Veronese, Noli me tangere zu Wissenschaftslehre ... Seine erste Programmschrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre schloss Fichte mit dem Plan, nach der Grundlegung einer allgemeinen, soundsoviele spezielle
Wissenschafts-lehren auszuarbeiten, um sage und schreibe eine jede
Realwissenschaft auf gesichertem Boden neu zu begründen. Da war die
Wissenschaftslehre noch eher eine Idee als ein Be-griff, und sachliche
Ungenauigkeiten waren kaum vermeidbar.
Doch zum Abschluss der Wissenschaftslehre nova methodo, auf dem Höhepunkt des Atheismusstreits, wo er der Vollendung der Transzendentalphilosophie schon ganz nahe gekommen war, wiederholt er diese Absicht noch. Aber die Sache hat ihn gewurmt. Jacobis Offenen Brief hatte er noch nicht erhalten, noch juckte ihn sein Temperament, die Sache durch Radikalisierung zur Entscheidung zu treiben. In dem ohne bekannte Gründe abge-brochenen Manuskript Rückerinnerungen, Antworten, Fragen aus dem Herbst 1799 tat er unverblümt das, was Jacobi ihm erst noch interpretierend hatte unterstellen müssen: Er ziehe aus der Kritischen, der Transzendentalphilosophie eine nihilistische Konsequenz. Jacobi meinte, dies sei die einzige wissenschaftlich haltbare Konsequenz aus der Kant-schen Kritik - und der Philosophie überhaupt. Wenn dem oder weil dem so wäre, müsse man Philosophie und Wissen verwerfen und sich dem Glauben überantworten.
War Fichte erleichtert, sich mit Jacobi auf einen Nebenkriegsschauplatz begeben zu kön-nen, wo er eher in der Sache zurückstecken konnte, ohne sich in der Form zu viel zu ver-geben?
Oder war es nicht doch so, dass die Zweifel längst an ihm selbst genagt hatten, und dass er froh war, sie sich vom Hals zu schaffen?
Wie dem auch sei - die Rückerinnerungen, Antworten, Fragen sind die radikalste und darum plausibelste Reflexion Fichtes über den meta philosophischen Status der Wissenschaftslehre.
Nämlich darüber, wie sich Transzendentalphilosophie, Wissenschaften und Gemeiner Men-schenverstand zu einander verhalten - nämlich was Vernunft überhaupt ist.
*
"Da werden sie sagen: dies lehrt ja der gesunde Menschenverstand schon. – Sie haben ganz recht. Das soll er auch. Es ist ja gar nicht die Frage, durch unsre Philosophie etwas neues hervorzubringen: den menschlichen Geist zu erweitern; wir wollen ihn ja nur befreien." aus Rückerinnerungen, Antworten, Fragen. [S. 184]
Ja, wovon denn befreien?
"Es gibt zwei sehr verschiedene Standpunkte des Denkens; den des natürlichen und ge-meinen, da man unmittelbar Objekte denkt, und den des vorzugsweise so zu nennenden künstlichen, da man, mit Absicht und Bewußtsein, sein Denken selbst denkt. Auf dem ersten steht das gemeine Leben, und die Wissenschaft; auf dem zweiten die Transzenden-talphilosophie, die ich eben deshalb Wissenschaftslehre genannt habe, Theorie und Wis-senschaft alles Wissens, keineswegs aber selber ein reelles und objektives Wissen." ebd. [S. 111.]
"Was soll denn nun eine Philosophie, und wozu bedarf es der spitzfindigen Zurüstung derselben, wenn sie gesteht, dass sie für das Leben nichts andres sagen, zu demselben [sich] nicht einmal als Instrument bilden kann; daß sie nur Wissenschaftslehre, keineswegs Weis-heitsschule ist?
Ich erinnere auch hier an die oft gegebene Antwort. Ihr Hauptnutzen ist negativ und kri-tisch. Es mangelt in dem, was nun gewöhnlich für Lebensweisheit gehalten wird, nicht daran, daß sie zu wenig, sondern daran, daß sie zu viel enthält. Man hat eben die erräsonier-ten Sätze der oben beschriebenen erschaffenden Metaphysik hereingetragen – und diese sollen [wieder heraus]gesondert werden. Sie hat die Bestimmung, die gemeine Erkenntnis von aller fremden Zutat zu reinigen." ebd. [S. 122]
*
Die Wissenschaftslehre als idealiter vollendete Transzendentalphilosophie hat zwei Tei-le, mehr nicht: Zum ersten ist sie Vollendung der Kant'schen Vernunftkritik bis hin zu ihrem einzig möglichen Grund - einer schlechthin prädikativen Qualität, genannt das Ich. Zum zweiten ist sie, als Probe aufs Exempel, die Rekonstruktion des Ausgangspunkts, näm-lich der wirklich vorkommenden Vernunft, aus den freigelegten Prämissen. Dieser Ausgangs-punkt heißt Gemeiner Menschenverstand, sensus communis, common sense. Eine an irgend-einer Stelle konstitutive Leistung hat die Transzendentalphilosophie nicht zur Aufgabe.
Gegenüber den realen Wissenschaften ihrer Zeit hat sie jeweils die "Bestimmung, die gemei-ne Erkenntnis von aller fremden Zutat zu reinigen" - von Dogmen, Spekulation und Geisterseherei. Gegenüber den wirklichen Wissenschaften bleibt sie jederzeit so kritisch, wie sie immer war.
