Montag, 1. Juli 2024

Die intellektuelle Anschauung.

fotocommunity          zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Was ist denn nun die intellektuelle Anschauung selbst, und wie entsteht sie?

Entstehen ist ein Zeitbegriff, ein Sinnliches, aber die intellektuelle Anschauung ist nicht sinnlich, sie entsteht also nicht, sie ist; und es kann nur von ihr gesprochen werden im Ge-gensatz zur sinnlichen.

Zuvörderst kommt die intellektuelle Anschauung nicht unmittelbar vor, sondern sie wird in jedem Denkakte nur gedacht, sie ist das Höchste im endlichen Wesen. Auch der Philosoph kann sie nur durch Abstraktion und Reflexion zu Stande bringen.

Negativ angesehen ist sie keine sinnliche [Anschauung], die Form der sinnlichen Anschauung ist Übergehen vom Bestimmbaren zur Bestimmtheit. Dies muss in jenem Wollen, insofern es intellektuell angeschaut wird, ganz und gar wegfallen, und es bleibt nur ein bloßes Anschau-en unserer Bestimmtheit, die da ist, aber nicht wird. (Die Anschauung der Form nach ver-steht sich von selbst, denn das Ich muss beibehalten werden.) Es wäre sonach ein bloßes Anschauen meiner selbst als eines Bestimmten.

Wie wird nun diese Bestimmtheit erscheinen? Erscheinung passt nur auf sinnliche Wahr-nehmung, wie kommt sie also in der sinnlichen Wahrnehmung vor? Als ein Wollen, aber der Charakter des Wollens ist nach dem Obigen ein Sollen, ein Fordern. Sonach müsste diese Bestimmtheit erscheinen als bestimmtes, absolutes Sollen, als kategorische Forderung. Die-se bloße Form des Sollens, dieses absolute Fordern ist noch nicht das Sittengesetz; dieses wird es erst, in wiefern es auf eine sinnliche Willkür bezogen wird, und davon ist hier noch nicht die Rede.

Man könnte es nennen reinen Willen, abgesondert von aller Bedingung der Anschauung. Dieser müsste es sein, welchen wir jenem Denken, das wir beschrieben, zum Grunde legen.

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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 142
f.  
 

 

Nota I. - Das Denken ist ein idealer Akt, welcher sein Objekt als gegeben voraussetzt. Der Ausgangspunkt ist die Sinnlichkeit, das Gefühl. Soll ich mir als gegebenes Objekt vorkom-men, muss ich mich als Teil des Mannigfaltigen anschauen. Zugleich soll mich aber als das Wollende denken, welches ein Intelligibles ist. - Die Mannigfaltigen stehen zu einander im Verhältnis der Dependenz. Mich als wollend und als Teil des sinnlich Mannigfaltigen auffas-sen kann ich als Kausalität ('das Kausierende') der Dependenz: als absoluter Anfang der Sukzession. - Das kann in unmittelbarer Anschauung nicht geschehen, es muss gedacht werden - nämlich als notwendig anzunehmende Vorausssetzung all meines Tuns; als etwas, das vor dem 'absoluten Anfang' lag. Es ist eine Reflexion, die nicht über sich hinaus, son-dern hinter sich zurück geht.
19. 12. 16
 
Nota II. - Wir sind hier noch (oder wieder) bei der intellektuellen Anschauung: Ich schaue mich an als einen Be-stimmten; einen als wollend bestimmten. Ich soll mich als einen Wol-lenden anschauen - das heißt, ich kann mich als einen nicht Wollenden nicht einmal denken. Was übrigens empirisch zutrifft: Als bloßen Stoffwechsel kann ich mich nicht denken; kann ich entweder nichts denken, oder nicht mich denken.

Das wird von nun an den Fortgang der Wissenschaftslehre bestimmen: Aus dem absoluten Wollen ist ein kategorisches Sollen geworden. 'Du sollst wollen' wäre absurd im Munde eines jeden, der es ausspricht. Ich soll wollen heißt nichts anderes als: Ich bin als ein Wol-lender vorbestimmt. 'Bedingt unfrei'? Weil er seinen ursprünglichen Akt der Freiheit, sein sich-selber-Setzen nicht wirklich anschauen kann, muss er sich (wenn er will) reflektierend "intellektuell" anschauen: ex post, als einen sich selbst voraus-Gesetzten.

