Samstag, 23. Juli 2022

Ein großer Schnitt am kleinen Unterschied.


aus FAZ.NET, 23. 7. 2022                               Struwwelpeter                                   zu Männlich;   Levana, oder Erziehlehre

Wem gehört die Vorhaut?
Arte zeigt eine engagierte Dokumentation über die Beschneidung von Jungen. Sie hat gute medizinische und psychologische Argumente. Aber sie ergeht sich in einseitigem Aktivismus.


von Oliver Jungen

Auch Spinner haben gute Ideen. Dem ganzheitlichen Gesundheitsreformer, Adventisten und Prediger radikaler Enthaltsamkeit selbst in der Ehe, John Harvey Kellogg, gestorben im Jahr 1943, verdanken wir immerhin Maisflocken und Erdnussbutter. Als Arzt setzte er auf obskurere Methoden wie Elektrostimulation, wochenlange Dauerbäder, Einläufe, anregende Schläge oder Kunstlichtkuren. Als einen der schlimmsten inneren Feinde hatte er das Laster der Masturbation ausgemacht, das er mit Bandagen in den Griff zu bekommen versuchte. Wo das nichts nutzte, empfahl er die Beschneidung, und zwar ganz bewusst ohne Betäubung. Der „kurze Schmerz“ habe eine heilsame Wirkung.

Moralisch begründete Körperverletzung

Wer auf diese neuere, puritanische Richtung der Beschneidung (von Jungen) Bezug nimmt – obgleich Kellogg in der Dokumentation von Insa Onken nicht namentlich vorkommt –, hat es argumentativ leicht: Der Eingriff erscheint als rein moralisch begründete Körperverletzung. Traumata und gesundheitliche Komplikationen können die Folge sein. Christlich begründet war die Position der Puritaner jedenfalls nie, schließlich verläuft die Trennlinie zwischen Judentum und Christentum exakt hier. Im Brief an die Philipper, Kapitel 3, weist Paulus die Beschneidung geradezu höhnisch zurück. Und doch sind in den Vereinigten Staaten, wo Juden und Muslime gemeinsam weniger als vier Prozent der Bevölkerung ausmachen, bis heute rund siebzig Prozent der Jungen und Männer beschnitten (Tendenz fallend). Das moralische Argument schien also lange zu ziehen. Seit einigen Jahrzehnten wird es abgelöst – oder ergänzt – durch ein umstrittenes Hygiene-Argument.

Selbst wenn zutreffen sollte, dass eine oft schon im Säuglingsalter durchgeführte Beschneidung das Risiko von Peniskrebs und Geschlechtskrankheiten verringert, wie amerikanische Kinderärzte versichern, hält die Mehrheit der Mediziner in Europa die Risiken des Eingriffs für schwerwiegender: vom Sensibilitätsverlust (erogenes Gewebe wird entfernt) bis zur Amputation oder gar Todesfolge. Der Kinderchirurg Maximilian Stehr und der Urologe Thomas Kreutzig-Langenfeld machen im Film auf solche Gefahren aufmerksam. Begleitet wird zudem ein junger deutscher Betroffener bei seiner – erfolglosen – Klage gegen eine ihn dauerhaft beeinträchtigende Beschneidung im Kindesalter. Der Arzt hatte sanftere Mittel gegen eine Vorhautverengung (eine Salbe) nicht erwähnt.

Heute wird der wissenschaftliche Disput allerdings hauptsächlich auf einem anderen Schauplatz ausgetragen: dem afrikanischen Kontinent. Die Dokumentation zeigt die Verhältnisse in Kenia auf, die viel mit der hochumstrittenen Beschneidungsempfehlung der Weltgesundheitsorganisation WHO von 2007 für Regionen mit hoher HIV-Infektionsgefahr zu tun haben. Weil die Beschneidungskampagne Voluntary Medical Male Circumcision (VMMC) nicht die angestrebte Zahl von 27 Millionen Freiwilligen erreicht habe, heißt es, sei sie im Jahr 2016 kurzerhand auf Jugendliche zwischen zehn und fünfzehn Jahren ausgedehnt worden (was im Jahr 2020 zurückgenommen wurde).

