wissens das Erfahrene - im Begriff ist festgehalten, was die Intel-ligenz angeschaut hat. Aber die Intelligenz verfügt über Instrumente - 'Formen', in die sie die Anschauung fassen kann; Kategorien und Anschauungsweisen, das Apriori der Erfah-rung. Die Frage, woher die kommen, versagte er sich, wohl um 'dem Glauben Platz zu schaffen'. So aber standen sie nun da: nackt und bloß, selbst wieder nur als Begriffe ohne erfahrenen Stoff. 

Also war die Kritik noch nicht vollständig gewesen. Die Wissenschaftslehre führte die Kri-tik fort bis zu dem Punkt, wo das Vorstellen selbst begann. Ob sie von diesem Punkt aus das historisch gegebene System der Vernunft bündig bis zu seinem Schluss- oder besser Flucht-Punkt rekonstruiert, ist diskutabel. Doch die eventuelle Vollendung des Systems in der Vorstellung ist die eine Aufgabe der Transzendentalphilosophie. Die andere, die ihr bis in alle Ewigkeit erhalten bleibt, ist die... aktuelle Kritik des historisch gegebenen Vernunft-systems. Und die besteht, kurz gesagt, in nichts anderem als dem Vergleich der in den rea-len (Geistes- oder Natur-) Wissenschaften geltenden Begriffe mit ihren eigenen, durch transzendentale Rekonstruktion gewonnenen kritischen Begriffen. Die sind es, die in der aktuellen Auseinandersetzung mit den mehr oder minder dogmatischen Schulen ihre Rea-lität ausmachen.

14. 5. 19

Mittwoch, 21. Juni 2023

Ist das Ästhetische der Vorhof vom Wahren - oder umgekehrt?

aus scinexx                                   zu Geschmackssachen, zu Philosophierungen

Im Potsdamer Einstein-Forum war das Verhältnis von Erkenntnis und Ästhetik diskutiert worden. Ist wahr nur, was auch schön ist? Und tut der Forscher nicht gut daran, bei der Suche nach dem Wahren auch ästhetische Wege zu beschreiten? -

Das sind in Wahrheit zwei Fragen, die unmittelbar gar nicht zusammenhängen. Das eine ist, ob eine Forscher nicht gut daran tut, wenn er vor einem neuen, großen Problem zu-weilen in den ästhetischen Zustand abtaucht und die Reflexion einstweilen abschaltet - und so vielleicht zu einer Erleuchtung kommt. Ein anderer trinkt einen Kaffee oder zieht sich eine Linie. Das ist eine heuristische Frage und ist rein pragmatisch zu beantworten. 

Den Kopf freimachen und die Einbildungskraft spielen lassen wird immer nützen. Dass aktive Forscher darüber miteinander reden, ist vielleicht nützlich, aber ein irgendwie all-gemeineres theoretisches Interesse kann es nicht beanspruchen. Immerhin lehrt die Er-fahrung: Sobald die neugierige Anschauung des Forschers zur analytischen Reflexion und zu den empirischen Details übergeht, treten die Begriffe wieder in ihr Recht und ist die Schönheit regelmäßig wieder perdü - sagt nicht nur Jens Reich.

Das andere ist die erkenntnislogische und gar metaphysische Frage, ob wissenschaftliche Erkenntnis und ästhetisches Erleben letzten Endes womöglich "aus demselben Stoff ge-macht" sind.

Da muss man schon etwas weiter ausholen.



Die empirische Psychologie kennt das Faktum der Gestaltwahrnehmung. Es ist ein Phä-nomen, das sowohl dem ästhetischen Erleben als auch der Kognition angehört: dass näm-lich schon die rein sinnliche Wahrnehmung - sehen und hören - nicht aus dem Zusam-mensetzen einzelner Reize besteht, die erst vom reflektierenden Verstand zu sinnvollen Ensembles zusammengestzt werden, sondern dass umgekehrt schon das sinnliche Wahr-nehmen selbst "von sich aus" in der strukturlosen Masse der Sinnesreize nach bedeu-tungsvollen Figuren sucht, die die einzelnen Reize zueinander 'in Beziehung setzt' und dadurch eigentlich erst identifizierbar macht.

