Donnerstag, 30. Mai 2024

Wo mein Wissen anfing.

                                 zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Wie kannst du wissen, dass du denkst? Ich weiß nur von meinem Tun, nur vom Denken, in wiefern ich mein Tun erblicke. Der Zweckbegriff ist nichts Gegebenes, sondern er ist mit meinem Wissen durch mich selbst hervorge/bracht. Dieses mein Hervorbringen ist das eigentliche Objekt meines Bewusstseins. ... Ich sehe meinen Zweckbegriff nur, in sofern ich meine Tätigkeit in Entwerfung desselben erblicke
________________________________________________________________               J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 200f. 

 

Nota. -  Ich schaue an nicht Etwas, sondern das Gefühl, das mir entsteht, wenn ich mir an Etwas zu schaffen mache: 'reale Tätigkeit'. Diese Anschauung ist meine erste Reflexion: 'ide-ale Tätigkeit'. Alles, was ich denken kann und wissen werde, baut darauf.
JE

 

 

Nota. Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Mittwoch, 29. Mai 2024

Das Nichts ist nichts als das Fehlen von Etwas.

Hütchenspieler                                                          zu Philosophierungen

Unter Nichts kann man sich nichts vorstellen. Man kann Nichts denken - weil man die Negation von Etwas denken kann: Man könnte in der Vorstellung Etwas fortnehmen. Doch auch Etwas lässt sich nicht vorstellen, sondern lediglich denken: als Abstraktion von allem, was ist. Aber die einzige Eigenschaft von Allem, was ist, ist Sein: auch nur eine Ab-straktion, und nur durch sie gibt es etwas. 

Man mag abstrahieren, soviel man will: Man kann eine Negation doch nicht in eine Position verkehren. Sein ist nicht die Umkehrung von Nichtsein, sondern Nichtsein ist das Fehlen von Etwas. Es muss etwas getan worden sein, damit ich darauf reflektieren kann - und da-von abstrahieren und es womöglich verneinen. 

Auf etwas, was lediglich ist, kann ich nicht reflektieren. Es ist lediglich in Raum und Zeit, mehr ist daran nicht auszumachen. Damit es mir als Dieses oder ein Anderes vorkommt, muss ich schon diese oder ein andere Bestimmung an ihm vorgenommen haben, aber das konnte ich nur, als ich daran tätig wurde und es mich seinen Widerstand hat fühlen lassen. Und darauf kann ich re-flektieren, denn in dem Gefühl erfuhr ich etwas von ihm und von mir. Nichts kann ich nicht fühlen, denn es leistet nichts und niemandem Widerstand.

Und Bestimmen ist nicht: eine vorgegebene Bestimmtheit aufsuchen, sondern einem als seiend gefühlten Etwas ein Merkmal an zu tun, das mein Gefühl von ihm qualifiziert.

 

Dienstag, 28. Mai 2024

Gefühl ist nicht ohne Anschauung.

                      zu Geschmackssachen, zu Philosophierungen 

Gefühl und Anschauung sind nicht ohne einander. Gefühl ist etwas Reales, Anschauung etwas Ideales.
_____________________________________________________________                    J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 79

 

Nota. - Der treffende Eingangssatz einer philosophischen Ästhetik. Anschauung ist eben nicht, wie noch bei Kant, etwas schlechthin Sinnliches, sondern die erste Stufe der Refle-xion. Die erste, und insofern hat Baumgarten nicht Unrecht: Das Ästhetische ist das 'untere Erkenntnisvermögen'. Aber auch nicht weniger. Sie ist die Grundlage von allem, was folgt, denn sie ist die ursprüngliche Wertung, auf der alle andern beruhen: gefällt oder missfällt.
JE


Nota. Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Montag, 27. Mai 2024

Die Opazität der Intelligenz.

  pinterest                                   zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Viel wird gepriesen das interdisziplinäre Denken, das die starren Grenzen der wissen-schaftlichen Fächer überwindet; und, muss man doch hinzufügen, um unheimlich origi-neller Ergebnisse willen auch wohl mal überfliegt. Thomas Metzinger ist ein prominenter Vertreter dieser Pioniere. Er bietet eine bunte Mischung aus Philosophie und Realwissen-schaft, vorzüglich Neurophysiologie und Bewusstseinstheorien. Er lässt nichts aus und schießt dabei manchen Bock. 

