Sonntag, 10. Juli 2022

Falsche Erinnerungen

Wir können unseren Erinnerungen nicht immer trauen.
aus FAZ.NET, 10. 7, 2022
                                                                     
zuJochen Ebmeiers Realien

Erinnern sich viele Menschen falsch, spricht man vom „Mandela-Effekt“. Wie kommt es zu solchen Verfälschungen? Und welche unserer individuellen Er-innerungen sind noch falsch?

von Marion Priebe

...Kognitionspsychologen untersuchen unser (falsches) Erinnerungsvermögen schon lan-ge. Kaum jemand kann sich an alles und alle Details richtig erinnern. Eine Studie in der Fachzeitschrift Psychological Science hat 2020 herausgefunden, dass unser Gedächtnis im Prinzip sehr gut ist: Die erwachsenen Versuchspersonen, denen Szenen, wie wir sie täglich erleben, präsentiert wurden, erinnerten sich an 95 Prozent aller Details richtig. 76 Prozent der Teilnehmer machten dabei aber mindestens einen Fehler. Die Genauigkeit, mit der sich die Teilnehmer erinnerten, war also allgemein sehr hoch – aber Erinnerungen sind eben nicht unfehlbar.

Doch unser Gehirn verfälscht nicht nur wie beim Mandela-Effekt unabsichtlich vorhan-dene eigene Erinnerungen und schmückt zum Beispiel Details aus. Wir geben manchmal auch Informationen wieder, die niemals im Gehirn gespeichert wurden: Man konstruiert neue eigene Gedächtnisinhalte, die niemals stattgefunden haben. Das kann durch Trauma-ta und Depression, aber auch gezielt durch Suggestion und Manipulation passieren. Oder eben durch die Aktivierung eines ganzen Schemas durch Teile ebendieses Schemas. In beiden Fällen lügt die Person nicht bewusst. Es ist ein Streich des Gehirns und keine willentliche Falschaussage.

Wie kommt es dazu?

Zunächst einmal müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, unser Gehirn sei ein riesiger Speicher oder ein Archiv, in dem wir unsere Erinnerungen ablegen, um eine Bege-benheit aus der Vergangenheit bei Bedarf hervorzukramen und sie 1:1 wiederzugeben, so wie wir sie erlebt haben. Auch ein gesundes Hirn funktioniert so nicht. Unser Gehirn ist vielmehr ein dynamisches Netzwerk, das sich ständig neu verbindet. Die Neurowissen-schaftler nennen das „Plastizität“. Es führt zu einer permanenten Reorganisation des Gehirns.

Wir „speichern“ Erlebtes ab – aber selektiv. Unwichtiges wird verworfen, Erlebnisse falsch zusammengesetzt. Das Gröbste erinnern wir, die restlichen Lücken werden mal mehr, mal weniger frei assoziiert. Dann bilden wir uns ein, wir hätten etwas selbst erlebt, obwohl wir es nur in einem Roman gelesen oder von Freunden erzählt bekommen haben. Für die Neurophysiologie ist das schlicht die Ausbreitung von Erregung im Netzwerk Hirn.

Unser Gehirn ist kein riesiger Speicher und auch kein perfektes Archiv.

„Historische Wahrheit“ versus „Narrative Wahrheit“

Erinnern sich mehrere Menschen an dieselbe Begebenheit, schweißt es sie zu einem Kollektiv zusammen. Solche Erinnerungsgemeinschaften entstehen etwa, wenn sich Menschen über ihre Erfahrungen im Krieg austauschen. Dabei formt sich oft aus anfangs unterschiedlichen, individuellen Erzählungen nach und nach eine gemeinsame, identische Erinnerung aller. Die „historische Wahrheit“ deckt sich nicht mehr mit der „narrativen Wahrheit“. Bei einem Trauma und anderen emotional belastenden Begebenheiten sind unsere Erinnerungen besonders unzuverlässig.

