aus Die Geschichte des Männlichen in Natur und Gesellschaft
Den aufrechten Gang haben sich unsere Vorfahren nicht aus Naturnotwendigkeit zuge-zogen. Als sich vor zwei, drei Millionen Jahren in Ostafrika das Klima erwärmte und den Regenwald zu einer Feuchtsavanne ausdünnte, zogen sie sich nicht, wie ihre äffi-schen Vettern, mit dem Dschungel zurück, son-dern stiegen stattdessen auf den Boden herab.[1]
Eine Feuchtsavanne ist kein einheitlicher Lebensraum, sie besteht aus vielen Vegetations- und Klimainseln, von denen keine als dauernder Wohnort reichen mochte. Jedenfalls ge-wöhnten sie sich an, von einer zur andern zu wechseln, und dabei werden sie sich aufge-richtet haben. Das war eine Anpassung an einen Zustand, der sich durch seine Veränder-lichkeit auszeichnete.
Spezialisierung auf einen unspezifischen Lebensraum ist Entspezialisierung. Der Normal-zustand, für den er sich zugerichtet hat, war der Wechsel. Er entschied sich fürs Unbe-stimmte. Indem der männliche Anteil sich erstmals selbst behauptete, gewann er seinen Platz im ‚Plan der Natur’. Die Plastizität (Gehlen) des Homo sapiens ist sein eigentüm-licher Beitrag zum Gattungscharakter. Und seither erst kann es einen Geschlechtergegen-satz überhaupt geben – als Folge der Emanzipation des Männlichen.
Ob Frauen oder Männer…
…die Pioniere des aufrechten Ganges waren, kann die Paläontologie nicht selbst erwei-sen, denn dazu schweigen die fossilen Funde. Doch die vergleichende Anatomie kann helfen, so daß wir auf bloße Phantasie nicht angewiesen sind. Die Anatomie des Men-schen sei der Schlüssel zur Anatomie des Affen, sagt Marx, und umso mehr die des mo-dernen Menschen zu jener der Hominiden. Im Unterschied zu ihren nächsten Verwand-ten ist bei den Menschen der Geschlechtsdimorphismus – der Gestaltunterschied zwi-schen männlichen und weiblichen Individuen – auffällig schwach ausgeprägt: ein stam-mesgeschichtlicher Neuerwerb!
Am deutlichsten fällt er indes an drei Punkten aus: der Breite der Schultern, der Weite des Beckens und der Länge der Ober-schenkelknochen.[2] Und alle drei Punkte haben ihren ausge-zeichneten Platz in der Mechanik des Gehens auf zwei Beinen.
Denn wir gehen nicht so sehr mit der Kraft unserer Muskeln als mit der Schwungkraft, dem Drehen und Pendeln des Rump-fes und der Gliedmaßen. Nun wird, wie es scheint quer durch die Kulturen, die männliche Figur durch ein auf der Spitze ste-hendes Dreieck, die weibliche Figur durch ein Oval veranschau-licht: Die Bedeutung fürs Drehen und Pendeln sticht ins Auge.
Schultern, die breiter…
…sind als das Becken, begünstigen das Pendeln der Arme, lange Oberschenkel steigern die Schwungkraft der Beine. Voraussetzung für Pendeln der Gliedmaßen und Drehung des Rumpfes ist Gleichgewicht: Ein hoher Schwerpunkt – lange Beine, breiter Oberkör-per – fördern das Gleichgewicht. Bleibt als Hauptproblem: eine gerade Wirbelsäule. Ihr wunder Punkt sind die Hüftgelenke, mit denen sie auf den Beinen lastet.
Ob nun häufigeres Gehen auf zwei Beinen die männliche Morphologie ausgeprägt oder ob die männliche Morphologie zum Aufrechtgehen besser „zugerichtet“ war, ist ein Streit um das Ei und die Henne. Aber immerhin – einen Geschlechtsdimorphismus im Bereich der Fortbewegungsmechanik gibt es nur beim Zweibeiner.
An dieser Stelle…
…offenbart sich übrigens der Dogmatismus, der dem Streit von Naturalisten und Kul-turalisten in der Geschlechterfrage zugrunde liegt. „Alles Veranlagung“ sagen die einen, „alles nur Erziehung“ sagen die andern. Aber der Mensch hat nicht nur seine Kultur (Er-ziehung), sondern auch seine Naturgeschichte (Veranlagung) selber gemacht; nämlich an all den Punkten, an denen sich seine Gattung von den andern unterscheidet. Das mögen nicht viele sein, aber es sind die, auf die es ankommt. Über die Schicksale des Homo sa-piens entscheiden nicht die Anlagen, die er „mitbringt“, sondern – mit Alfred Adler zu reden – das, was er daraus macht. Und daß er die Wahl hat, verdankt er jener Selbstbe-hauptung seines männlichen Anteils an der Schwelle von der Nische zur Welt. (Nur ob er wählen will – das kann er nun nicht mehr wählen.)
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[i] Daß die progressive Krümmung des Schädelkeilbeins sie darauf vorbereitet hat, steht auf einem andern Blatt.
[ii] Die Unterschiede im Gehirn sind geringfügiger, als vermutet wurde, und betreffen v. a. den sog. „Balken“, der die beiden Hemisphären verbindet und bei Frauen etwas dicker ist. Frauen könnten emotive und analytische Leistungen leichter verbinden, Männer könnten sie leichter trennen. Aber was ist der Vorteil, wenn sich z. B. bei der Lektüre von Kant jederzeit das Gefühl und in die Empfindungen jederzeit Berechnung einmischen könnte? Dieses ist sachlich, jenes ist menschlich unerwünscht.<<<zurück Mythos und Ursprung
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