Auch an der Kritischen Philosophie geht er nicht scheu vorbei, sondern greift mittenrein: Ein schlauer Trick der Evolution sei es gewesen, dem gesunden Menschenverstand seine Abkunft aus dem Reich des Transzendentalen zu verschleiern und ihm den Rückblick auf sich selbst "opak" zu machen - wohl um ihm lebensfeindliche Zweifel an der Wirklichkeit der Welt zu ersparen.

So komisch das klingt, so hat es doch seinen rationalen Kern. Immer wieder sind wir ver-blüfft von ihrem Einfallsreichtum bei unserer vorausschauenden Anpassung an die Fähr-nisse einer immer rascher sich ändernden Welt. Sollte sie ausgerechnet unser Ich schutzlos einer stetig nagenden Skepsis ausgeliefert haben?

Metzingers Opazität des Bewusstseins ist nicht ein Trick der Evolution, den sie in den andernfalls 'natürlich' glatten Übergang der Welterkenntnis des Menschen zur Selbster-kenntnis der Vernunft künstlich eingefügt hat, um ihn zu einem tätigen Leben in einer schaffenden Gemeinschaft zu ertüchtigen: Das nämlich hat sie besorgt. Der Mensch ist schlechthin produktiv geworden, denn es reicht ihm schon lange nicht mehr, seine Na-turbedürfnissse zu befriedigen, sondern er schafft sich darüberhinaus jedesmal neue Be-dürfnisse, und die Spirale dreht sich ohn' Ende. Die Welt ist ein Warenhaus mit offenem Horizont, da hat der gesunde Menschenverstand überreichlich zu tun. Auch seine Einbil-dungskraft ist gut bedient und es gibt keine sachliche Ursache, dass sie sich nicht ausgelastet fühlte.

Das Mysterium ist vielmehr, dass sie es trotzdem nicht tut - jedenfalls in allen Generationen immer in ein paar Exemplaren. Die nennt man Philosophen, und wenn sie ihr Weg bis nah ans Ziel geführt hat, finden sie sich 'auf dem transzendentalen Standpunkt und sehen von diesem auf den gemeinen Standpunkt herab':

Das ist das Wesen der transzendentalen Philosophie, dass sie nicht will Denkart im Leben werden, sondern zusieht einem Ich, welches im Leben sein Denksystem zu Stande bringt, sie schafft selbst nichts. Dieses untersuchte Ich steht auf dem gemei-nen Standpunkt.

In der Theorie hat die Philosophie alle Menschen als besondere zum Objekt, und sie ist geschlossen, so wie der Mensch in concreto dasteht, ihre Ansicht gilt für jedes In-dividuum. In der Ethik und Rechtslehre wird der Mensch im realen Gesichtspunkte gedacht. Dabei entsteht der deutliche Widerspruch: Der ideale Philosoph betrachtet den realen Menschen? Er ist doch aber auch ein Mensch. Der Mensch kann sich auf den transzendentalen Gesichtspunkt erheben nicht als Mensch, sondern als transzen-dentaler spekulativer Wisschenschaftler. Es entseht in der Philosophie ein Anstoß, in ihr ihre eigene Möglichkeit zu erklären. 

Was gibts für einen Übergang zwischen beiden Gesichtspunkten. - Frage über die Möglichkeit der Philosophie. Beide Gesichtspunkte sind sich ja gerade entgegenge-setzt. Gibts nicht ein Mittleres, so ist nach unseren eigenen Grundsätzen kein Mittel, zu ihm über /zugehen.
 
Es ist faktisch erwiesen, dass es so ein Mittleres gibt zwischen der transzendentalen und gemeinen Ansicht; dieser Mittelpunkt ist die Ästhetik. Auf dem gemeinen Ge-sichtspunkte erscheint die Welt als gegeben, auf dem transzendentalen als gemacht ('Alles in mir'); auf dem ästhetischen erscheint sie als gegeben, so als ob wir sie ge-macht hätten und wie wir selbst es machen würden.
____________________________________________
J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, S.
243f.