Dass unser Gehirn so verfährt, ist offenbar eine stammesgeschichtliche Erwerbung. Es besagt nur, dass unsere Gattung damit bislang immer ganz gut gefahren ist. Über die Na-tur der Dinge oder über die Wahrheit unseres Wissens lehrt es uns gar nichts.

*

Bevor wir uns in den Fallstricken unserer vorgefertigten Begriffe verheddern, dies: Von der Natur der Dinge wissen wir gar nichts und können nichts wissen. Wir wissen nur das, was in unserm Bewusstsein vorkommt - das ist eine Tautologie, beide Ausdrücke bedeu-ten dasselbe. In unserm Bewusstsein stecken aber kein Dinge, sondern nur Vorstellungen von Dingen. Allenfalls könnten wir mittelbar etwas von den Dingen wissen, sofern wir Grund zu der Annahme haben, dass den Vorstellungen in unserm Kopf etwas an oder in den Dingen außerhalb unserer Köpfe entspricht. Diese Frage also gilt es zu klären, und danach können wir an die Prüfung der Frage gehen, was wir von den Dingen wissen. Tie-fer werden wir in die Wahrheit nicht eindringen.

Wenn wir also die Dinge vorderhand nicht nach ihrem Wesen unterscheiden können, kön-nen wir sie doch beobachtend danach unterscheiden, wie sie in unser Bewusstsein hinein-kommen: "nach Schönheit" oder "nach Wahrheit"? Auch hier kommen wir mit vordefi-nierten Begriffen nicht weiter. 'Was ist Wahrheit?' fragte Pontius Pilatus, und 'Was ist Schönheit?' fragte Plato lange davor.

Schön ist nach Kant, 'was ohne Interesse gefällt'. Wenn es mehr sein sollte als technische Brauchbarkeit - wie sollte das vom Wahren nicht auch gelten? Dazu gesellt die scholasti-sche Tradition das Gute - drei Transzendentalien als drei Namen für das Absolute. Drei Namen als drei Weisen des Anschauens; wieder ist die Frage: Wie kommen sie ins Be-wusstsein?

Was wahr ist (und was nicht) wird begriffen, was schön ist (und was nicht) wird ange-schaut. Begreifen - nämlich in all seinen möglichen Bestimmungen erfassen - kann ich nur das, was ich zuvor angeschaut habe. Denn nur das ist überhaupt bestimmbar. Begreifen ist Fortschreiten vom Anschauen zum Bestimmen, doch was immer ich bestimmt habe, kann ich wieder anschauen - als ein Bestimmbares, als ein zu-Bestimmendes; und so weiter in infinitum.

Kann ich Anschauen, ohne zu begreifen? Kann ich anschauen, ohne zu bestimmen? Der moderne Mensch, das bürgerliche Subjekt des Vernunftzeitalters, lebt in einer hoch ar-beitsteiligen Gesellschaft, wo er nicht lange bestehen könnte, wäre ihm nicht das Bestim-men längst habituell geworden. Gewohnheitsmäßig neigt er zum Bestimmen, doch mit etwas gutem Willen kann er es sich auch verkneifen; aber wollen müsste er es.

Das aber wäre das ästhetische Wahrnehmen. Es ist ein Wahrnehmen, das sich des fort-schreitenden Bestimmens enthält. Jeglichen Urteils sich enthalten kann es nicht: Das wä-re überhaupt kein Wahrnehmen. Ästhetisch nenne ich ein Wahrnehmen, das als solches - ohne allen Vergleich, ohne alle Reflexion - mit einer Wertung verbunden ist: gefällt oder gefällt nicht? ("Ohne Interesse" wohlbemerkt.) 

