Odilon Redon, Der Wagen Apolls aus Wissenschaftslehre .,,
Philosophie
Die Philosophie soll nicht mehr antworten, als sie gefragt wird.
Hervorbringen kann sie nichts. Es muß ihr etwas gegeben werden.
Dieses ordnet und erklärt sie, oder welches ebensoviel ist, sie weist
ihm seine Stelle im Ganzen an, wo es als Ursache und Wirkung hingehört.
Welches ist aber ihr eigentlicher Wirkungskreis? Keine gelehrte
Kunst kann es sein. Sie muß nicht von Gegen-ständen und Kenntnissen
abhängen, die erworben werden müssen, von einer Quantität der Erfahrung,
sonst wäre jede Wissenschaft Philosophie. Wenn also jene Wissenschaften
sind, so ist sie keine.
Was könnte es wohl sein?
Sie handelt von einem Gegenstande, der nicht gelernt
wird. Wir
müssen aber alle Gegenstände lernen – also, von gar keinem Gegenstande.
Was gelernt wird, muß doch verschieden sein von dem Lernenden. Was
gelernt wird, ist ein Gegenstand, also ist das Lernende kein Gegenstand.
Könnte also die Philosophie vielleicht vom Lernenden handeln, also von
uns, wenn wir Gegenstände lernen?
Die Philosophie ist aber selbst im Lernenden. Nun, da wird sie
Selbstbetrachtung sein. Ei! wie fängt es der Lernende an, sich selbst in
dieser Operation zu belauschen? Er müßte sich also lernen, denn unter
Lernen verstehn wir überhaupt nichts als den Gegenstand anschaun und ihn
mit seinen Merkmalen uns einprägen. Es würde also wieder ein
Gegenstand. Nein, Selbstbetrachtung kann sie nicht sein, denn sonst wäre
sie nicht das Verlangte. Es ist ein Selbstgefühl vielleicht. Was ist
denn ein Gefühl?
(Die Philosophie ist ursprünglich Gefühl. Die Anschauungen dieses Gefühls begreifen die philosophischen Wissenschaften.)
Es muß ein Gefühl von innern, notwendig freien Verhältnissen
sein. Die Philosophie bedarf daher allemal etwas Gegebenen, ist Form –
und doch real und ideal zugleich wie die Urhandlung. Konstruieren läßt
sich Philosophie nicht. Die Grenzen des Gefühls sind die Grenzen der
Philosophie. Das Gefühl kann sich nicht selber fühlen.
Das dem Gefühl Gegebne scheint mir die Urhandlung als Ursache und Wirkung zu sein. Unterscheidung der Philosophie von ihrem Produkt: den philosophischen Wissenschaften.
Was ist denn ein Gefühl?
Es läßt
sich nur in der Reflexion betrachten, der Geist des Gefühls ist da
heraus. Aus dem Produkt läßt sich nach dem Schema der Reflexion auf den
Produzenten schließen.
Anschauungsvermögen. Der Anschauung liegt kein besondrer Trieb zum Grunde.
Die Anschauung ist für das Gefühl und die Reflexion geteilt.
Eins ist sie ohne Anwendung. Angewandt ist sie Tendenz und Produkt. Die
Tendenz gehört dem Gefühl, das Produkt der Reflexion. Das Subjektive dem
Ge-fühl, das Objektive der Reflexion. (Beziehung zwischen Vermögen und
Kraft.)
Gefühl und Reflexion bewirken zusammen die Anschauung. Es ist
das vereinigende Dritte, das aber nicht in die Reflexion und Gefühl
kommen kann, da die Substanz nie ins Akzidens kriechen kann, die
Synthese nie ganz in der These und Antithese erscheinen. (So entsteht
ein Objekt aus Wechselwirkung zweier Nichtobjekte. Anwen-dung auf die
Urhandlung.)
Gefühl scheint das erste, Reflexion das zweite zu sein. Warum?