Die schöne Kunst bildet nicht, wie der Gelehrte, nur den Verstand, oder wie der moralische Volkslehrer, nur das Herz; sondern sie bildet den ganzen vereinigten Menschen. Das, woran sie sich wendet, ist nicht der Verstand, noch ist es das Herz, sondern es ist das ganze Gemüt in Vereinigung seiner Vermögen; es ist ein drittes, aus beiden zusammengesetztes. Man kann das, was sie tut, vielleicht nicht besser ausdrücken, als wenn man sagt: sie macht den trans-zendentalen Gesichtspunkt zu dem gemeinen. - 

Der Philosoph erhebt sich und andere auf diesen Gesichtspunkt mit Arbeit, und nach einer Regel. Der schöne Geist steht darauf, ohne es bestimmt zu denken; er kennt keinen ande-ren, und er erhebt diejenigen, die sich seinem Einfluß überlassen, ebenso unvermerkt zu ihm, daß sie des Übergangs nicht bewußt werden. 
_________________________________________
ders., System der Sittenlehre [1798] SW IV, S. 353

  


Sonntag, 26. Mai 2024

Das Ding an sich und der ästhetische Zustand.

                                 zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Die Vorstellung vom Ansich-Sein der Dinge ist unhintergehbar. Die Vorstellung reflektiert nicht, sie schaut nur an.

Anschauung ist die primäre Reflexion, aber davon weiß sie nichts. Dazu bedürfte sie der Begriffe. Die Anschauung ist vom Ding nur ein Bild, und als ein solches ist es nicht be-stimmt, und nur, so lange es nicht als dieses oder jenes bestimmt ist, bleibt es an sich. "Es ist nur da, inwiefern man es nicht hat, und entflieht, sobald man es auffassen will."*

Kanns nicht behalten, doch auch nicht vergessen, und fass ich es ganz, kann ich es nicht messen, singt Hans Sachs in der Fliederarie der Meistersinger. Je mehr du nach ihm greifst, je mehr entwird er dir, heißt es bei Meister Eckart: Das ist, was Schiller den ästhetischen Zustand nennt. Im ästhetischen Zustand ist der Mensch ohne alle Bestimmung; ist selbst noch nicht bestimmt und hat noch nichts bestimmt.

Ein Ding ist als solches nur in Raum und Zeit. Was es ist, bedarf der Bestimmung. Durch wen oder was? Durch ein Wollendes, das ihm mit Absicht begegnet. Worauf ich an dem Ding absehe, ist das, als was ich es bestimme. Dass es ist in Raum und Zeit, kann ich an-schauen. Was es mir ist, muss ich wollen; muss ich denken. So haben wir das Ding zweimal: einmal als Seiendes und einmal als Gedankending, einmal als Phänomen und einmal als Noumen. Und beidemale an sich, nämlich jedes einzeln. Und beide Male kann ich es nicht erfahren: Erfahren kann ich ein Ding nur als ein Seiendes, das mir etwas bedeutet. Als bloß Angeschautes ist es vor jeder Erfahrung. Als bloß Bedeutendes ist es lediglich Begriff: vor jeder Erfahrung. Wirklich, nämlich erfahren wird es als Gegenstand einer absichtsvollen Tätigkeit. An sich mag es sein in meiner bloßen Anschauung; oder als Bedeutung/Begriff/Noumenon.

*

Nun ist aber die Wissenschaftslehre keine Realgeschichte des individuellen Bewusstseins, sondern ein Modell der Vernunft. Als solches ist es 'da' auf einen Schlag, mit einem Mal. Der ästhetische Zustand ist keineswegs eine Durchgangsetappe der Bewusstwerdung. Es ist sogar umgekehrt: Die Vernunft muss bereits einen Durchschnittsstandard von Reflexion er-reicht haben, um sich auf den ästhetischen Standpunkt zu erheben

Der als allgemein verbindliche anerkannte Grad an Reflexion/Vernunft heißt common sense,  gesunder Menschenverstand auf Deutsch. Der fällt seine Urteile gewohnheitsmäßig, nämlich ohne jedesmal nach den Gründen zu fragen. Er verlässt sich darauf, dass dies hin-länglich von den vorausgegangenen Generationen besorgt worden ist, die uns ihr Wissen überliefert haben: Reflexion als erbliches Guthabenerbliches Guthaben. Erst wenn etwas geschieht, das gänz-lich unerwartet und von unserer Schulweisheit nicht vorgesehen war, wird er sich nach Gründen fragen und selber zum Reflektieren zusammenreißen.