Damit ist Schluss. Mehr an ihm kann die ästhetische Betrachtung nicht finden, sobald die danach sucht, hört sie auf, ästhetisch zu sein; beginnt sie, aus Bestimmungen weitere Be-stimmungen herzuleiten, und macht sich ans Begreifen - das aber nie an ein Ziel kommt; es gilt immer nur vorübergehend.*

*

Bis hier ist der Ertrag denkbar trivial: Der Forscher mag, wenn es in seinem Temperament liegt, wann immer er mit dem Räsonnieren nicht weiterkommt, nach einem ästhetischen Bild suchen, das ihn immerhin in irgendeine Richtung führt. Wie weit, kann er immer nur ausprobieren, und wenn er Pech hat, merkt er viel zu spät, dass er sich verrannt hat. Mit andern Worten, er ist gut beraten, wenn er seinen bildhaften Phantasien mit Ironie und trockenem Verstand begegnet. Doch irgendein Vor-Urteil braucht der empirische For-scher, denn Erfahrungen laufen einem nicht über den Weg: Man muss sie machen, indem man vorgefundene Daten mit einem Entwurf vergleicht. Da sind ästhetischen Vor-Urteile so gut wie andere; nur diesem fallen sie leichter jenem, und hinterher propagieren kann man sie besser als alles andere.

Aber es ist wie immer doch etwas vertrackter als auf den ersten Blick. Was ist denn der Sinn des Begreifens? Im Unterschied zum anschaulichen Bild lässt sich der Begriff im Gedächtnis archivieren, bei Bedarf hervorholen und - was das weltgeschichtlich Umwäl-zende an ihm war - einem Andern, der mit dem Bestimmen auch schon ein Stück voran-gekommen ist, mitteilen. (Technisch: aus dem analogen Modus in den digitalen Modus übersetzen.) Um den jeweiligen Grad der Bestimmtheit mag es immer wieder Missver-ständnisse geben, aber es ist immerhin etwas da, worüber man streiten und worüber man sich vertragen kann. Ohne ein Mindestmaß an Bestimmtheit könnte man nur miteinander handgreiflich werden.

Seit ein solches Mindestmaß an Bestimmtheit im öffentlichen Verkehr als allgemeinver-bindlich vorausgesetzt wird, redeten die Menschen von einem Vernunftzeitalter. Nicht so als solle behauptet werden, dass überall die Vernünftigen herrschen. Aber so, dass Ver-nunft allenthalben als der letztendliche Maßstab gilt.

Ein Ding bestimmen heißt am ihm Merkmale feststellen. Ein Merkmal ist das Verhältnis eines Dings zu einer möglichen Absicht (Zweck, Interesse; auch das Interesse an bloßer Erkenntnis ist ein Interesse). Bestimmungsgrund ist die Absicht, das Ding resoniert nur: Es sind erst die Merkmale, die ein Ding zu einem solchen machen. Der Begriff des Dings ist das Schema seiner Merkmale.

Etwas ins Unendliche fortbestimmen heißt: ein ums andere Merkmal an ihm finden, ali-as: eine um die andere Absicht an es heften.  

Ins Unendliche fort?

Vernunft bedeutet: an den Dingen Merkmale finden, die jeder wiedererkennt, weil er die Absichten, denen sie gelten mit allen Andern teilt oder teilen könnte. Es wird der Mo-ment kommen, wo einer, wie vernünftig er auch wäre, die Merkmale nicht wiederkennen kann, weil er die Absichten nicht mehr teilt. Das ist der Normalfall in den Wissenschaf-ten. In der scientific community werden tausende von Bestimmungen geteilt, die über den Horizont des wissenschaftlichen Laien und Normalmenschen hinausgehen, weil seine Absichten ganz woanders liegen. Und an der vordersten Front sowohl der empirischen Forschung als auch der Theorie wird Absichten gefrönt, die das Gros der Wissenschaftler nicht versteht, weil es sie nicht mehr oder noch nicht teilt. 

