Freitag, 19. Juli 2024

Werte und Zwecke.

Michelangelo                                                                                       zu Philosophierungen 

In Hinblick auf die Vernunft sind nicht alle Zwecke von derselben Qualität. Es gibt Zwecke, die die Erhaltungsfunktionen des Lebens berühren - vorteilhaft oder unvorteilhaft. Betref-fen sie die Erhaltungsfunktionen der Gattung, ist der Vorteil aller der Zweck. Da die Gat-tung kein wollendes Subjekt ist, ist der Vorteil Aller nicht absehbar. Zweck eines zum Wol-len befähigten Individuums ist Selbsterhaltung. Ist der individuelle Zweck.

Für Lebewesen, die gattungsmäßig in Gemeinschaft leben, kann prinzipiell jeder Vorteil des einen ein Nachteil für den andern sein. Welche Zwecke von Vorteil für Alle ist, kann sich nur in der Gattungssgeschichte erweisen. Solange eine gemeinschaftliche Reflexion mangels gemeinschaftlicher Instanzen nicht möglich ist, müssen natürliche Selektion und Anpassung über viele Generationen für eine habituelle Verbindlichkeit der Arterhaltungszwecke sorgen. Tradierung durch Bewusstsein geschieht innerhalb der unmittelbaren Lebensgemeinschaf-ten als Gruppenmoral. Das ist der Forschungsgegenstand der Ethologie und, soweit es den Menschen betrifft, der Anthropologie.

Vernunft ist die Technik, durch die die Menschen der Selektion durch Trial And Error mit ihren möglichen Katastrophen zuvorkommen. Sie wird erforderlich, wo sich aus den ur-sprünglichen Sippengemeinschaften größere und komplexere Sozialformen bilden: Staaten. In ihnen verfolgt eine übergeordnete Macht Zwecke, die sie selber gewählt hat, für deren Erreichung aber die Staatsbürger gemeinsam aufkommen müssen; die einen mehr, die an-deren weniger, und auch darüber entscheidet die Macht. Die Staatsmacht entscheidet an Stelle der Vielen. Stellvertretung ist Charakter des Politischen. Gegenüber den Vielen le-gitimiert es sich auf verschiedene Weise.

In jedem Fall handelt es sich um die Aufrechung der Zwecke des Einen gegen die Zwecke der Andern, oder umgekehrt. Da steht vorab nichts fest, es muss jedesmal in concreto ge-prüft werden. Auch das ist Charakter des Politischen. Es ist Sache der Vernunft, gewiss. Doch was im gegebenen Fall das Vernünftige ist, ist Sache eines als verbindlich anzuneh-menden Urteils.

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Dagegen wählt das Individuum seine Zwecke mit Absicht. Sie können sich seiner Erhaltung als schädlich erweisen. Es mag das sogar ahnen, aber in Kauf nehmen. Ob sie das wert wa-ren, kann er nur selbst entscheiden. Was er Andern schuldig ist, mögen sie anders beurteilen als er, denn was er sich selber schuldig ist, stellt er darüber. An dieser Art Zweck kommt es nicht darauf an, dass sie erreicht werden, sondern dass er sie gewählt hat. Dass er manches unternimmt, um sie zu erreichen, folgt daraus, denn sonst müsste er das Gefühl haben, es nicht ernst zu meinen. Aber er kann damit scheitern. Dass er getan hat, was ihm möglich war, mag ihm dennoch reichen. Er wird es als seine Pflicht ansehen. Das ist nicht politisch, sondern moralisch.

Zwecke dieser Art werden umgangssprachlich als Wert bezeichnet. Das klingt mir zu sehr nach Maß, Austausch und Äquivalent, und das ist in den meisten Fällen auch heimlich mit-gemeint. Gemeint nämlich vor allem: Man könne sie gegen einander wägen. Das hat dann aber nichts mit Pflicht zu tun, sondern mit Berechnung. Die mag als vernünftigerweise ge-boten behauptet werden, jene nicht. Jene müsste man verantworten; können und wollen.

12. 7. 20 

 

 

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