Der geschäftige Mensch hat in der bürgerlichen Gesellschaft weder genügend Abstand noch Muße für gewohnheitsmäßige Reflexion. Das delegiert er an eine Instanz, die das Reflektieren zu ihrem Alltagsgeschäft gemacht hat und der Tagesinteressen überhoben ist: der Wissenschaft; sie bewahrt das Überlieferte. Und auch die muss, wenn ihre Untersu-chungen zu verwertbaren Ergebnissen führen sollen, die Gegenstände, die sie betrachtet, als ihr gegeben auffassen: als so und nicht anders gegeben unabhängig von den Bedingungen von Raum und Zeit; weshalb sie diese Bedingungen in ihren Laboren ausscheidet. Ein Ding an sich kommt ihr nie unter die Augen, sondern immer nur solche, die bereits so oder so bestimmt sind und die sie noch weiter fortzubestimmen trachtet. So wenig wie der gesunde Menschenverstand unterscheidet sie das Ding 'an sich' von seiner Bedeutung.

*

Allerdings ist kritische oder Transzendentalphilosophie nicht möglich, solange das Ansich-sein der Dinge nicht in Frage kommt. Wie sonst könnte ich ihre Bestimmtheit als diese oder jene davon unterscheiden und nach deren Herkunft fragen? Die Entelechien des Aristoteles, von denen Leibnizens Monade abstammten, hatten ihre Bestimmungen ebenso wie ihr Da-sein an, nämlich in sich gehabt, und ihr Erscheinen in der Zeit war ihr immanentes Gesetz. Aus dieser Vor-Bestimmung musste man heraus getreten sein, ehe man nach Gründen fra-gen konnte.

Dem analytischen, begrifflichen, diskursiven Denken wird ein An-sich nie unter die Augen treten. Dazu bedarf es der interesselosen Betrachtung - gr. theôría, lat. contemplatio. Den 'okularen' Griechen war sie noch vertraut und die Römer taten wenigstens so. Doch nach ein paar Jahrhunderten definitions- und konklusionswütiger Scholastik war es im Westen verlorengegangen, und es war nicht der praktische Geist der bürgerlichen Wirtschaftsweise, der sie wiederentdecken konnte.

*

Am Ende der Wissenschaftslehre nova methodo benennt Fichte die Stelle, wo der regulär vernünftige Menschverstand einen Übergang findet in die Transzendentalphilsophie: "Was gibts für einen Übergang zwischen beiden Gesichtspunkten. - Frage über die Möglichkeit der Philosophie. Beide Gesichtspunkte sind sich ja gerade entgegengesetzt. Gibts nicht ein Mittleres, so ist nach unseren eigenen Grundsätzen kein Mittel, zu ihm über-/zugehen.
 
Es ist faktisch erwiesen, dass es so ein Mittleres gibt zwischen der transzendentalen und gemeinen Ansicht; dieser Mittelpunkt ist die Ästhetik. Auf dem gemeinen Gesichtspunkte erscheint die Welt als gegeben, auf dem transzendentalen als gemacht ('Alles in mir'); auf dem ästhetischen erscheint sie als gegeben, so als ob wir sie gemacht hätten und wie wir selbst es machen würden (vide Sittenlehre von den Pflichten des ästhetischen Künstlers)."**

*

Das griechisch-lateinische Kunstwort Ästhetik hat Alexander Baumgarten erfunden.*** Es handelt, der griechischen Wortbedeutung entsprechend, vom "unteren Erkenntnisvermö-gen": der sinnlichen Wahrnehmung.

Baumgarten war neben Chrstian Wolff der führende Kopf der rationalistisch-metaphysi-schen Philosophenschule, aus der auch Immanuel Kant herkam. Kant stand wohl im inter-nen Streit der Schule Baumgarten näher als Wolff, aber seine Beschäftigung mit dem Thema des Schönen ging auf andere zurück.

Kant schrieb in seiner 'vorkritischen' Zeit über Manches. So setzte es sich in den Beobach-tungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen mit der schottischen Moralphiloso-phie, namentlich mit Hutchesons Systematisierung von Shaftesburys moral sense als Ingre-diens des sensus communis auseinander, der die ästhetischen Leistungen des menschlichen Geistes mit der natürlichen Anlage zu moralischen Empfindungen begründete. Edmund Burke hatte dagegen dem eingeborenen Sinn für das Schöne einen ebenso eingeborenen Sinn für das Erhabene entgegengestellt - wobei das Schöne für Sympathie und Gemein-schaft, das Erhabene aber für Ichsucht und Streit verantwortlich gemacht wurde.