Doch recht besehen bedeutet die Aufforderung zur Freiheit, die von der 'Reihe vernünftiger Wesen' an mich ergeht, nicht anderes als: "Du sollst wollen!"
 
21. 7. 18

Nota III. - Die größte Zumutung, die die Wissenschaftslehre dem gesunden Menschenver-stand bietet, ist der Gedanke einer intellektuellen Anschauung. Er liegt ihr allerdings, wenn auch erst nachträglich aufgefunden, zu Grunde. Will sagen: Wer ihn nicht fasst, wird von der Wissenschaftslehre nichts verstehen.

Natürlich nicht; denn sie ist in ihrer Gänze selber intellektuelle Anschauung. 

"Ganz anders verhält es sich mit der Wissenschaftslehre. Dasjenige, was sie zum Gegen-stand ihres Denkens macht, ist nicht ein toter Begriff, der sich gegen ihre Untersuchung nur leidend verhält, und aus welchem sie erst durch ihr Denken etwas macht, sondern es ist ein Lebendiges und Tätiges, das aus sich selbst und durch sich selbst Erkenntnisse erzeugt, und welchem der Philosoph bloß zusieht. Sein Geschäft in der Sache ist nichts weiter, als daß er jenes Lebendige in zweckmäßige Tätigkeit versetzt, dieser Tätigkeit desselben zusieht, sie auffaßt und als Eins begreift. Er stellt ein Experiment an." Zweite Einleitung in die Wis-senschaftslehre, SW Bd. I, S. 453f.

Zunächst fingiert er nämlich ein X, das in nichts anderem als diesem bestimmt ist: dass es zu bestimmen befähigt ist. Im Fortgang wird sich finden, dass es eo ipso zu bestimmen be-stimmt ist. Ihm sieht er zu, was es aus dieser ursprünglichen Bestimmung macht. 'Es' ist ein bloß Gedachtes; "zusehen" wäre ein Sinnliches, Auffindbares. Nicht so hier: Es wird ledig-lich gedacht; aber als ein selbst Tätiges. Tätigkeit ist, wenn sie real ist, anschaubar; nur Tä-tigkeit ist anschaubar! Hier aber sollen wir, nach der Aufforderung des Philosophen F., uns ein wirklich Tätiges lediglich vorstellen.

Und dann ihm eben zuschauen: bei dem, was es macht und nach der einzigen gemachten Voraussetzung nicht anders machen kann.

Wohin es uns immer führt - es wird uns bis zu der Reihe vernünftiger Wesen führen -, ver-lassen wir in keinem Moment das Gedankenexperiment: Es ist eine rein ideelle Operation, der wir so zuschauen, als ob sie wirklich unter unsern Augen geschähe.

Was möchte intellektuelle Anschauung mehr bedeuten? Oder weniger! Weniger als etwa die ganze Wissenschaftslehre von Anfang bis Ende... 

"Zuförderst kommt die intellektuelle Anschauung nicht unmittelbar vor, sondern sie wird in jedem Denkakte nur gedacht, sie ist das Höchste im endlichen Wesen. Auch der Philosoph kann sie nur durch Abstraktion und Reflexion zustande bringen." Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 141f.

Sie wird in jedem Denkakte nur gedacht; aber sie wird in jedem Denkakt gedacht: Sie ist nicht ceterum censeo, sondern das Ich denke, "das alle meine Vorstellungen muss begleiten können"; besonders auch meine Vorstellungen auf der zweiten semantischen Ebene.

PS.  Gegenstand der Wissenschaftslehre ist nicht 'ein toter Begriff, der sich gegen ihre Un-tersuchung nur leidend verhält, und aus welchem sie erst durch ihr Denken etwas macht, sondern es ist ein Lebendiges und Tätiges, das aus sich selbst und durch sich selbst Er-kenntnisse erzeugt' - das kann man auch so ausdrücken: Untersuchungsfeld der Wissen-schaftslehre ist nicht ein vorgefundenes System von Begriffen, sondern der Prozess seiner Entstehung im Fortschreiten des sich-selbst-bestimmenden Vorstellens.
JE 30. 11. 20

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