aus nzz.ch, 22. 7. 2022 von Ribbentrop (links), Stalin (m.), Molotow (r.) zu öffentliche Angelegenheiten
Ohne deutsche Unterstützung hätte die Sowjetunion nicht zur Weltmacht aufsteigen können
Die wechselhaften russisch-deutschen Beziehungen haben den Verlauf des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt. Der Historiker Stefan Creuzberger analysiert die Verflechtungen zwischen den beiden Ländern und macht damit die Gegenwart besser verständlich.
von Florian Keisinger
Der Rostocker Zeithistoriker Stefan Creuzberger hat sein Mammutwerk über die russisch-deutschen Beziehungen in den vergangenen gut hundert Jahren vor dem russischen Angriff auf die Ukraine abgeschlossen. Das ist jedoch kein Nachteil für sein Buch. Im Gegenteil, Creuzbergers Blickwinkel, der auf der Zeit vor dem 24. Februar 2022 basiert, schärft sogar das Bewusstsein für den gegenwärtig desaströsen Zustand des russisch-westlichen Verhältnisses. Dies ist vor allem der souveränen Darlegung der langen Linien des russisch-deutschen Beziehungsgeflechts zu verdanken.
Zwei Aspekte treten dabei besonders hervor. Zum einen waren die russisch-deutschen Beziehungen über die Jahrzehnte hinweg von massiven Schwan-kungen geprägt, die von Krieg und Vernichtung bis hin zu strategischer Annäherung und zeitweise sogar freundschaftlichen Bemühungen reichten. Zum anderen war es immer wieder Deutschland, das die russische Position in der globalen Staatenwelt entscheidend beeinflusste – im Positiven wie im Negativen.
Vor diesem Hintergrund wertet Creuzberger das 20. Jahrhundert nicht allein als amerikanische Epoche, sondern attestiert den russisch-deutschen Beziehungen eine gleichwertig weltgeschichtliche Gestaltungsdynamik. Alle grundlegenden Veränderungsmomente der russischen Geschichte seien eng mit Deutschland verknüpft gewesen, während umgekehrt die deutschen Entwicklungslinien stets mit den Ereignissen in Russland korreliert hätten.
Pendeln zwischen Moskau und Washington
Diese Verbindungen zeigen sich schon zu Beginn des Jahrhunderts. Deutschland wurde zum «Geburtshelfer» der Oktoberrevolution von 1917: Ab 1915 hatte die deutsche Reichs- und Heeresleitung mit russischen Revolutionären kooperiert und diese finanziell und auch strategisch unterstützt.
Die bolschewistische Revolution hatte nicht nur das Ausscheiden Russlands aus dem Ersten Weltkrieg zur Folge, sondern sie sorgte langfristig für die Entstehung des Ost-West-Konflikts. Ausserdem hat die Politik der Weimarer Republik dazu beigetragen, das bis dahin fragile Konstrukt der Sowjetunion politisch zu stabilisieren. Mit dem sowjetisch-deutschen Abkommen von Rapallo (1922) unterstützten sich die beiden Kriegsverlierer gegenseitig dabei, ihre internationale Isolierung zu überwinden, durch weitreichende wirtschaftliche Zusammenarbeit, aber auch militärische Kooperation.
Bis in die frühen 1930er Jahre hatte man in Moskau gehofft, den Funken der bolschewistischen Revolution nach Berlin tragen zu können. Erst die Machtübernahme der Nationalsozialisten hat solchen Wunschvorstellungen ein Ende gesetzt – wenngleich trotz aller Systemfeindschaft das kollaborative Element zwischen den beiden Diktaturen zunächst weiter fortbestand. Prominentestes Beispiel hierfür ist der Hitler-Stalin-Pakt von 1939, welcher der Sowjetunion die territoriale Expansion in Richtung Westen ermöglichte. Ohne die tatkräftige deutsche Unterstützung hätte es den Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht nie gegeben, mutmasst Stefan Creuzberger.