So ist es faktisch. Aber prinzipiell könnte jeder Vernünftige bei genügendem Eifer soweit kommen. Da sind keine Grenzen gesetzt. Die Grenzen der Anschauung wurden jedoch schon längst überschritten. Die Einstein'schen Begriffe vom Raum-Zeit-Kontinuum und von der Raumkrümmung liegen in anschaulicher Forschung gewonnene Daten zu Grun-de. Doch vorstellen kann sie sich kein Mensch. Und auch nicht jene mikrophysikalischen Quanten, die mal als Teilchen, mal als Welle erscheinen, und womöglich an zwei Orten gleichzeitig. Niemandem, der die empirischen Forschungen, die diesen Begriffen zu Grunde liegen, nicht selber durchgeführt hat, werden sie je anschaulich werden.

So ist es heute schon. Davor, dass das Bestimmen ins Unendliche fort geht, kann einem nur schwindelig werden. Übereinstimmung wird faktisch gar nicht mehr möglich sein. Es heißt bereits, an der vordersten Front gälte unter Forschern und Theoretikern, sobald das engste Hyperdetail verlassen wird, eine neue Doxa an Stelle von Wissenschaft - die darauf beruht, dass man seinem Nahbarn eben glauben muss, weil man seine Versuche in der Wirklichkeit nicht wiederholen kann. 

Das Denken wurde zu bestimmt. Wenn einer den Stein des Weisen doch einmal entdek-ken sollte, wird es nichts nützen, weil er es niemanden mehr wird mitteilen können.

*

Oder, wenn schon nicht mehr in Begriffen, doch wieder in Bildern?

Vor Jahr und Tag war viel vom Iconic turn in der Wissenschaft die Rede. Damit war mehr gemeint als bei der oben besprochenen Tagung des Einstein-Forums. Es ging um die Frage, ob die unvermeidliche sprachliche Form der Mitteilung ihrer Ergebnisse nicht zu einer Fes-sel für das Denken der Wissenschaft geworden ist.

Das war alles noch zu spekulativ und ist im Sande verlaufen. Allenfalls am Beispiel der damals in größerem Umfang zur Anwendung kommenden Hologramme fand man einen Anhaltspunkt. Aber die dienten auch nur wieder zur Illustration der begrifflichen Vorträ-ge, selber zum Denkzeug taugen sie nicht.

Ein viel weiterer Ausblick öffnet sich freilich auf der gegenüberliegenden Seite der vor-stellenden Tätigkeit, da, wo das Ästhetische, wie es sich gehört, 'um seiner selbst willen' wahrgenommen wird: in der Kunst.

'Musik sei nicht zu unbestimmt, um in Worte gefasst zu werden, hat Felix Mendelssohn gesagt, sondern zu bestimmt.

Heute würden wir sagen: Das Musikstück – und jedes Kunststück – ist über bestimmt. So sehr bestimmt, dass es durch allgemein-geltende Zeichen eben nicht sicher erfasst und vollkommen re präsentiert werden kann. Das Kunststück ist singulär. De singularibus non est scientia – Von einem Einzigen gibt es kein Wissen, sagten die Scholastiker. Das, was ganz allein auf der Welt so ist, wie es ist, das kann durch kein Anderes – Bekanntes – auf der Welt beschrieben werden. Es ist lediglich qualeschon quid wäre zu viel gesagt, weil das an ein Verhältnis zu Anderem glauben lässt.'
 [18. 2. 16]

Wie kann aber ein Gegenstand ästhetischer Anschauung 'bestimmt' worden sein? Absich-ten, Zwecke und Interessen fallen als Bestimmungsgrund aus. Welcher käme sonst in Be-tracht?

