aus FAZ.NET, 17. 7. 2022
Neuropsychologie zu Jochen Ebmeiers Realien, zu Geschmackssachen;
Auf der Suche nach dem „Flow“
Am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt
erforschen Wissenschaftler das Wesen von Musikalität. Wie viel ist
genetisch, wie viel durch das Umfeld vorgegeben?
Das MPI hat sich als Beispiel die Musik ausgesucht. Praktischerweise ist der neue Direktor, Fredrik Ullén, zugleich Wissenschaftler und Konzertpianist. Seine Diskographie umfasst 25 Titel, unter anderem hat er das komplette Klavierwerk von György Ligeti eingespielt. Seit 2010 ist der Musikhochschulabsolvent zudem Professor für Neuropsychologie.
Vor einem Jahr hat Ullén begonnen, die neue Abteilung aufzubauen, damals noch von seiner Heimat Schweden aus. Im September übernahm er hauptamtlich die Leitung der dritten Abteilung am Haus – neben dem Literaturwissenschaftler Winfried Menninghaus und der Musikwissenschaftlerin Melanie Wald-Fuhrmann.
„Musikalität hängt auch von Umwelt ab“
Durch seine Verbindungen nach Schweden bringt Ullén virtuell Zehntausende Musiker mit nach Frankfurt, die als künftige Studienobjekte in Frage kommen. Aus einer Datenbank mit 30.000 Personen aller Altersgruppen, sozialen Schichten und Leistungsniveaus haben er und seine Mitarbeiter nach eineiigen und zweieiigen Zwillingen und anderen Geschwistern gesucht, die Musik machen. Sie sollen in der gerade anlaufenden Studie Fragen zu ihrer Musikalität beantworten und sechs Wochen lang etwas Neues lernen. Dabei wird zu Beginn, in der Mitte und am Ende ihr Gehirn gescannt.
„Wir wissen, dass Musikalität – ebenso wie alle anderen Fähigkeiten, die wir haben – zum einen von unserer genetischen Veranlagung und zum anderen von unserer Umwelt abhängen“, erläutert Ullén. „Die Frage ist: Was hat welchen Anteil, und wie sieht die Wechselwirkung zwischen beidem aus?“ Durch den Vergleich zwischen genetisch vollkommen gleichen Menschen mit identischem Umfeld – also eineiigen Zwillingen – und Geschwistern, die nicht alle Gene teilen und nicht völlig gleich aufgewachsen sind, wollen die Forscher die biologischen und die sozialen Aspekte voneinander trennen.
Gefühl des Absorbiert-Seins
Dabei geht es gar nicht primär um Musik, wie Ullén sagt. „Musik ist nur das Modell.“ Eigentlich gehe es darum, was uns befähigt, Neues zu lernen, wie Kreativität entsteht oder wie wir uns motivieren. Besonders spannend ist für Ullén ein Zustand, den viele neudeutsch „Flow“ nennen: ein Gefühl des Absorbiert-Seins, des Schwebens, der Mühelosigkeit nach der Anstrengung. „Das ist ein sehr befriedigendes, positives Gefühl“, beschreibt der neue Direktor diesen Zustand, den nicht nur künstlerisch tätige Menschen, sondern auch Sportler kennen. „Studien haben gezeigt, dass Menschen, die diesen ,Flow‘ häufiger erleben, weniger anfällig sind für Depression“, sagt Ullén. Die Arbeit am MPI sei also nicht „l’art pour l’art“, Kunst um der Kunst willen, sondern Hilfestellung für ein besseres Leben. Dass Musik auch im passiven Zuhören Menschen glücklich machen kann, haben andere Studien im Haus nachgewiesen – gerade während des Corona-Lockdowns habe Musik vielen Trost gespendet und ihre Isolation vermindert.
Im Sommer will das MPI auch seinen hauseigenen Konzertsaal wieder öffnen. In diesem „Art Lab“ werden Zuhörer beim Kunstgenuss befragt, verkabelt und vermessen. „Herzfrequenz und Hautwiderstand sind der körperliche Spiegel des geistigen Genusses“, sagt Ullén. Ein „Artist-in-Residence“-Programm lädt Künstler ein, am MPI mit Wissenschaftlern zu arbeiten.
Der neue Flügel
soll dabei Einblicke in die Psyche des Pianisten geben: Er zeichnet
nicht nur die Musik auf, sondern auch, wie sie gespielt wird, also
Faktoren wie Timing oder Anschlag. Im Herbst soll er technisch weiter
aufgerüstet werden. Dann sollen beim Spielen auch die Hirnströme des
Pianisten aufgezeichnet werden.
dpa
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