Sonntag, 7. Juli 2024

Das ästhetisch Absolute.

    Klee                             aus Über Ästhetik, Rohentwurf; 3 

Vollkommenheit ist eine ästhetische Kategorie.

Was denn sonst? 

Funktionalität mißt sich an einem jeweiligen Zweck. Wie ‚genau’ etwas funktionieren muß, ist eine Frage des Zwecks: Im wirklichen Leben reichen Grade des Ungefähr. Funktionalität hat ihr Maß außer sich. Was aber die Zwecke taugen, läßt sich nicht funktional bestimmen.

In der Logik gibt es richtig und falsch. Ihr Maß ist immanent: das richtige Verfahren, die formale Richtigkeit. Das Falsche ist nicht unvollkommen, sondern nicht-richtig. Was die Resultate jedoch selber ‚wert’ sind, ist keine Frage der Logik. 

Vollkommenheit hat kein Maß außer ihr, aber auch nicht in sich: sie hat kein Maß. Man
könnte sagen, sie ist Maß. Ist sie aber nicht. Denn dazu müßte sie bestimmt werden kön-nen, kann sie aber nicht (denn wäre sie durch etwas, dann wär sie nicht vollkommen). Sie ist keine Vorstellung, sondern eine Idee, qualitas qualitatium. Ihre Bestimmtheit ist eben, daß sie unbestimmbar ist; ihr Wesen ist, daß sie fehlt. Sie ist die ästhetische Idee schlechthin. Sie ist die Suche nach der ‚guten Figur’. Ist sie gefunden, erweist sie sich nach längerer Betrach-tung (sic) als unvollkommen.

Die Idee der Vollkommenheit hat die Ethik aus der Ästhetik geborgt; Vollkommenheit des Handelns ohne Absicht auf einen Zweck; ‚Zweckmäßigkeit ohne Zweck’. (In der philoso-phischen Schulsprache wurde die Idee der Vollkommenheit zum ‚Begriff’ des Absoluten substantifiziert; so als ob es ‚sei’: Kant, De mundo sensibilis atque intelligibilis... Bei Fichte: das logisch Absolute ist „vollständige Wechselwirkung“.)

Und umgekehrt ist der Grund des Ästhetischen ein ethischer: Etwas erscheint vollkommen, wenn es so ist, wie es sein soll. (So läßt sich ein jedes Ding unter ästhetischem Gesichts-punkt betrachten: als ob es so sei, wie es sein soll; wobei der Ursprung des Sollens ein Rät-sel bleibt.)

Der spezifisch ästhetische Name der Vollkommenheit ist Schönheit. Das Schöne ist Bild des Vollkommenen. Paradox: als dieses Bild ist es nur eines; ist bestimmt; also unvollkom-men: Bestimmung des Unbestimmbaren.
irgendwann um das Jahr 2000
 
 
Der Schlusssatz scheint alles Vorangehende zu desavouieren, tatsächlich bestätigt er es. Was schön ist oder wenigstens schöner als das andere, war immer umstritten, doch immer gab es herrschende Moden - früher wechselten sie langsam, jetzt schneller, und heute konkurrieren sie sogar. Doch dass das Schöne 'Maß und Substanz' des Ästhetischen sei, stand nicht in Frage. Es gab im frühen Mittelalter die Auffassung, nicht der ästhetische Schein, sondern der spirituelle Gehalt sei Zweck der Kunst, doch seit der Renaissance schob sich wieder die antike Auffassung vor die christliche. 
 
Modern wurde die Kunst, als nicht länger das Schöne Inbegriff des Ästhetischen war, son-dern... ja, was eigentlich? Das Erhabene rückte im Rokkoko in den Vordergrund, dann der Ausdruck (aber von was?), Zwiespalt, Zerrissenheit als Abbild der Welt, und wieder soll die Kunst bedeutend sein, Kitsch, Agitprop, Satire...; alles, nur nicht schön. Es besteht nicht einmal mehr Einverständnis, dass Kunst ästhetisch sein soll. Darüber, was sie stattdessen sein soll, herrscht erst recht kein Einverständnis, doch ebendies: ihre pp. Selbstreferenzia-lität wird zu ihrem auszeichnenden Merkmal. Der historisch vielleicht unausweichliche Ver-such, ein Absolutes zu bestimmen, endete schließlich seinerseits unausweichlich in völliger Beliebigkeit.