Im Bewußtsein muß es scheinen, als ginge es vom Beschränkten
zum Unbeschränkten, weil das Bewußtsein von sich, als dem Beschränkten,
ausgehn muß –, und dies geschieht durchs Gefühl, ohnerachtet das Gefühl,
abstrakt genommen, ein Schreiten des Unbeschränkten zum Beschränkten
ist: diese umgekehrte Erscheinung ist natürlich. Sobald das Absolute,
wie ich das ursprünglich ideal Reale oder real Ideale nennen will, als
Akzi-dens oder halb erscheint, so muß es verkehrt erscheinen: das
Unbeschränkte wird beschränkt
et vice versa. (Anwendung auf die
Urhandlung.) Ist das Gefühl da im Bewußtsein, und es soll reflektiert
werden, welches der Formbetrieb verursacht, so muß eine Mittelanschauung
vorhergehen, welche selbst wieder durch ein vorherge-hendes Gefühl und
eine vorhergehende Reflexion, die aber nicht ins Bewußtsein kommen kann,
hervorge-bracht wird; und das Produkt dieser Anschauung wird nun das
Objekt der Reflexion. Dieses scheint nun aber ein Schreiten vom
Unbeschränkten zum Beschränkten und ist eigentlich gerade ein
umgekehrtes Schreiten.
Beim Gefühl und der Reflexion wird freilich
Unbeschränkt beidemal in einer verschiednen Bedeutung ge-nommen. Das erstemal paßt der Wortsinn
Unbeschränkt oder
Unbestimmt mehr, das zweitemal würde
Unab-hängig passender sein. Das
letztere deutet auf Kausalverbindung, und der Grund davon mag wohl darin
liegen, daß die zweite Handlung durch die erste verursacht zu sein
scheint. Es ist also eine Beziehung auf die erste Handlung. Hingegen
deutet das erstere auf die Reflexionsbestimmung und ist also eine
Beziehung auf die zweite Handlung, welches den innigen Zusammenhang
dieser beiden Handlungen auffallender zeigt.
Woher erhält aber die erste Reflexion, die die Mittelanschauung
mit hervorbringt, ihren Stoff, ihr Objekt? Was ist überhaupt Reflexion?
Sie wird leicht zu bestimmen sein, wie jede Hälfte einer
Sphäre, wenn man die eine Hälfte, als Hälfte, und die Sphäre, als
geteilt, hat. Denn da muß sie gerade das Entgegengesetzte sein, weil nur
zwei Entgegengesetzte eine Sphäre in unserm Sinn erschöpfen oder
ausmachen.
Die Sphäre ist der Mensch, die Hälfte ist das Gefühl.
Vom Gefühl haben wir bisher gefunden, daß es zur Anschauung
mitwirke, daß es dazu die Tendenz gebe oder das Subjektive, daß es der
Reflexion korrespondiere, die Hälfte der Sphäre Mensch, im Bewußtsein
ein Schrei-ten vom Beschränkten zum Unbeschränkten, im Grunde aber das
Gegenteil sei, daß ihm etwas gegeben sein müsse, und daß dieses ihm
Gegebene die Urhandlung als Ursache und Wirkung zu sein scheine.
Theoretische und praktische Philosophie, was ist das? Welches ist die Sphäre jeder?
Die Reflexion findet das Bedürfnis einer Philosophie oder eines
gedachten, systematischen Zusammenhangs zwischen Denken und Fühlen,
denn es ist im Gefühl. Es durchsucht seinen Stoff und findet, als
Unwandel-bares, als Festes zu einem Anhalten, nichts als sich und sich
selbst rein,
i. e. ohne Stoff, bloße Form des
Stoffs, aber, wohlverstanden, reine Form, zwar ohne wirklichen Stoff
gedacht, aber doch, um reine Form zu sein, in wesentlicher Beziehung auf
einen Stoff überhaupt.
Denn sonst wäre es nicht reine Form der
Reflexion, die notwendig einen Stoff voraussetzt, weil sie Produkt des
Beschränkten, des Bewußtseins in dieser Bedeutung, kurz Subjektivität
des Subjekts, Akzidensheit des Akzidens ist. Dies ist die Urhandlung
usw.