Philosophisch interessant ist dabei lediglich, dass Kant den engen Horizont des Wolff-Baumgarten'schen  Rationalismus - und sei es nur versuchsweise - schon überschritten haben musste, um sich von David Humes skeptischen Sensualismus "aus seinem dogma-tischen Schlummer erwecken" lassen zu können. Anders gesagt: Er musste, und sei es nur versuchsweise, einen Gesichtpunkt oberhalb der beiden Dogmatismen schon einmal ange-nommen haben. 

Es war ein ästhetischer Gesichtspunkt.

*) System derSittenlehre, in: SW I/72
**) WL nova methodo, S. 243f. 
***) Aesthetica, Frankfurt/Oder, 1750 6. 7. 21




Samstag, 25. Mai 2024

Das natürliche Bewusstsein und der Philosoph.

   Herodot                                                  zu Philosophierungen 

Das Fortschreiten von Realität zu Realität, von einer Stufe des Bewusstseins zur anderen, ist der Gang des natürlichen Menschen, und wir können da drei Stufen annehmen:

1) Er verknüpft die Objekte der Erfahrung nach Gesetzen, aber ohne dessen sich bewusst zu sein. - Jedes Kind, jeder Wilde sucht zu dem Zufälligen einen Grund, urteilt also nach den Gesetzen der Kausalität, ist sich aber dessen nicht bewusst.

2) Der, der über sich reflektiert, bemerkt, dass er nach diesen Gesetzen verfährt; dem ent-steht ein Bewusstsein dieser Begriffe. In dieser zweiten Region kann es wohl kommen, dass man die Resultate dieser Begriffe für Eigenschaften der Dinge hält; dass man sagt, die Din-ge an sich sind in Raum und Zeit. 

3) Der Idealist bemerkt, dass die ganze Erfahrung nichts sei als ein Handeln des Vernunft-wesens.
____________________________________________
J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, S. 24


Nota. - Kann es wohl kommen? Muss es wohl kommen. Dass der Mensch räsoniert, sobald ihm sein werktätiger Alltag dafür die Muße lässt, liegt gewissermaßen in seiner Disposition, denn die Erfahrung, dass Essen, Trinken und die andern Erfordernisse des Fleisches nicht sein Ein und Alles sind, hat er aus dem Baumkronen des Urwald mit in die offene Savanne gebracht. Dass er, um dieses zu erreichen, jenes tun muss, brachte er mit, ohne es gleich zu einem Gesetz von Ursache und Wirkung verallgemeinert zu haben. Doch als er das tat, nämlich seit sein Alltag in der bürgerlichen Gesellschaft ein schlechthin werktätiger gewor-den war, konnte er reflektierend immer nur Schritt für Schritt vorgehen, wie man eine Zwie-bel pellt. Je weiter die faktische Beherrschung seiner Welt fortgeschritten war, sind in allen Tätigkeitsbereichen Spezialisten hervorgetreten, die über die Notwendigkeiten des Tages hinaus einen Über blick suchten. So sind en gros unsere Wissenschaftszweige entstanden. 

Weiter kommen die Erfahrungen des natürlichen Bewusstseins nicht.

Der eigentliche Rahmen des bürgerlichen gesunden Menschenverstands, die Fiktion einer restlos begriffenen Welt, ist nicht in den Werkstätten und Kontoren entstanden, sondern aus den Korrespondenzen fachlich übergreifender Gelehrter. Johann Gottlieb Leibniz ist sein idealtypischer Vertreter. Auf ihn bauten Christian Wolff und Alexander Gottlieb Baumgarten das nach ihnen benannte metaphysisch-rationalistische System, indem auch Immanuel Kant großgeworden sind.

In England aber, wo die materielle Produktion schon erste industrielle Züge trug, waren längst Bedenken gegen die rein spekulative Begriffswirtschaft gekommen. Nach Issac Newton, der als erster Erfahrungswissen und rationale (mathematische) Konstruktion systematisch vereinigt hat, traten Sensualisten und Empiriker als besondere Partei in Er-scheinung. Aber wo erst einmal nach vernünftigen Begriffen zu kritisieren begonnen wird, sickert der Zweifel durch jede Ritze. David Hume hat Immanuel Kant den Floh ins Ohr gesetzt: Wenn wohl Alles auf Erfahrung beruht - der harte Kern des Rationalismus, die Kausalität, tut es nicht.

Nicht die Erfahrung macht Ursache und Wirkung denkbar, sondern die 'Kategorie' der Kausalität macht die Erfahrung möglich. Das war der Beginn der Kritik der reinen Ver-nunft - und die beruht, als vielfache Wendung der spekulierenden Intelligenz, schon gar nicht selber auf Erfahrung, wie etwa die positiven Wissenschaften, sondern Wissenschaft von der Wissenschaft.
JE

Freitag, 24. Mai 2024

Die Pflicht gebietet immer konkret.

