Mittwoch, 15. Januar 2025

Kritik ist Reflexion: Sichtung und Wertung des Vorgefundenen .

                                          zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Soll sich aber etwas aus ihr entwickeln lassen, so müssen in den durch sie vereinigten Be-griffen noch andere enthalten liegen, die bis jetzt nicht aufgestellt sind; und unsere Auf-gabe ist die, sie zu finden. Dabei verfahrt man nun auf folgende Art. – Nach § 3. entstehen alle synthetische Begriffe durch Vereinigung entgegengesetzter. Man müsste demnach zu-vörderst solche entgegengesetzte Merkmale der aufgestellten Begriffe (hier des Ich und des Nicht-Ich, insofern sie als sich gegenseitig bestimmend gesetzt sind) aufsuchen; und dies geschieht durch Reflexion, die eine willkürliche Handlung unseres Geistes ist. –

Aufsuchen, sagte ich; es wird demnach vorausgesetzt, dass sie schon vorhanden sind, und nicht etwa  / durch unsere Reflexion erst gemacht und erkünstelt werden (welches über-haupt die Reflexion gar nicht vermag), d.h. es wird eine ursprünglich nothwendige anti-thetische Handlung des Ich vorausgesetzt. 

Die Reflexion hat diese antithetische Handlung aufzustellen: und sie ist insofern zuvörderst analytisch. Nemlich entgegengesetzte Merkmale, die in einem bestimmten Begriffe = A ent-halten sind, als entgegengesetzt durch Reflexion zum deutlichen Bewusstseyn erheben, heisst: den Begriff A analysiren.
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J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW Bd. I, S. 123 f.



Nota I. - Der erste Gang der Vernunftkritik, den zur Hälfte bereits Kant zurückgelegt hatte, ist Kritik, und das heißt Reflexion - und verfährt daher analytisch. Ihr Weg ist aufsuchen und auffinden: Es gilt, die Erscheinungen des vernünftigen Denken hinab zu verfolgen bis auf ihren Ursprung. Vernunft ist gegeben als eine Große Synthesis, und da Synthesis ge-schieht durch die Vereinigung Entgegengesetzter, muss Analyse verfahren als Zerlegung der je Gegebenen in zwei Entgegengesetzte. 

Die letzte (bzw. erste) Synthesis, die die Analyse vorfindet, ist der Gegensatz Ich-Nichtich. Er ist eine ursprüngliche Zerteilung. Dieser voraus muss gedacht werden eine Ursynthesis als das Was der Ur-Teilung. Die Ur-Synthesis ist eine Selbstsetzung, die wiederum nur denk-bar ist als Selbstentgegensetzung. Auf diesem ihren Grund angekommen, beginnt als zwei-ter Gang der Wissenschaftslehre die Rekonstruktion des Ganges der Vernunft bis zum Stand unseres gegenwärtigen Wissens.
29. 4. 18

Nota II. - Hier befinden wir uns noch in der Darstellung der Grundlage.... Die folgt noch dem akademischen Kanon, der bei Begriffen, nämlich ihren (durch wen autorisierten?) De-finitionen anfängt. Der wirkliche Gang der Vernunft leitet jedoch nicht folgende Begriffe aus den ihnen vorhergehenden ab, sondern entwickelt aus elementaren Vorstellungen be-stimmtere Vorstellungen. Es ist das Vorstellen selbst, aus der die Entwicklungsdynamik stammt: die Einbildungskraft, die sich-selbst bestimmt. Reflexion ist nichts anderes als die Rückwendung des Einbildens auf sich selbst: Es "macht was" aus sich.

Die WL nova methodo beginnt dagegen richtigerweise mit dem Vorstellen selbst: dem Einbilden. Die Wissenschaftslehre zeichnet den Gang des fortschreitenden sich-Bestim-mens des Einbildens/Vorstellens nach. Je bestimmter die Vorstellung wird, umso begriffe-ner ist sie. Geht nun das Einbilden/Vorstellen auf sich selbst, begegnet es sich als einem Vorgefundenen, das es zu analysieren gilt.
7. 10. 21 

Nota III. - Der zweite, synthetische Gang der Wissenschaftslehre hat dem zu kritisierenden Material - dem historisch vorgefundenen System der Vernunft - nichts hinzugefügt. Er ist lediglich eine Verifizierung der durchgeführten Analyse und folglich selber Kritik und keine Spekulation.
JE

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