Das ist das Kontingent, was die Reflexion, scheinbar allein,
zur Befriedigung jenes Bedürfnisses liefert. Die Kategorie der Modalität
schließt deshalb mit dem Begriff der Notwendigkeit. Nun geht die
Wechselherrschaft an. Die Urhandlung
verknüpft
die Reflexion mit dem Gefühle. Ihre Form gleichsam gehört der Reflexion,
ihr Stoff dem Gefühle. Ihr Geschehn ist im Gefühl, ihre Art in der
Reflexion. Die reine Form des Gefühls ist dar-zustellen nicht möglich. Es
ist nur eins, und Form und Stoff, als komponierte Begriffe, sind gar
nicht darauf anwendbar. Die Reflexion konnte ihre reine Form darstellen,
wenn man ihre partielle Funktion in der Gemein-schaft mit dem Gefühl
Form nennt und diesen Namen auf ihre abstrakte Wirksamkeit überträgt.
Nur im Ge-fühle gleichsam kann die Reflexion ihre reine Form aufstellen:
neues Datum des überall herrschenden Wechsel-verhältnisses zwischen den
Entgegengesetzten, oder der Wahrheit, daß alles durch Reflexion
Dargestellte nach den Regeln der Reflexion dargestellt ist und von
diesen abstrahiert werden muß, um das Entgegengesetzte zu entdecken.
Das Gefühl gibt nun der Reflexion zu seinem Kontingente den
Stoff der intellektualen Anschauung. So wie das Gefühl der Reflexion in
Aufstellung seiner ersten Formen behilflich sein mußte, so muß die
Reflexion, um etwas, für sie zu bearbeiten Mögliches zu haben,
mitwirken: und so entsteht die intellektuale Anschauung. Diese wird nun
der Stoff der Philosophie in der Reflexion. Nun hat die Reflexion eine
reine Form und einen Stoff für die reine Form, also das Unwandelbare,
Feste, zu einem Anhalten, was sie suchte, und nun ist die Aussicht auf
eine Philosophie, als gedachten (systematischen) Zusammenhang zwischen
Denken und Fühlen eröffnet. Wie finden wir nun den Stoff, das Objekt,
was nicht Objekt ist, das Gebiet der Wechselherrschaft
des Gefühls
und der Reflexion bestimmt? Der Zusammenhang zwischen Denken und Fühlen
muß immer sein, wir müssen ihn im Bewußtsein überall finden können. Aber
wie finden wir ihn systematisch?
Aus den reinen Formen der Reflexion haben wir das Verfahren der
Reflexion mit dem Stoff überhaupt gelernt. Sie hat nun einen bestimmten
Stoff, mit dem wird sie also ebenso verfahren. Dieser bestimmte Stoff
ist die intellektuale Anschauung. Nach dem Gesetze der Urhandlung wird
er geteilt. Sie zerfällt in ihre zwei Teile, in das Gefühl und in die
Reflexion, denn aus diesen ist sie zusammengesetzt. Die Synthesis dieser
These und Antithese muß eins, Grenze und Sphäre von beiden, absolute
Sphäre sein, denn es ist Synthesis; wir sind aber im bestimmten Stoff,
also muß es, es kann nicht anders sein – Mensch oder Ich sein. Der
Mensch denkt und fühlt, er begrenzt beides frei, er ist bestimmter
Stoff.
(Dies wäre Fichtens Intelligenz. Das absolute Ich ist dieser
bestimmte Stoff, eh die Urhandlung in ihn tritt, eh die Reflexion auf
ihn angewendet wird.)
So haben wir in unsrer Deduktion der Philosophie den
natürlichsten Weg beobachtet: Bedürfnis einer Philo-sophie im Bewußtsein,
scheinbares Schreiten vom Beschränkten zum Unbeschränkten, Reflexion
darüber, scheinbares Schreiten vom Unbeschränkten zum Beschränkten,
Resultate dieser Reflexion, Resultate des Gefühls dieser Reflexion,
Reflexion über diese Resultate nach jenen Resultaten, gefundner
Zusammenhang oder Philosophie.