                                zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Dem wirklichen Menschen im Leben (und wie sich versteht, auch dem, der selbst Philoso-phie treibt, inwiefern er wirklich handelt) kommt das Pflichtgebot nie überhaupt, sondern immer nur eine bestimmte Willensbestimmung in concreto als Pflicht vor. Inwiefern er nun wirklich seinen Willen so bestimmt, wie sein Gewissen es in diesem Falle fordert, so handelt er moralisch.
_______________________________________________
J. G. Fichte, Rückerinnerungen, Antworten, Fragen. [S. 157] 

 

Nota I. - Die Moralität meiner Handlung entscheidet sich nicht daran, ob mein Gewissen mir dieses oder jenes gebot, sondern daran, dass es mein Gewissen war, das mir geboten hat. Nicht ob das, was ich getan habe, moralisch war, ist die Frage, sondern ob ich in mei-nem Handeln moralisch war. Pflicht ist allein, was mein Gewissen mir gebietet - und nichts anderes. Moralische Gesetze gibt es nicht. Das Gewissen gebietet immer hier und jetzt.
22. 11. 18

Nota II. - Es ist nicht die Rede davon, dass er die Stimme seines Gewissens seinem ver-nünftigen Urteil unterzöge, so als wäre sie ein Ratgeber unter vielen. Die rät ihm nicht, sondern kommandiert, und wenn er nach Abwägung vernünftiger Gründe dann anders handelt, bleibt ihm der Stachel des schlechten Gewissens doch: So sollte er nicht.  

Ethische Urteile sind ästhetische Urteile, die auf Handlungen bezogen werden - nämlich auf deren Gründe im Handelnden. Ihre Gründe werden nicht erwogen, sondern angeschaut und unmittelbar "von Beifall oder Missbilligung begleitet". Im ästhetischen Urteil fallen An-schauung und Urteil zusammen.

Das Vernunfturteil beruht auf der Vergleichung von Begriffen. Der Begriff ist Vorausset-zung und Medium der Reflexion. Die kommt nach der Anschauung. 

Die Vernunft mag beurteilen, ob die Richtsprüche meines Gewissens den Zwecken in der Sinnenwelt, die ich verfolge und auf die ich mich womöglich mit der Reihe vernünftiger We-sen, der ich doch angehöre, verständigt habe, förderlich ist oder abträglich. Doch Moralität fragt nicht nach Zwecken in der Sinnenwelt und nicht, was ich meinen Mitmenschen -, son-dern danach, was ich mir selber schulde. Dass sie bequem sei, hat noch keiner behauptet.
JE 18. 8. 20

Donnerstag, 23. Mai 2024

Das Sittengesetz ist selbstgemacht.

                                  zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik 

...daß das Sittengesetz gar nicht so etwas ist, welches ohne alles Zutun in uns sei, sondern daß es erst durch uns selbst gemacht wird.  
______________________________________________________________________
J. G. Fichte, System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. IV, S. 192

 

Nota. - Das kann, siehe gestriger Eintrag, auch nicht anders sein. Wenn ich meine Freiheit "schlechthin ohne Ausnahme" nach dem Begriffe der Selbstständigkeit bestimmen soll, kann ich mir eine Maxime von nichts und niemandem vorgeben lassen.
JE, 2. 12. 20


Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Mittwoch, 22. Mai 2024

Die rationale Fiktion.

                                                                             aus Philosophierungen 
 
Dem diskursiven Denken liegt als Prämisse die ungeahnte Fiktion zugrunde, der logische Raum – Ein und Alles ('alles, was der Fall ist') – sei eine geschlossene Sphäre, deren Um-fang lückenlos von Begriffen angefüllt ist, die einander wechselseitig bestimmen.

In unserer wirklichen Vorstellung ist die Welt hingegen ein – 'zwar endlicher, aber unbe-grenzter' – Raum, in dem Bedeutungen teils so nah bei einander liegen, dass sie einander berühren, ineinander verfließen und bei genauem Hinschauen gar nicht recht zu unter-scheiden sind; und teils ganz beziehungslos neben einander liegen ohne ein Drittes, an dem sie wenigstens zu vergleichen wären. Das logische Ein und Alles verhält sich zum wirklichen Vorstellen etwa so, wie die Welt des naturwissenschaftlichen Labors zu den Dingen unseres Mesokosmos.
ca. 2009

Die ungeahnte Fiktion nehmen wir in Anspruch, wenn und wo wir uns vernünftig verhal-ten wollen. Nicht, dass wir glaubten, dass es wirklich so ist; aber wir handeln doch so, als ob es so sei.

