Samstag, 17. August 2024

Rechtfertigung der Wissenschaftslehre


Muss so gedacht werden, als ob... 

Es erhellet daraus, theils, dass es, wie schon mehrmals erinnert worden, der Wissenschafts-lehre nicht zum Vorwurfe gereiche, wenn etwas, das sie als Factum aufstellet, sich in der (inneren) Erfahrung nicht vorfindet. Sie giebt dies gar nicht vor; sie erweist bloss, dass nothwendig gedacht werden müsse, dass etwas einem gewissen Gedanken entsprechendes im menschlichen Geiste vorhanden sey. Soll dasselbe nicht im Bewusstseyn vorkommen, so giebt sie zugleich den Grund an, warum es daselbst nicht vorkommen könne, nemlich weil es unter die Gründe der Möglichkeit alles Bewusstseyns gehört.
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J. G. Fichte, Grundriss des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre, SW I, S. 333



Nota. - Die Transzendentalphilosophie besteht aus zwei Gängen. Im ersten kritischen, ana-lytischen und regressiven Akt zieht sie von der uns wirklich vorgegebenen Vernunft alles ab, was an Bestimmtheiten - sinnlicher oder intellektueller Erfahrung - in ihr vorkommt. So muss sie zum Schluss auf der Ursprung des Bestimmens selbst stoßen. Er kann selber nur erst gänzlich unbestimmt sein, denn nichts kann ihn bestimmen außer ihm selbst. Am An-fang der Vernunft steht ein Akt des Sich-selbst-Bestimmens. Den Akt nennt die radikale Transzendentalphilosophie Tathandlung, und den Akteur nennt sie Das Ich.

Im zweiten spekulativen, synthetischen und progressiven Gang re
konstruiert sie in einem Schema Schritt für Schritt den Weg des fortschreitenden Bestimmens, den Das Ich genom-men haben muss, um sich die Fähigkeit des Erfahrungmachens ein zubilden. Damit ist ein Kreis geschlossen. Es ist dargestellt, unter welcher Bedingung die Entstehung der Vernunft möglich war. Es wird aber nicht behauptet, dass sie notwendig war - nämlich in dem Sinn, dass sie aus sachlicher Zwangsläufigkeitt entstehen musste.

Denn wenn Das Ich nicht ursprünglich bestimmt war, sondern sich nur erst selbst bestim-men konnte, dann "musste" es gar nichts; sich-selber bestimmen kann es, wenn man sich unter 'bestimmen' überhaupt etwas vorstellen will, nur aus freien Stücken. Nun wissen wir aber, denn davon ging die Untersuchung aus, dass Vernunft schließlich wirklich zur Welt gekommen ist. In ihrem zweiten, rekonstruierenden Gang hat die Transzendentalphiloso-phie, die ab hier spezifisch Wissenschaftslehre ist, genau das aufzugreifen, was praktisch erforderlich war, um den jeweils nächsten Schritt in der Vernunftwerdung tun zu können.


Das ist nicht die Nacherzählung der reellen Begebenheiten, die zum Aufkommen der Ver-nunft historisch wirklich geführt hat. Die müsste ganz woanders ansetzen, nämlich bei der Entsteheung des Lebens selbst und strenggenommen bei der Entwicklung der Bedingun-gen seiner Möglichkeit. Denn da fängt auch die wirkliche Geschichte derer an, die schließl-ich zur Vernunft kamen, und noch die allernächsten Schritte in der Ausbildung des Leben vom ersten Protein bis zum ersten Einzeller teilen wir mit allem, was lebt auf der Welt. Doch schon beim nächsten Schritt trennten sich die Wege. Und so immer weiter fort, in einem endlosen Spiel von Zufällen, Anpassungen und natürlicher Auslese. 

Unsere Trennung von der Entwicklungslinie der Schimpansen und Bonobos war längst nicht die letzte Sezession. Im Lauf von zwei Millionen Jahren traten in Afrika mannigfache Frühformen des Menschen auf und es werden gewiss immer noch neue entdeckt werden, deren Hinterlassenschaften auf eine wachsende Intelligenz schließen lassen, deren Vorfor-men seither rückblickend auch bei vielen Tieren entdeckt wurden. Doch jene Frühformen sind sämtlich ausgestorben - nicht aus innerer Notwendigkeit, sondern weil die Zufälle der Evolution es eben so gefügt haben. 

Es wird angenommen, dass es die Entwicklung unserer... Vernunft gewesen ist, die es uns erlaubt hat, uns gegen widrige Selektionsbedingungen zu behaupten, an denen alle andern Gattungen gescheitert sind. Das ist es sogar, was Vernunft rein evolutionsgeschichtlich de-finiert. Ihre Grundlagen waren evolutionär in der Intelligenz vorbereitet. Aber den Quali-tätsprung zur Vernunft haben die andern nicht geschafft. Es muss eine Differentia specifica geben, die ihrerseit historisch eingetreten ist.

Diese Differentia specifica ist der Ur-Sprung der Menschen aus seiner angestammten Um-welt in seine selbstgeschaffene Welt.