Beschneidungskommandos suchten laut Schilderungen von Betroffenen überfallartig Schulen auf. Beschnitten wurde häufig ohne Einwilligung der Eltern. Viel körperliches Leid war die Folge.

„Jungenbeschneidungen. Mehr als nur ein kleiner Schnitt“

Die falsche Vorstellung, der Eingriff schütze vor HIV, habe das Aids-Risiko nicht verringert, erklärt ein französischer Experte, weil viele Beschnittene danach auf andere Schutzmaßnahmen verzichteten. Die WHO habe zu dieser Kritik nicht Stellung beziehen wollen, heißt es. Auch sonst kommt kein Befürworter der Strategie zu Wort, nur ein Mitarbeiter in Kenia, der erklärt, man habe „im Alter von null bis vierzehn Jahren fast alle erreicht“. Dass inzwischen auch kenianische NGOs gegen Beschneidungen ankämpfen, mag darauf hindeuten, dass die Filmemacher – Produzent ist Valentin Thurn („Taste the Waste“, 2011) – mit ihrer deutlich vertretenen Meinung, hier würden Menschen ohne medizinische Notwendigkeit verstümmelt – und das auch noch verbunden mit dem Machtgefälle von entwickelter Welt und globalem Süden –, vielleicht nicht ganz falsch liegen.

Aber kann man einen solchen Film machen, ohne auf das Kölner Beschneidungsurteil von 2012 einzugehen? Zehn Jahre liegt der komplizierte Kulturkampf zurück, der auf die Landgerichtsentscheidung – auch hier wurde der Eingriff als Körperverletzung gewertet, und zwar ohne religiös begründete Ausnahmen – losbrach. Pauschal ganzen Weltreligio-nen Verstöße gegen das Kindeswohl zu unterstellen, galt vielen als aufklärerisch-eurozen-trische Überheblichkeit. Ende 2012 führten die Proteste muslimischer und jüdischer Religionsvertreter zur Einfügung des Paragraphen 1631d ins Bürgerliche Gesetzbuch. Danach obliegt Eltern die Entscheidung über eine fachgerechte Beschneidung „nicht einsichts- und urteilsfähiger Jungen“. Befriedet ist nichts. Im Film kommt kurz ein türkischstämmiger Mann zu Wort, der sagt, die gegen seinen Willen durchgeführte Beschneidung habe die Beziehung zu seiner Mutter zerstört.

Interessant wäre es gewesen, mit offenem Blick zu untersuchen, wie im Zeichen der heute allseits hochgehaltenen kulturellen Identität und der nicht minder starken Betonung des genitalen Selbstbestimmungsrechts mit dieser Thematik umgegangen wird, bei der noch krasser als im Kopftuchstreit die Positionen aufeinanderprallen. Der Film macht es sich zu einfach, indem er in Berufung auf säkular-humanistische Juden und die Vertreterin eines liberalen Islams, Seyran Ateş, auf schmerzfreie Alternativen zu den Aufnahme-ritualen in die jeweilige Religionsgemeinschaft hinweist. Wenn die große Mehrheit der Gläubigen dies nicht so sieht, ist das keine Lösung. Die Filmemacher aber sind so entschieden parteiisch, dass sie der Gegenseite nicht einmal das Wort erteilen. So richtig man die Argumente Onkens finden mag, bleibt ein unbefriedigendes Gefühl zurück. Das weist über diese SWR-Produktion hinaus und betrifft alle engagierten Dokumentationen, von denen es immer mehr gibt. Wo Journalismus so stark in den Aktivismus tendiert, entstehen Empörungsformate, die lediglich bestimmte Interessengruppen bedienen, statt sich lehrreich mit konfrontativen gesellschaftlichen Themen auseinanderzusetzen.


Nota. - Fehlt bloß noch, er schriebe, das Öffentlich-Rechtliche müsse ausgewogen sein und dürfe keine Partei ergreifen; und was die postkoloniale Welt und andere diskrimi-nierte Gruppen betrifft, würden sowieso andere Maßstäbe gelten: Es geht nicht darum, was dort gilt, sondern um das, was hier gilt.
JE


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