Das sind die sonntäglichen Momente in unserm geschäftigen Alltag. Normalerweise reicht uns ein Ungefähr, um tagein tagaus zurechtzukommen. Der scharfe Konflikt, der nur auf Messer Schneide zu entscheiden wäre, ist gottlob die Ausnahme. Doch nur, weil Vernunft uns ausnahmsweise in jedem Fall zuhanden oder doch zu Kopfe ist, können wir unser all-tägliches Ungefähr riskieren.*

Das ändert nichts daran, dass ein fertiges System der Vernunft immer eine Fiktion bleibt. Nur weil wir meinen, an sich sei die Welt ein wechselwirkendes System aus realen Teilchen, die zugleich
 Bedeutungs-Partikel darstellen, und insgesamt einen Sinn hat, der unabhängig davon ist, ob ihn jemand einsieht - nur darum ist es möglich, dass wir und in unserer All-tagsroutine regelmäßig verständigen und nach heftigem Kampf am Ende meist noch eine Friedenslösung finden. Indem sie zeigt, wie sie zustande kam, stellt die Transzendentalphi-losophie klar, dass es sich um eine Fiktion handelt.

Wozu ist das gut?

Um dem Missverständnis abzuhelfen, im Sein der Dinge sei irgend ein Sinn eingeschlos-sen. "Ihr Hauptnutzen ist negativ und kritisch. Es mangelt in dem, was nun gewöhnlich für Lebensweisheit gehalten wird, nicht daran, daß sie zu wenig, sondern daran, daß sie zu viel enthält. Man hat eben die erräsonierten Sätze der oben beschriebenen erschaffenden Meta-physik hereingetragen – und diese sollen
 [wieder heraus] gesondert werden. Sie hat die Bestim-mung, die gemeine Erkenntnis von aller fremden Zutat zu reinigen... Für die theoretische Philosophie, Erkenntnis der Sinnenwelt, Naturwissenschaft ist sie regulativ. Sie zeigt, was man von der Natur fragen müsse.

Ihr Einfluß auf die Gesinnung des Menschengeschlechts überhaupt ist, daß sie ihnen Kraft, Mut und Selbstvertrauen beibringt, indem sie zeigt, daß sie und ihr ganzes Schicksal ledig-lich von sich selbst abhängen; indem sie den Menschen auf seine eignen Füße stellt."
aus J. G. Fichte, Rückerinnerungen, Antworten, Fragen.

*) Das so genannte Zeitalter der Vernunft begann, als in den Verträgen von Münster und Osnabrück der Westfälische Frieden geschlossen wurde. Nachdem GOtt dreißig Jahre lang für Mord und Verwüstung gesorgt hatte, musste als glaubwürdiger Bürge die Vernunft nachrücken.
23. 1. 19  
 
 
PS. Ich vergaß hinzuzufügen, dass die Fiktion einer restlos begrifflich verfassten Welt das unausgesprochene Dogma jener zeitgenössischen philosophischen Richtung ist, die sich unerklärlicher Weise die systematische nennt; und da neu anfängt, wo Kant das rationali-stisch-metaphysische System der Wolff-Baumgarten abgebrochen hatte.

 
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Dienstag, 21. Mai 2024

Der Begriff passt nirgends richtig.

adpic                                                                                zu Philosophierungen

Worauf der Begriff passt, darauf passt er immer, sonst war er kein Begriff. Was man so an-sehen kann, aber auch anders, worauf also mal dieser und mal jener Begriff passt, auf das passt keiner.

Das ist aber der Fall bei fast allem, das im Leben vorkommt, und vor allem: bei allem, was in unserer Vorstellung vorkommt. – Was bleibt dann noch übrig? Eigentlich nichts. Mit andern Worten: Eigentlich passen Begriffe auf nichts, oder richtiger: Begriffe passen auf nichts eigentlich. Immer nur uneigentlich, immer nur einstweilen, immer nur vorüberge-hend.

Ein Begriff ist gar kein Schlüssel. Eher eine Kneifzange oder ein Brecheisen.
4. 2. 15

 

Montag, 20. Mai 2024

'Begriff' in der Wissenschaftslehre - und anderswo.