Doch zum Abschluss der Wissenschaftslehre nova methodo, auf dem Höhepunkt des Atheismusstreits, wo er der Vollendung der Transzendentalphilosophie schon ganz nahe gekommen war, wiederholt er diese Absicht noch. Aber die Sache hat ihn gewurmt. Jacobis Offenen Brief hatte er noch nicht erhalten, noch juckte ihn sein Temperament, die Sache durch Radikalisierung zur Entscheidung zu treiben. In dem ohne bekannte Gründe abge-brochenen Manuskript Rückerinnerungen, Antworten, Fragen aus dem Herbst 1799 tat er unverblümt das, was Jacobi ihm erst noch interpretierend hatte unterstellen müssen: Er ziehe aus der Kritischen, der Transzendentalphilosophie eine nihilistische Konsequenz. Jacobi meinte, dies sei die einzige wissenschaftlich haltbare Konsequenz aus der Kant-schen Kritik - und der Philosophie überhaupt. Wenn dem oder weil dem so wäre, müsse man Philosophie und Wissen verwerfen und sich dem Glauben überantworten.
War Fichte erleichtert, sich mit Jacobi auf einen Nebenkriegsschauplatz begeben zu kön-nen, wo er eher in der Sache zurückstecken konnte, ohne sich in der Form zu viel zu ver-geben?
Oder war es nicht doch so, dass die Zweifel längst an ihm selbst genagt hatten, und dass er froh war, sie sich vom Hals zu schaffen?
Wie dem auch sei - die Rückerinnerungen, Antworten, Fragen sind die radikalste und darum plausibelste Reflexion Fichtes über den meta philosophischen Status der Wissenschaftslehre.
Nämlich darüber, wie sich Transzendentalphilosophie, Wissenschaften und Gemeiner Men-schenverstand zu einander verhalten - nämlich was Vernunft überhaupt ist.
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"Da werden sie sagen: dies lehrt ja der gesunde Menschenverstand schon. – Sie haben ganz recht. Das soll er auch. Es ist ja gar nicht die Frage, durch unsre Philosophie etwas neues hervorzubringen: den menschlichen Geist zu erweitern; wir wollen ihn ja nur befreien." aus Rückerinnerungen, Antworten, Fragen. [S. 184]
Ja, wovon denn befreien?
"Es gibt zwei sehr verschiedene Standpunkte des Denkens; den des natürlichen und ge-meinen, da man unmittelbar Objekte denkt, und den des vorzugsweise so zu nennenden künstlichen, da man, mit Absicht und Bewußtsein, sein Denken selbst denkt. Auf dem ersten steht das gemeine Leben, und die Wissenschaft; auf dem zweiten die Transzenden-talphilosophie, die ich eben deshalb Wissenschaftslehre genannt habe, Theorie und Wis-senschaft alles Wissens, keineswegs aber selber ein reelles und objektives Wissen." ebd. [S. 111.]
"Eigentliche
Philosopheme einer Transzendentalphilosophie sind an sich tot und haben
gar keinen Einfluß in das Leben, weder guten noch bösen;
ebenso wenig als ein Gemälde gehen kann. Auch ist es ganz gegen den
Zweck dieser Philosophie, sich den Menschen als Men-schen mitzuteilen.
Der Gelehrte als Erzieher und Führer des Volks, besonders der
Volksleh-rer, soll sie allerdings besitzen, als Regulativ, als
pädagogische Regel, und nur in ihm werden sie insofern praktisch; nicht
aber sie ihnen selbst mitteilen, welche sie gar nicht verstehen noch
beurteilen können. (Man sehe meine Sittenlehre.) Aber daß er sie treu
und mit Eifer anwende, wird dieser gute Wille schon vorausgesetzt, aber
nicht etwa durch sie hervorge-bracht: ebenso wie bei dem Philosophen von
Profession Unparteilichkeit, Wahrheitslie-be [und] Fleiß schon vorausgesetzt, nicht aber durch sein Philosophieren erst erzeugt wird." ebd., [S. 134]
"Was soll denn nun eine Philosophie, und wozu bedarf es der spitzfindigen Zurüstung derselben, wenn sie gesteht, dass sie für das Leben nichts andres sagen, zu demselben [sich] nicht einmal als Instrument bilden kann; daß sie nur Wissenschaftslehre, keineswegs Weis-heitsschule ist?
Ich erinnere auch hier an die oft gegebene Antwort. Ihr Hauptnutzen ist negativ und kri-tisch. Es mangelt in dem, was nun gewöhnlich für Lebensweisheit gehalten wird, nicht daran, daß sie zu wenig, sondern daran, daß sie zu viel enthält. Man hat eben die erräsonier-ten Sätze der oben beschriebenen erschaffenden Metaphysik hereingetragen – und diese sollen [wieder heraus]gesondert werden. Sie hat die Bestimmung, die gemeine Erkenntnis von aller fremden Zutat zu reinigen." ebd. [S. 122]
*
Die Wissenschaftslehre als idealiter vollendete Transzendentalphilosophie hat zwei Tei-le, mehr nicht: Zum ersten ist sie Vollendung der Kant'schen Vernunftkritik bis hin zu ihrem einzig möglichen Grund - einer schlechthin prädikativen Qualität, genannt das Ich. Zum zweiten ist sie, als Probe aufs Exempel, die Rekonstruktion des Ausgangspunkts, näm-lich der wirklich vorkommenden Vernunft, aus den freigelegten Prämissen. Dieser Ausgangs-punkt heißt Gemeiner Menschenverstand, sensus communis, common sense. Eine an irgend-einer Stelle konstitutive Leistung hat die Transzendentalphilosophie nicht zur Aufgabe.
Gegenüber den realen Wissenschaften ihrer Zeit hat sie jeweils die "Bestimmung, die gemei-ne Erkenntnis von aller fremden Zutat zu reinigen" - von Dogmen, Spekulation und Geisterseherei. Gegenüber den wirklichen Wissenschaften bleibt sie jederzeit so kritisch, wie sie immer war.
30. 7. 23
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