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Novalis, Fragmente
ed. Kamnitzer, Dresden 1929
Fichte
war Novalis' Ausgangspunkt, ihn wollte er interpretierend verstehen;
stets mit dem Hintergedanken, "darüber hinaus" zu gehen. Im Einzelnen
kommt er gelegentlich zu ver-blüffenden Einsichten. Aber insgesamt findet
er doch nicht zu dem Verständnis, dass Transzendentalphilosophie an keiner Stelle Realphilosphie
wird. So sind etwa Einbildungs-kraft und Reflexion nicht zwei real
existierende antagonistische Kräfte, sondern lediglich zwei Ansichten
ein und derselben intellektuellen Tätigkeit, die nur der philosophische
Be-trachter unterscheidet, um aus der Vorstellung von ihrer
Wechselwirkung zu verstehen, was sie eigentlich 'tut'.
So macht z. B. Fichte auch von dem 'Gefühl'
einen ganz und gar nüchternen, sensualistisch-materialistischen Gebrauch. Es ist der faktische Ausgangspunkt allen Wissens. Und das
Ab-solute Ich 'ist' nicht ein 'bestimmter Stoff', sondern lediglich die
Gedankenkonstruktion von Etwas, das Gefühle hat - und in der Anschauung darauf reflektiert.
Die
Wissenschafstlehre sei "bloße Reflexionsphilosophie", hat Hegel gesagt,
mit andern Worten: Sie reflektiert lediglich auf das, was im faktischen
Wissen wirklich vorkommt. Sie erfindet nichts hinzu. Aus Hegels
Mund ist das ein Lob und kein Tadel. Novalis hat es von Fichte selbst
gehört, aber so ganz mag er's nicht glauben. Gern würde er die
Einbildungs-kraft darüber hinausschießen lassen, man merkt es an jeder
Stelle.
27. 5. 2017
Nota II. - Wenn Fichte reale und ideale Tätigkeit von einander unterscheidet, so meint er nicht zwei verschiedene Kräfte; er kennt überhaupt nur eine 'Energie', eine prädikative Qua-lität,
die er allenthalben Einbildungskraft nennt. Sie ist ein breiter
Strom, der sich teilt und hierhin und dahin wendet. Er sondert sich
nicht nach der Substanz, sondern nach dem Ge-genstand, den er wählt oder,
was dasselbe ist, nach der Weise seiner Tätigkeit: Real nennt Fichte die Tätigkeit, durch die das Ich sich wirklich etwas vorstellt, sich ein Bild macht, eine Qualität prädiziert. Diese setzt der Tätigkeit einen Gegenstand, jenen nimmt es wahr durch ein Gefühl, das ihm zuteil wird, und das nichts anderes ist als der Widerstand, den der Ge-genstand seiner Tätigkeit entgegen setzt. Das Gefühl scheint ihm von außen beizukommen, es wird angeschaut.
Dieses Anschauen nennt Fichte eine ideale Tätigkeit; sie 'setzt' nicht mehr, sondern be-stimmt. Sie ist die ursprüngliche Weise der Reflexion. Sie ist der Teil der Einbildungskraft, der sich nicht an den Gegenstand gebunden hatte und frei
geblieben ist. Und so ist die Re-flexion in allen Fällen: Sie ist frei,
weil sie unendlich ist und zu keinem Moment festgebun-den wird.
Das alles ist natürlich nicht wirklich geschehen. Es ist selber ein Bild, ein Schema
dessen, was sich zugetragen hat, als ein Bewusstsein entstand: wie und
unter welchen Bedingungen es möglich war und inwiefern es notwendig war, um zur Verunft zu führen. Es stellt eine Dynamik dar, die, weil sie in Gedanken stattfindet, nicht selber anschaubar ist, sondern ge-dacht wird, als ob sie anschaubar wäre.
*
So komplex dieses Bild
eines Bildes immer ausfallen mag: Der Sache selbst setzt es nichts
hinzu; es macht sie lediglich einsichtig.
11. 6. 19
Nota III. - Novalis war wohl zum Philosophieren begabter als zum Dichten, aber er war Künstler genug, um sich auf philologische Begriffstüfteleien gar nicht erst einzulassen. Ob einer das, was er meint, in schulmäßigem Vokabular oder in anschaulichen Bildern aus-sprach, war ihm egal, solange nur zu verstehen war, was gemeint ist.
Für die Unterscheidung der transzendentalen von der reellen Rede war es aber nicht förderlich.
JE
äääääääääääää
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE
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