aus Die Wendeltrepp
Leben
ist für die Wissenschaft gleich Stoffwechsel plus Fortpflanzung.
Allein, der Mensch kann sich unter allen Kreaturen nicht damit begnügen.
Weil er nicht mehr in einer ge-schlossenen Umwelt zu Hause ist, die ihm
seine Bestimmung vorgibt, sondern in einer offenen Welt, wo er sein
Leben führen muss – und das ist ein Problem. Nur weil er es hat, sagt er
“ich”. Es ist die Conditio humana selbst und liegt offenbar jenseits
der Naturwis-senschaft.
Das ist eine Dimension, die sich der Mensch selbst verschafft hat – mit dem Kopf. Doch auch das Tier lebt nicht in einer Welt, die ‘der Fall ist’, sondern in Bedeutungen. Evolution ist Auslese und Anpassung. Im Laufe ihrer Geschichte hat jede Spezies ihre ökologische Nische gefunden und hat sie zu ihrer Umwelt eingerichtet. Jede tierische Umwelt bildet nach Jakob von Uexküll, dem Begründer des biologischen Umwelt-Begriffs, “eine in sich geschlossene Einheit, die in all ihren Teilen durch die Bedeutung für das Subjekt be-herrscht wird. Alles und jedes, das in den Bann einer Umwelt gerät, wird umgestimmt und umgeformt, bis es zu einem brauchbaren Bedeutungsträger geworden ist – oder es wird völlig vernachlässigt.” Was die Dinge seiner Umwelt dem Tier bedeuten, “versteht sich von selbst” – da muss es das Tier nicht auch noch verstehen. Die Gattung und ihre Um-welt sind gewissermaßen durch Vererbung miteinander verwandt. Dem Menschen werden die Bedeutungen der Dinge durch Symbole mitgeteilt, die ihm von andern Menschen überliefert wurden: Deren Bedeutungen muss er jedesmal wieder selber realisieren, näm-lich verstehen.
Die
Bedeutungen tierischer Umwelten haben freilich einen gemeinsamen
Nenner: Sie sind Funktionen der Erhaltung – der Individuen wie der Art.
Was keinen Erhaltungswert hat, kommt in ihnen, wenn es auch ‘da’ ist,
buchstäblich nicht vor. Der Mensch hat vor Jahr-millionen seine Urwaldnische
verlassen und ist aus der ererbten Umwelt in eine fremde Welt
aufgebrochen. Deren Bedeutungen waren nicht ererbt; er mußte sie
selber heraus-, d. h. hineinfinden: Ihm kann alles bedeutsam werden. Und
die Bedeutung ist, seit er einmal dem Überfluß begegnet war, nicht mehr
auf den Erhaltungswert beschränkt: Jedes kann ihm Vieles bedeuten,
und er kann sich sogar selber fraglich werden. Bedeutung: das ist
dasjenige ‘an’ den Dingen, das zum Bestimmungsgrund für mein Handeln
werden könnte; mich veranlassen kann, mein Leben so oder anders zu
führen. Die Bedeutung eines Din-ges feststellen heißt urteilen. “Der
Mensch muß urteilen” und “der Mensch muß handeln” bedeuten dasselbe.
Handeln heißt nicht bloß ‚etwas tun’ (das tut das Tier auch), sondern:
einen Grund dafür haben.
Natürlich
kann der Erhaltungswert einer Sache für mich zu einem Urteilsgrund
werden. Aber er muss nicht. Der Mensch kann Nein sagen. Kritik, wie
Krisis, kommt von gr. krínein, entscheiden. Der Mensch ist das
kritische Tier, das Wesen, das allezeit urteilt, weil es sich stets
entscheiden muss. Die Erscheinungen, zu denen er -, die Situationen, in
denen er Ja oder Nein sagen muß, erheischen Maßstäbe: Bedeutungen, unter
sie er sie fassen kann.
Natürliche Umwelten sind geschlossen, aber eine Welt ist offen; jene sind begrenzt, aber sie ist unendlich, denn ihre Grenzen finden ihre Bedeutung erst durch das, was
dahinter liegt; jene sind vertraut, aber sie ist fremd und bunt; jene
sind sicher, aber sie ist Lockung und Gefahr zugleich. Sie ist überhaupt
keine “Gegend”, sondern bloß ihr Horizont.
Wie
ist er dahin gelangt? Durch seinen aufrechten Gang. Als er nämlich
seine herkömm-liche Nische auf den Bäumen verließ, nein: als vielmehr der
Klimawandel im ostafrika-nischen Graben den Regenwald in eine feuchte Parksavanne
zersetzte. Während einige unserer Vorfahren sich mit dem angestammten
Urwald zurückzogen, vielleicht überle-genen Konkurrenten weichend – da
wagte er sich ins offene Feld hinaus, wo er Überblick brauchte und
größere Behendigkeit, denn jene Savanne war nicht eine Nische, sondern
ein unzusammenhängender Flickenteppich aus vielen verschiedenen
Lebensräumen, zwi-schen denen er seither ständig unterwegs ist.
Spezialisierung auf einen unspezifischen Lebensraum heißt aber
Entspezialisierung. Er wurde zum Ausreißer, zum Vaganten. Der
Normalzustand, für den er sich zurichten mußte, war der Wechsel. Er
entschied sich fürs Ungewisse.
Mit dem Ausbruch in die Welt ist der Mensch über die Naturgeschichte hinaus in seine eigene Geschichte eingetreten. Nicht, dass seine Naturgeschichte damit abgeschlossen wäre – sie ging überhaupt erst richtig los. Aber auch sie macht er seither selber.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen