Michelangelo zu Philosophierungen
In Hinblick auf die Vernunft sind
nicht alle Zwecke von derselben Qualität. Es gibt Zwecke, die die
Erhaltungsfunktionen des Lebens berühren - vorteilhaft oder
unvorteilhaft. Betref-fen sie die Erhaltungsfunktionen der Gattung, ist
der Vorteil aller der Zweck. Da die Gat-tung kein wollendes Subjekt ist,
ist der Vorteil Aller nicht absehbar. Zweck eines zum Wol-len befähigten
Individuums ist Selbsterhaltung. Ist der individuelle Zweck.
Für
Lebewesen, die gattungsmäßig in Gemeinschaft leben, kann prinzipiell
jeder Vorteil des einen ein Nachteil für den andern sein. Welche Zwecke
von Vorteil für Alle ist, kann sich nur in der Gattungssgeschichte
erweisen. Solange eine gemeinschaftliche Reflexion mangels
gemeinschaftlicher Instanzen nicht möglich ist, müssen natürliche
Selektion und Anpassung über viele Generationen für eine habituelle
Verbindlichkeit der Arterhaltungszwecke sorgen. Tradierung durch
Bewusstsein geschieht innerhalb der unmittelbaren Lebensgemeinschaf-ten
als Gruppenmoral. Das ist der Forschungsgegenstand der Ethologie und, soweit
es den Menschen betrifft, der Anthropologie.
Vernunft ist die Technik, durch die die Menschen der Selektion
durch Trial And
Error mit ihren möglichen Katastrophen zuvorkommen. Sie wird
erforderlich, wo sich aus den ur-sprünglichen Sippengemeinschaften
größere und komplexere Sozialformen bilden: Staaten. In ihnen verfolgt
eine übergeordnete Macht Zwecke, die sie selber gewählt hat, für deren
Erreichung aber die Staatsbürger gemeinsam aufkommen müssen; die einen
mehr, die an-deren weniger, und auch darüber entscheidet die Macht. Die
Staatsmacht entscheidet an Stelle der Vielen. Stellvertretung ist Charakter des Politischen. Gegenüber den Vielen le-gitimiert es sich auf verschiedene Weise.
In jedem Fall handelt es sich um die Aufrechung der Zwecke des Einen
gegen die Zwecke der Andern, oder umgekehrt. Da steht vorab nichts fest,
es muss jedesmal in concreto ge-prüft werden. Auch das ist Charakter des Politischen. Es ist Sache der Vernunft, gewiss. Doch was im gegebenen Fall das Vernünftige ist, ist Sache eines als verbindlich anzuneh-menden Urteils.
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Dagegen wählt das
Individuum seine Zwecke mit Absicht. Sie können sich seiner Erhaltung
als schädlich erweisen. Es mag das sogar ahnen, aber in Kauf nehmen. Ob
sie das wert wa-ren, kann er nur selbst entscheiden. Was er
Andern schuldig ist, mögen sie anders beurteilen als er, denn was er
sich selber schuldig ist, stellt er darüber. An dieser Art Zweck kommt
es nicht darauf an, dass sie erreicht werden, sondern dass er sie
gewählt hat. Dass er manches unternimmt, um sie zu erreichen, folgt
daraus, denn sonst müsste er das Gefühl haben, es nicht ernst zu meinen.
Aber er kann damit scheitern. Dass er getan hat, was ihm möglich war,
mag ihm dennoch reichen. Er wird es als seine Pflicht ansehen. Das ist
nicht politisch, sondern moralisch.
Zwecke dieser Art werden umgangssprachlich als Wert
bezeichnet. Das klingt mir zu sehr nach Maß, Austausch und Äquivalent,
und das ist in den meisten Fällen auch heimlich mit-gemeint. Gemeint
nämlich vor allem: Man könne sie gegen einander wägen.
Das hat dann aber nichts mit Pflicht zu tun, sondern mit Berechnung.
Die mag als vernünftigerweise ge-boten behauptet werden, jene nicht. Jene
müsste man verantworten; können und wollen.
12. 7. 20
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