Dialog ist ausgeschlossen
Die frühe Phase des Kalten Krieges war zunächst geprägt von Abgrenzung, die Kanzler Adenauer zur Stabilisierung und Westintegration der jungen Bundesrepublik nutzte. Der staatlichen Konsolidierung folgte mit der Neuen Ostpolitik der sozialliberalen Koalition jedoch schon bald eine neuerliche Annäherung Berlins an Moskau, die in den 1980er Jahren von der konservativen Kohl-Regierung fortgesetzt wurde. Deutschland gefiel sich sichtlich in der Rolle des Vermittlers zwischen den verfeindeten Grossmächten. «Westdeutsche Kanzler», so Creuzberger, pendelten in jenen Jahren «zwischen Moskau und Washington (. . .) und erklärten in politisch frostigen Zeiten den dortigen Machthabern die Position des jeweils anderen».
An dieser Konstante hielt die deutsche Politik auch nach Ende des Kalten Krieges fest. Selbst als Russland im Georgien-Krieg 2008 und schliesslich mit der Annexion der Krim 2014 sein aggressiv-revisionistisches Antlitz kaum mehr verbarg, setzte man in Berlin weiter auf Verständigung und (eigennützige) wirtschaftliche Zusammenarbeit – «aus Dankbarkeit für die Einheit und historischer Verantwortung», so Creuzberger.
Um zu erkennen, dass eine solche Politik des Ausgleichs bei paralleler wirtschaftlicher Vorteilsnahme an Grenzen stossen wird, benötigte Creuzberger nicht das Wissen über den russischen Überfall auf die Ukraine. Für den Autor war lange vor dem 24. Februar 2022 klar, dass der Versuch, eine Modernisierungspartnerschaft mit Putins Russland zu etablieren, gescheitert ist. Seit diesem Frühjahr ist diese Erkenntnis auch im politischen und gesellschaftlichen Mainstream angekommen.
Anders als in Zeiten des Kalten Krieges scheint der rationale Dialog mit dem Potentaten in Moskau auf absehbare Zeit ausgeschlossen. Für Deutschland bedeutet dies einen historischen Bruch, der eine Neuaufstellung der Russlandpolitik erfordert.
Die fast friedliche Selbstauflösung der Sowjetunion 1991 war ein historisches Novum. Bis dahin war das Ende grosser Reiche stets mit Kriegen und revolutionärer Gewalt einhergegangen. Putin scheint dies nun mit fast dreissig Jahren Verspätung nachzuholen. Was er dabei übersehen hat: dass man im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten keine Kriege mehr gegen europäische Staaten führen kann, ohne dass dem Angegriffenen die umfassende Unterstützung des übrigen Europa zuteilwird. Zumindest das sollte man als eine positive Entwicklung festhalten.
Stefan Creuzberger: Das deutsch-russische Jahrhundert. Geschichte einer besonderen Beziehung. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2022. 672 S., Fr. 49.90.
Nota. - Mein Gott, wie flach. Darüber kann man ein ganzes Buch schreiben?
In Wahrheit könnte man darüber ein ganzes Dutzend schreiben. Sie müssten alle damit beginnen, dass der Erste Weltkrieg erstens der Zusammenbruch des imperialistischen Gleichgewichts gewesen, und zweitens erst mit dem Zweiten Weltkrieg zu Ende gegangen ist. Erst in diesen Generalabriss lassen sich spezifische Fragestellungen eintragen.
Die ihrerseits allgemeinste dieser spezifischen Fragestellungen wäre die nach der proleta-rischen Weltrevolution. War sie bloß ein Mythos oder hat es sie gegeben - sei aber ge-scheitert an den Kräften der Weltmarkts oder an ihren eigenen Widersprüchen -?
Um ein Dutzend Bücher zu schreiben, bleibt mir nicht die Zeit. Ein paar Essays habe ich fertigbekommen, bei denen fange ich morgen nochmal an...
JE
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