psychologytoday aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik
Corollaria.
1)
Es ist eine bedenkliche Frage an die Philosophie, die sie meines
Wissens noch nirgends gelöst hat: Wie kommen wir dazu, auf einige
Gegenstände der Sinnenwelt den Begriff der Vernünftigkeit zu übertragen,
auf andere nicht; welches ist der charakteristische Unterschied beider
Klassen?
Kant
sagt: Handle so, dass die Maxime deines Willens Prinzip einer
allgemeinen Gesetzge-bung sein könnte. Aber wer soll denn in das Reich,
das durch diese Gesetzgebung regiert wird, mit gehören und Anteil an dem
Schutze derselben haben? Ich soll gewisse Wesen so behandeln, dass ich
wollen kann, dass sie umgekehrt mich nach der gleichen Maxime be-handeln.
Aber ich handle doch alle Tage auf Tiere und leblose Gegenstände, ohne
die auf-gegebenen Frage auch nur im Ernste aufzuwerfen. Nun sagt man mir:
Es versteht sich, dass von Wesen, die der Vorstellung von Gesetzen
fähig sind, die Rede sei; und ich habe zwar statt des einen unbestimmten
Begriff einen anderen, aber keineswegs eine Antwort auf meine Frage.
Denn
wie weiß ich denn, welches bestimmte Objekt ein vernünftiges Wesen sei;
ob etwa nur der Europäer oder auch dem schwarzen Neger, ob nur dem
erwachsenen Menschen oder auch dem Kinde der Schutz jener Gesetzgebung
zukomme, und ob er nicht etwa auch dem treuen Haus/tiere
zukommen möchte? So lange diese Frage nicht beantwortet ist, hat bei
aller seiner Vortrefflichkeit jenes Prinzip keine Anwendbarkeit und
Realität.
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J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S. 80f.
Nota. -
Er hat auf kritisch-analytische Weise am historisch gegebenen
Vernunftsystem das sich-selbst-setzende Ich als dessen Grund
aufgewiesen. Aus dieser Prämisse hat er Schritt um Schritt
rekonstruiert, wie aus einer bedingt notwendigen Vorstellung bedingt notwendig die folgende Vorstellung hervorgeht. Dabei hat sich an einer Stelle die Notwendigkeit erge-ben, eine Aufforderung zum freien Handeln seitens einer Reihe vernünftiger Wesen anzu-nehmen. Erfahrungstatsachen sind dabei nicht in Erwäguung gekommen.
So ist er schließlich zum Rechtsverhältnis als sachlichem Ergebnis gelangt. Seither ist aber von historisch wirklichen Menschen die Rede. Der 'Rechtsbegriff' ist ein Begriff, den sie haben. Sie haben ihn aus der Erfahrung ihres täglichen Verkehrs mit einander. Die trans-zendentale Deduktion
hat ihn gewonnen durch Konstruktion aus der Prämisse vom not-wendig
wollenden und sich-selbst-setzenden Ich. Hier treffen sie beide
aufeinander und erklären
sich gegenseitig: die Reihe vernünftiger Wesen als bürgerliche
Gesellschaft und die bürgerliche Gesellschaft als das Reich der
Vernunft; die intelligible Welt als Bild der sinn-lichen Welt.
Wobei aus der Erfahrung lediglich die sinnliche Welt bekannt ist; das Erkennen der intelli-giblen Welt in derselben ist erst noch problematisch: Die Erfahrung lehrt nämlich auch, dass um die Geltung des Rechtsbegriffs so wie der anderen Gebote der Vernunft immer erst noch gestritten
werden muss! Vernunftsystem ist die bürgerliche Gesellschaft nach
ihrer transzendentalen Rekonstruktion und nicht nach der Erfahrung. Nach
der Erfahrung ist sie es nur zum Teil. Nach ihrem transzendentalen
Begriff soll sie es ganz werden.
*
Es
gibt keine Veranlassung, die Zugehörigkeit eines Menschen zur
bürgerlichen Gesell-schaft aus seiner körperlichen Organisation
herzuleiten. Dazu gehört, wer unmittelbar oder mittelbar am Marktgeschehen teilhat. Diese Teilhabe kommt den Individuen zu, bevor sie auf die Welt kommen. Sie ist zwar erfahrbar, ist aber apriori.
JE, 6. 5. 19
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