Das zeigte sich, als der Historiker Helmut Schnatz vor älteren Dresdnern einen Vortrag hielt über die Bombenangriffe auf ihre Stadt im Februar 1945. Die Augenzeugen erzählten teils detailliert von britischen Tieffliegern, die sie durch die Straßen gejagt hätten, als sie durch die Stadt rannten auf der Suche nach Schutz vor den Flammen. Der Historiker konnte aber beweisen, dass Physik und Technik dieser Darstellung entgegenstehen. Durch den Feuersturm wäre ein Tiefflug völlig unmöglich gewesen. Außerdem konnte er britische Dokumente einsehen und keinen Hinweis finden, Flugzeuge hätten Flüchtende durch die brennende Stadt gejagt. Das sorgte für Unmut im Dresdner Publikum. Einer der alten Männer rief wohl: „Ich protestiere dagegen, dass fremde Historiker, die gar nicht in Dresden zu Hause sind, über unsere Heimatstadt schreiben dürfen. Das ist einfach eine Gemeinheit, die Sie da zu Papier gebracht hätten.“ Eine Frau war empört: „Sie erzählen einfach nur Märchen.“ – und meinte den Historiker.

Unwissentlich falsche Zeugenaussagen

Ernsthaft problematisch wird „False Memory“ bei Zeugen, die unwissentlich die Unwahrheit sagen – und das in voller Überzeugung, sich an die Wahrheit zu erinnern. Der Neurowissenschaftler Daniel Schacter beschreibt in seinem Buch „The Seven Sins of Memory“ den Fall des Psychologen Donald Thompson. Dieser wurde der brutalen Vergewaltigung beschuldigt. Das Opfer sagte aus, sie habe Thompson als Täter erkannt. Thompson hatte allerdings ein wasserfestes Alibi – er gab zum Tatzeitpunkt live ein TV-Interview über Gedächtnisverzerrung. Das Opfer hat wohl eben jenes Interview gesehen, als der wahre Täter in ihr Haus eindrang und sie vergewaltigte. Und so verknüpfte sie irrtümlicherweise das Gesicht von Donald Thompson im Fernseher mit dem Vergewaltiger. Die Frau erinnerte sich also korrekt an das Gesicht, verknüpfte es aber mit der falschen Person.

Manipulation von außen

Falsche Erinnerungen können auch von außen manipuliert werden und in den Kopf „gepflanzt“ werden. Das zeigte die Psychologin Julia Shaw, als sie im Jahr 2016 Studenten einredete, sie wären als Kinder kriminell geworden. Shaw war bei rund zwei Dritteln mit der Manipulation erfolgreich. So viele Probanden glaubten danach wirklich, sie hätten früher einmal eine kriminelle Tat begangen. In einer anderen Studie war K.A. Wade mit seiner falschen Suggestion jedoch nur bei weniger als einem Drittel seiner Probanden erfolgreich.

Beim „Lost in the Mall“-Experiment suggerierte die Psychologin Elizabeth Loftus Erwachsenen, sie seien als Kind in einem Einkaufszentrum entführt und von einem Fremden nach Hause gebracht worden. Das glaubten rund 20 Prozent – obwohl alles daran Fiktion war. In einer anderen Studie Elizabeth Loftus suggerierte Probanden, die einen Walt-Disney-Freizeitpark besucht hatten, sie hätten dort Bugs Bunny gesehen. Alle meinten sich daran zu erinnern. In Wirklichkeit ist der Hase Bugs Bunny eine Figur aus dem Universum von Warner Bros, nicht von Disney. Er kann also gar nicht bei der Konkurrenz aufgetaucht sein.

Fiona Broome, die den Begriff „Mandela-Effekt” geprägt hat, spricht darüber nicht mehr mit Journalisten. Auf ihrer Website schreibt sie, rund um den „Mandela-Effekt” hätten sich im Laufe der Jahre zu viele krude Verschwörungserzählungen gebildet. Sie konzen-triere sich jetzt auf andere Dinge wie Geister und Orte, an denen es spuke.

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