Offenbar kein Verhältnis, in das ich die Anschauung selber setzen will, sondern eines, in dem ich sie vorfinde: anschauliche Verhältnisse. Da haben wir Formate, Proportionen, Farben, Linien, Massen, Rhythmus, Hell-Dunkel-Werte, langsam-schnell und laut und leise und so weiter. Sie alle werden zusammengehalten durch ein ordnendes Prinzip: das Figur-Grund-Verhältnis. Es ist die Grundlage der Gestaltwahrnehmung, und die hat - siehe oben - mit Wahrheit und Erkenntnis nichts zu tun. Aber sie ist unsere. Sie ist die Grundlage allen Anschauens. 

Ästhetische Betrachtung ist Anschauung gegebener Verhältnisse. Sie geschieht ohne andere Absicht als eben die: Verhältnisse anzuschauen.

*


Wie ich es also drehe und wende: Ästhetik und Erkenntnis sind zwei paar Schuhe.
 

*) Das aber tut es: ganz oder gar nicht.  

22. 6. 18


Nachtrag. Ich habe da so eine Ahnung: Der Unterschied und die vielleicht elementare Unübersetzbarkeit 'westlichen' und 'östlichen' Denkens liegt eben darin, dass die Schei-dung von Bild und Begriff, Anschauen und Bestimmen hier stattgefunden hat und dort nicht. Östliche Ästhetik ist voll diskursiver und normativer Spurenelemente, die Diskurse sind von Bildern durchleuchtet. Das Bestimmen verliert sich immer irgendwann im Unge-fähr. Es fehlt, sagt der Westler, die Schärfe des Begriffs.

Ja, ist das ein Mangel? In der bildenden Kunst ist es dort nie zu einer Anschauung des Raumes gekommen - doch das macht für den Westler gerade ihren Reiz aus. In der japanischen Malerei wurde im 20. Jahrhundert immer wieder versucht, die westliche Perspektive einzuführen - und es entstand idyllischer Kitsch. Doch ohne Bestimmtheit, ohne Begriffe gibt es keine Kritik, und ohne Kritik keine Vernunft. Keine Kunst könnte das wettmachen.



Dienstag, 20. Juni 2023

Denken ist, was immer es sonst...

                                                                                          zu Philosophierungen

Denken ist, was immer es sonst auch sein mag, zuerst das Zuschreiben von Qualitäten an sinnliche Reize; das, was der Transzendentalphilosoph Fichte unter Anschauung versteht. 

'Der Mensch' ist nicht zum Teil sinnlich und zu einem andern Teil geistig. Schlicht und phänomenal aufgefasst ist jeder Mensch, was immer er sonst auch sein mag, zuerst ein (ein) Organismus.

Das Wort stammt daher, dass darin verschiedene Organe mit verschiedenen Funktionen so organisiert sind, dass sie fürs Überleben und die Fortpflanzung des Organismus zu-sammenwirken als ob sie eins wären. Man wird Organe und Funktionen einander zuwei-sen, um die Gesamtfunktion verstehen zu können - aber dazu muss man sie erst unter-scheiden und individualisieren. 

Dass man danach dieses unter Intelligenz und jenes unter Physis gruppiert, wird später noch genügend Denkschwierigkeiten machen. Vollends unbegreiflich wird es aber, wenn man beide als zwei gleich ursprüngliche Einheiten auffasst, die erst nachträglich (wie und von wem?) kombiniert und einander koordiniert wurden. 

Wenn man die Dualität von Geist und Materie voraussetzt, wird man sie nicht nachträg-lich hinwegsophistizieren. 

Dafür gibt es allerdings keinen denkökonomischen Anlass - von Gründen gar nicht zu reden.
4. 10. 21 


Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Montag, 19. Juni 2023

Die Metakritik der Politischen Ökonomie.

 M. C. Escher, Wasserfall                                                                                   aus Marxiana

Selbstverständlich kann man die Kritik der Politischen Ökonomie ihrerseits wiederum als eine theoretische Wissenschaft auffassen... 

...keine 'Objekt'-Wissenschaft, sondern eine 'Meta'-Wissenschaft.

