Mittwoch, 10. Juli 2024

Gewagt und bewährt: Begreifen heißt zusammenfassen und begrenzen.

semer-gazon                              zu Wissenschaftslehre...; zu Geschmackssachen

Zuvörderst - wass heißt denn verstehen oder begreifen? Es heißt festsetzen, bestimmen, begrenzen. Ich habe eine Erscheinung begriffen, wenn ich ein vollständiges Ganzes der Er-kenntnis dadurch erhalten habe, das allen seinen Teilen nach in sich begründet ist; wenn je-des durch alles und alles durch jedes Einzelne begründet oder erklärt wird. Dadurch erst ist es vollendet oder begrenzt. -

Ich habe nicht begriffen, wenn ich noch im Erklären bin, wenn mein Dafürhalten noch im Schweben und also noch nicht befestigt ist; wenn ich noch von Teilen meiner Erkenntnis zu anderen Teilen fortgetrieben werde. (Ich habe A, welches ein Zufälliges sein soll, noch nicht begriffen, wenn ich nicht eine Ursache dafür, und, da dem A eine bestimmte Art der Zufäl-ligkeit zukommrn muss, eine bestimmte Ursache dazu gedacht habe.)

Ich kann eine Erscheinung nicht verstehen, außer auf eine gewisse Art, heißt daher: Ich werde von den einzelnen Teilen der Erscheinung immer fortgetrieben bis auf einen gewis-sen Punkt, und erst bei diesem kann ich mein Aufsammeln ordnen und das Aufgesammel-te in ein Ganzes der Erkenntnis zusammenfassen.
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J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S. 77    



Nota I. - Es ist ein Zirkel: Ich muss die Erscheinung vorab bereits als diese eine gemeint ha-ben, bevor ich sie in Teile zerlegen und sie aus ihnen wieder zusammensetzen kann. Aber es ist ein pragmatischer Zirkel. Denn ob er gelingt, muss sich bei jeder Begriffsbildung erst noch erweisen. Erweisen woran? An der Absicht, in der ich auf die Erscheinung gemerkt habe. Der Zweck
begriff ist immer erst ein gewagter; als Begriff muss er sich noch bewäh-ren. Das Wollen ist die Triebkraft des Erkennens.
27. 12. 18

Nota II. - Das Ganze, von dem oben geredet wird, ist nicht zu verstehen als isomorpher Monolith, sondern als Gestalt: ein Bild, das in sich unterschieden ist; mindestens in Figur und Grund. Ob unter Erscheinung ein Ding, eine Situation oder eine Handlung zu verste-hen ist, bleibt vorab unbestimmt.
JE 22. 3. 21

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Bestimmt, unbestimmt, bestimmbar; setzen, abstrahieren.

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