Sonntag, 8. September 2024

Kritisch ist die Alltagsvernunft; Philosophie ist kritizistisch.

permaforet                        zu  Philosophierungen, oder Das Vernunftsystem

...es ist gar nicht wahr, dass die Täuschung, die Dinge in Zeit und im Raum für Dinge an sich zu halten, unvermeidlich sei. Es ist allerdings notwendig, so auf sie zu handeln, als ob sie es wären; denn / unsere Handlung selbst geht durch das Medium der Vorstellung hin-durch; man kann nicht handeln, ohne das Bild seiner Handlung sich vorzuhalten. Aber die Handlung und das Behandelte müssen notwendig aus demselben Reflexionspunkte angese-hen werden. 

Denn die technisch praktische Täuschung ist unvermeidlich. Kein Experiment, kein Kunst-produkt ist möglich, ohne die Formen der Sinnlichkeit dem Gegenstande zuzuschreiben, weil man sie in der Handlung sich selbst zuschreiben muss - aus einem Grunde, den ich zu seiner Zeit und an seinem Orte bestimmt darlegen werde. Es ist notwendig, so auf sie zu handeln, aber es ist gar nicht notwendig, sie so zu denken, wenn man sie bloß denkt, um sie zu denken.  

Diese Täuschung im Denken gründet sich auf die bloße Gewohnheit, auf dem niedrigsten Punkte der Reflexion zu bleiben. Diese Gewohnheit kann durch eine neue, durch fortge-setztes gründliches Nachdenken und durch stete Aufmerksamkeit auf sich selbst zu erwer-bende Gewohnheit aufgehoben werden. Das Handeln zieht uns stets auf jene niedrige Stufe herab; aber bei der geringsten Reflexion auf sich selber kann man in jedem Augenblicke sich wieder ganz klar bewusst werden, dass man nur in der Welt der Erscheinungen lebe; durch die geringste Reflexion auf sich selber kann man sich wieder in das Gebiet der reinen Ver-nunft und der reinen Wahrheit erheben und wenigstens seinem Geiste nach in einer höhe-ren Welt wandeln. 
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J. G. Fichte, "Über den Unterschied des Geistes und des  Buchstabens in der Philosophie" in Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971 [Meiner], S. 73f. 



Nota I. - Im Handeln und für das Handeln ist die realistische Auffassung der Welt unum-gänglich, und da wir den größten Teil der Zeit, den wir auf der Welt sind, mit handeln be-schäftigt sind, ist sie gewissermaßen die richtige: Das wirkliche Handeln ist nur auf dem niedrigsten Reflexionspunkt möglich. Wenn ich momentan neben das Leben trete und mich und mein Handeln bedenke, nehme ich den Gesichtspunkt des Philosophen an, und ich werde ihn nicht gleich wieder vergessen, sobald ich erneut ans Handeln gehe. Ich begebe mich wissentlich auf die realistische Auffassung herab und handle so als ob.

24. 8. 17

Nota II. - Kritisch ist Vernunft an sich, kritisch ist auch der gesunde Menschenverstand, er lässt sich kein X für ein U vormachen und geht Hütchenspielern nicht au den Leim. Anders könnten Verständigungshindernisse nicht dauerhaft aus dem Weg geräumt werden und wäre gesellschaftlicher Verkehr nicht möglich. Kritisch ist ein Denken, das bei jeder Bestimmung nach dem Grund fragt; aber natürlich nur bei Fragen, die strittig sind, andernfalls wäre es Zeitverschwendung.

Eine höhere Form der Alltagsvernunft ist die Wissenschaft. Sie fragt nach den Gründen der Bestimmungen systematisch, ohne besondern Anlass - sie macht ihre Gegenstände erst strit-tig.

Nach ihrer Berechtigung zum Fragen fragt sie freilich nicht jedesmal: Das wäre Zeitver-schwendung. Dass sie gerechtfertigt ist, muss sie immer schon voraussetzen. Sie ist Wissen-schaft des Wirklichen, sie ist keine Philosophie.

Philosophie ist die Feiertagsform der Vernunft. Sie kommt nach dem Alltag und vor dem Alltag. Einkehr und Erbauung sind Sache von Kunst und Religion; sie dienen der Reinigung und der Fortsetzung des Alltagschäfts mit erneuerter Energie. Kenner und Genießer be-haupten sie als Selbstzweck. 

Besinnung in eigentlicher Bedeutung, als Heraus- oder Hineinfindung von Sinn, nämlich des Zwecks der Zwecke, betreibt die Philosophie; feiertags, denn alltags bliebe sonst fürs Geschäft keine Zeit. Sie ist nicht bloß kritisch, sondern kritizistisch, indem sie nach der Rechtfertigung der Vernunft selber fragt. Die aber hängt problematisch in der Luft. Sie muss sich allezeit neu rechtfertigen, durch die Tat, ihre Rechtfertigung hat sie als Zweck vor Augen und hätte sie doch gern als Grund im Rücken.

Selbstzweck wie Kunst und Religion kann sie daher nie werden.
18. 4. 19
 
 
Nota III. - Bleibt noch, obigem Kernsatz die Aufmerksamkeit zuzuwenden, der ihm ge-bührt: Man kann nicht handeln, ohne das Bild seiner Handlung sich vorzuhalten. Man wollte ihn den Grund-Satz nennen, wenn der Terminus in der Wissenschaftslehre nicht schon anderweits belegt wäre; Grund satz in dem Sinne, dass sie ohne ihn in der Luft schwebte - denn er ist der Satz, der die Transzendentalphilosophie mit der Realität verbin-det. Es kann Alles angeschaut werden, selbst unter Hintanstellung aller Absicht; das Han-deln aber muss angeschaut werden; handeln kann man nicht ohne Absicht und nicht, ohne sich ein Bild zu machen. Nur weil sie gewiss sein darf, in den Bildern der intelligiblen Welt die ganze Wirk lichkeit dargestellt zu finden, kann die Wissenschaftslehre ihrer Sache sicher sein - solange sie von ihrem Grundsatz 
nicht abweicht.
JE
 
 

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