Als solche... ist sie eo ipso Kritik, und wenn die Kritik 'radikal' ist..., dann geht sie jener 'Realwissenschaft' auf den Grund. 


Und der Grund einer Wissenschaft ist niemals 'immanent', sondern liegt außerhalb der-selben, liegt "vor" ihr - denn sonst läge er ihr nicht "zu Grunde": Nicht die Wissenschaft selber begründet ihre Voraussetzungen, sondern die Voraussetzungen - die von woan-ders her stammen - begründen eine Wissenschaft. Dieser 'Grund' ist immer intentio, "Ab-sicht"; er wird immer nicht "gewusst", sondern "gemeint": Er wird postuliert.

Die 'Wissenschaft von einer Wissenschaft' geht jener, wenn sie radikal ist, auf den Grund: verfolgt einen vorliegenden theoretischen Diskurs "rückwärts" bis hin zu dem ihm logisch 'zu Grunde liegenden' Postulat.

Die Setzung des Postulats, der theoretischen Absicht, geschieht "aus Freiheit". Sie ist al-so praktisch. Und darum ist die Meta-Wissenschaft, qua Kritik, eine praktische Disziplin; handelt nicht von dem, was ist, sondern von dem, was 'gilt': was sein soll.

Der Grund-Satz der Politischen Ökonomie, ihre postulierte logische Voraussetzung als positive, als Real wissenschaft, ist der bei den Physiokraten noch unverhohlen ausgespro-chene Satz: 'Die Ökonomie' ist ein in sich selbst begründetes geschlossenes System: ist ein vollkommener KreislaufSeiner wissenschaftlichen Naivität entkleidet lautet dieser Satz: 'Die Ökonomie' soll sein ein in sich selbst begründeter Kreislauf; oder: sie gilt uns als... Sie soll dargestellt werden als...

Also die Absicht, die der Theorie zu Grunde liegt, ist die, 'die Ökonomie' als in sich selber begründet darzustellen; sie soll als begründet gelten oder: so, wie sie ist, soll sie gelten. Oder kurz, so wie es ist, soll es sein. Beziehungsweise, die bürgerliche Gesellschaft ist ge-rechtfertigt.

Inhalt der Kritik der Politischen Ökonomie ist: darzustellen, dass die - bei Ricardo schon nicht einmal mehr ausgesprochene, stillschweigend, "selbstverständlich", enthymemisch vorausgesetzte - Auffassung der 'Ökonomie' als ein logisch wie historisch geschlossenes System auf der Absicht beruht, die bürgerliche Gesellschaft zu rechtfertigen. 

Aber sofern die Kritik der Politischen Ökonomie selber Wissenschaft ist, ist sie ihrerseits 'begründet' - in einem logischen Postulat, in einer praktischen Absicht. Und dieses logi-sche Postulat heißt: Die Geschichte soll gelten als der Sprung aus der Notwendigkeit in die Freiheit. Und das ist nur die logische Formulierung der praktischen Absicht: Wer ein Mensch ist, soll frei sein.

Diese theoretische Darstellung der 'Kritik' ist ihrerseits Meta-Theorie.

Die theoretische Darstellung der Kritik der Politischen Ökonomie aus ihrem logischen Grund heraus; die Dar-stellung ihres logischen Grundes als ein Postulat, als praktische Absicht - ist die Metakritik der Politischen Ökonomie. Und "es zeigt sich", dass die Meta-kritik der Politischen Ökonomie "übereinstimmt" mit der, "nichts anderes ist" als - die Wissenschaftslehre.

aus e. Notizbuch 29. 11. 89


Nota. - Das ist nicht viel was andres als der Eintrag von gestern? Nein, aber in andern Worten; und viel älter: aus einem vorangegangenen Jahrhundert.
JE


Dynamische Darstellung, statische Kritik, I.

spandau-arcaden                                             aus Philosophierungen Die genetische Darstellung unterscheidet sich von de...