                                 aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Lieber Leser, sollten Sie, wie ich hoffe, außer in dieses Blog auch gelegentlich in meine Phi-losophierungen schauen, wird Ihnen aufgefallen sein, dass ich den Begriff 'Begriff' dort an-ders gebrauche als Fichte in der Wissenschaftslehre.

Dort beginnt das Bewusstsein faktisch mit dem 'Gefühl', und das ist nichts anderes der Reiz, den die Nervenenden dem Zentrum melden. (Nur bis hierhin reicht die faktische, re-ale Voraussetzung der Wissenschaftslehre, ab da beginnt das transzendentale Schema:) Des-sen Bewertung als so oder anders, als süß oder sauer, geht bereits über das Fühlen hinaus: ist Anschauung, nämlich tätiges Verhalten in so fern, als es bestimmend ist. Nicht aber die Tätigkeit des Bestimmens selbst, sondern erst ihr Produkt wird 'bewusst' in specie: als eine 'Qualität', als Süße, Säure, Bitterkeit… Diese sind Begriffe: Tätigkeiten 'als Ruhe vorgestellt'.

Etwas, das vorgestellt wird, ist nicht 'an sich' Begriff oder Anschauung: Das sind sie beide nur in ihrem jeweiligen Verhältnis zu einander; als das, worauf reflektiert wird, im Unter-schied zur Tätigkeit des Reflektierens selbst; sukzessive Stufen der Reflexion. Denn Tätig-keit kann nur 'angeschaut' werden; 'begriffen' werden kann nur ihr Produkt. (Indessen lässt sich jede Tätigkeit, die als solche nur angeschaut werden kann, durch Abstraktion aus ihrer Verlaufsform in der Zeit herauslösen und 'als Ruhe vorstellen'; dies freilich nur durch einen Kraftakt der Vorstellung.)

In meinen Philosophierungen ist ein 'Begriff' jedoch der bestimmte Platz, den er im hypo-thetisch angenommenen Raum der festgestellten und einander wechselseitig einschränken-den Bedeutungen einnimmt. Mit andern Worten, während in der Wissenschaftslehre das System der Vernunft in seinem Werden dargestellt wird, ist es hier als schon-geworden vor-ausgesetzt.


Corollarium

'Begriff' ist in der WL noch immer Bild – eine individuelle Vorstellung = Vorstellung eines Individuums. Er ist noch nicht SymbolZeichen für eine Vorstellung, das als solches ande-ren Individuen mitteilbar und mit andern Symbolen verknüpfbar wäre. Eine (neue) Vorstel-lung lässt sich (durch fortschreitendes Bestimmen) immer nur actu aus einem bestimmten Vorstellen hervorbringen, aber nicht logisch aus ('als ruhend angeschauten') Vorläufern "ab-leiten". Es muss immer dieser nächste Schritt getan werden, damit eine weitere Vorstellung entsteht, die ihrerseits begreifbar ist.

Wo F. von Begriff redet, ist dessen Symbolcharakter noch nicht (mit)gemeint, sondern lediglich die Dimension der Gefasstheit; nicht die Dimension der Mitteilbarkeit. Sondern gewissermaßen der Begriff an sich, nicht für Andere; realistisch besehen: auch nicht für mich.
aus e. Notizbuch

 

Lehrsatz

Begriff ist die jeweils zweite semantische Ebene. – Begriff ist in der WL stets das Refle-xionsprodukt in seinem Verhältnis zu der Anschauung, auf die sich die Reflexion bezog. Das gilt schon für die erste Anschauung selbst, insofern sie auf die absolut erste seman-tische Ebene reflektiert: das "Gefühl"; und darunter versteht F. dasselbe wie Locke unter sensus und die zeitgenössische Hirnforschung unter einem physiologischen Reiz. Im Verhältnis zu "Gefühl" ist Anschauung "Begriff".

Beide sind nicht gleichrangig. Dies ist die niedere, jenes die höhere Stufe. Es ist dasselbe Verhältnis wie das von Sein und Geltung, von Stoff und Form. Nicht an sich. Doch im Bewusstsein ist eine nicht ohne die andere da; beide gleichzeitig. Sein und Geltung, Stoff und Form sind nur Vorstellungsweisen.
9. 4. 16
 
 
 
 
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Noumena.*

                                        zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik    Ein Begriff, der uns in die intelli...