Ganz kann Kunst nicht vom Ästhetischen emanzipiert werden, es bleibt immer ein deko-rativer Rest, doch mit der Aura ists vorbei. Dass sich das Ästhetische seinerseits aus der Vormundschaft der Kunst befreit, ist ja schon lange im Gange, die englische Arts&crafts-Bewegung war ein Anfang, Bauhaus und Art Déco brachten den Durchbruch, und in den Fünfzigern sahen die Küchengardinen aus, als wären sie von Mondrian. Und auch hier enden wir im Dekorativen.
 
Dabei kann es nicht bleiben. Es gab immer und wird immer geben Leute, die nach ästheti-schen Gesichtspunkten gestalten wollen - nur nach ästhetischen Gesichtspunkten in einer Zeit, in der die Möglichkeit des Überflusses greifbar ist und nicht jede Anstrengung sich durch einen sachlichen Vorteil rechtfertigen muss. Künstler wird man sie auch noch nen-nen, vielleicht nur noch in einem uneigentlichen Verständnis.
21. 3. 21

Zusatz.
Ich habe es gelegentlich erwähnt und komme darauf zurück, weil ich Wert darauf lege: Die Absicht, ein 'eigenes System' auszubauen, habe ich nie gehabt; ich hielt es für eine vorkriti-sche metaphysische Marotte. Erst im Laufe meiner Beschäftigung mit der Wissenschafts-lehre hat mir gedämmert, dass zwar nicht  Gott und die Welt als ein System zu fassen sind, aber eine bestimmte Vorstellung alias Begriff von der Vernunft anders als in einem System gar nicht zu fassen ist. Auf einen solchen Begriff läuft die Vernunftkritik schließlich aber hinaus, wenn sie sich treu bleibt. 

Ich habe dem Drängen des Materials nach Ordnung schließlich nachgegeben und begann, mich mit Prädikaten wie wahr und absolut vertraut zu machen, denn ohne die bleibt das System ohne Sinn. Und umgekehrt: Einen Sinn erhalten sie selber erst im System.

Ganz fremd war mir immerhin das Absolute schon nicht mehr gewesen. Es war mir bei meinen ästhetischen Gedankenspielen als das Vollkommene begegnet: siehe oben. Begrif-fen kann es aber ebensowenig werden wie jenes, und wie das Ästhetische selbst.

*

Nach Fichte ist das Ästhetische das Reich, wo die Alltagsvernunft des gesunden Menschen-verstands übertritt auf den spekulativen Standpunkt der Transzendentalphilosophie. Genau-er gesagt: das Feld, wo die Vernunft ihr historisch gewordenes Korsett von definierten Be-griffen und geeichten Schlussregeln abstreift und zurückkehrt zum Spiel und zur Arbeit des ursprünglichen Vorstellens. Das Ästhetische ist das Kathartikon der Vernunft: Da muss sie durch, wenn sie sich selbst auf die Schliche kommen will.

*

Zugleich ist das Ästhetische der anthropologische Grundbestand. Unsere Intelligenz un-terscheidet uns von den Tieren wohl in hohen Graden, aber doch nur in Graden. Der eigentliche Unterschied ist, dass die Menschen nicht nur über die Verhältnisse zwischen Dingen und vorgegebenen Zwecken, sondern über ihre Zwecke selber urteilen können: nämlich Qualitäten erwägen. 

Das wird in unserer Gattungsgeschichte hunderttausende von Jahren bloß ein dunkles Ahnen gewesen sein, dass Qualitäten nicht, wie die natürlichen Zwecke der Selbst- und Arterhaltung, gemessen, sondern geschätzt werden, und es eine allerletzte oberste Qualität nicht geben kann, wenn nicht alle Qualitäten zu bloßen Relationen versanden sollen (wie es im geschäftigen Alltag zu oft den Anschein hat). 

Mit andern Worten: die einzige Bestimmtheit, die der Vollkommenheit alias dem Absoluten zukommt und eo ipso keine ist, ist die, dass sie schlechterdings fehlt.
10. 9. 22





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