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Dieser Ur-Sprung hat tatsächlich stattgefunden. Die Anthropologie kennt ihn unter dem Namen Hominisation. Sie beginnt mit der Erfindung des aufrechten Gangs beim Übergang vom stationären Dasein im Dschungel zum dynamischen Wanderleben in der Savanne und hin zu der neuen Arbeitsteilung zwischen Hand und Kopf.

Das ist die physiologische Seite. Die wäre uns aber nicht gewärtig ohne ihre Verdoppelung im mentalen Bereich, in der Ausbildung des Geistes und seiner fortschreitenden Selbstim-mung zur Vernunft.


Solange sich alle Bedeutungen von selbst verstehen, ist Reflexion nicht möglich. Erst wenn und wo sie vermisst werden, wird neben dem Bedeutenden das Bedeutungslose und neben dem Bestimmten das Unbestimmte wahrnehmbar. Bedeutungen müssen fraglich werden, um als solche kenntlich zu sein.

Bedingung der Reflexion ist Symbolisierung. Die Bedeutung muss vom Gegenstand abge-zogen und selbstständig dargestellt worden sein - in einem Bild, dessen Gestalt ihm grund-sätzlich nicht "ähnlich sehen" muss: Reflexion ist Abstraktion. Symbolisierung ist eine kom-munitäre und kommunikative Leistung. Erst wer Bedeutungen mit andern teilen will, muss sie selbstständig darstellen können. Symbolisierung ist ein erster Schritt vom Hordenwesen zur Vergesellschaftung. 

Doch um die Bedeutungen von den Dingen selbst unterscheiden zu können, müssen sie aufhören, gegeben zu sein, und als machbar erfahren geworden. Das wurden sie, indem mit der Ausbruch aus der ererbten Umwelt auch die Selbstverständlichkeit von deren Bedeu-tungen verloren gegangen war. In der Savanne war alles fremd, selbst das Hordenwesen musste neu geordnet werden. Fremd, weil seine Bedeutung fraglich ist. Reflexion macht die Neubestimmung von Bedeutungen nicht bloß möglich, sondern wäre ohne sie ohne Sinn und lohnte der Mühe nicht. Reflexion und Sinngebung sind zwei Seiten desselben Akts. Die Wissenschaftlehre wird sie als ideale und reale Tätigkeit unterscheiden.

Und so weiter. Am Anfang der Vernunft stand ein Moment. In der Geschichte wird er sich über hunderttausende von Jahren hingezogen haben. Doch für die Reflexion, die nach der  Bedeutung fragt, erscheint es im Rückblick als ein... Bild: als ein Akt; nämlich ein Akt. Es ist der Akt, durch den sich die überkommene Umwelt zur selbstgemachten Welt erweitert, näm-lich... als Bild; als Vorstellung, als intelligible Welt. In ihr bewegen sich die wirklichen Men-schen zuerst nur so, als ob... Die geographische und gar die kosmologische und dann die mikrophysikalische Welt werden erst nach einer halben Ewigkeit hinzugefunden, weil sie gesucht wurden.


Dieses ist die Nacherzählung wirklicher Begebenheiten. Die Transzendentalphilosophie da-gegen ist Reflexion, deren Bedingung ist Symbolisierung in einem Bild. Dieses Bild ist das Schema der Wissenschaftlehre.

Realhistorisch handelt es sich um einen systemischen kommunikativen Prozess. Es ist daher gerechtfertigt, ihn als einen immanenten Vorgang in einem identischen Ganzen darzustellen - in einem Ich.

Zu Anfang, nämlich vor aller Reflexion, ist es noch ganz unbestimmt. Denn Reflexion ist sein Anfang. Dieses Unbestimmte ist das, was bestimmt, und das, was es bestimmt. Der Fortgang des Bestimmens ist das sukzessive Hervorbringen einer Vorstellung aus einer andern Vorstellung, die eine ist nur möglich nach der anderen, die zweite setzt die erste voraus und ist durch sie bedingt. 

Da es sich aber um logische Bestimmungen handelt, ist es gerechtfertigt, ihn ohne Dauer in der Zeit aufzufassen.

Wirkliche Vernunft - der Zielpunkt der Darstellung - besteht in und aus der Vernünftigkeit vernünftig Handelnder. Es ist das Entwerfen von Zwecken in der realen Welt. Ihre Verwirk-lichung kann nur als Wechselwirkung vieler zweckhafter Handlungen geschehen - in einer Reihe vernünftiger Wesen.

Die Darstellung muss also an den Punkt gelangen, wo sich das Eine Ich als eine Gesell-schaft erweist. Ist dieser Punkt erreicht, ist der besagte Kreis geschlossen. Die Wissen-schaftslehre hat ihren Zweck erreicht, und sie macht Platz für die reellen Wissenschaften: Die Darstellung kann in die Zeit und mit ihr in den Raum übertreten.
1. 6. 20
 

Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE   

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Bestimmt, unbestimmt, bestimmbar; setzen, abstrahieren.

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