Dieter Henrich war der beste, zumindest der renommierteste Repräsentant dessen, was die Amerikaner "kontinentale Philosophie" nennen: philologische Akribie ohne gedanklichen Eigengehalt. Nicht, dass da nicht brillante Funken zu Tage träten! Aber immer aus dem Material anderer Denker geschlagen und nie so fortentwickelt, dass sie einen Weg eröff-neten.
Eine eigene Lehre habe er nie gehabt, sagt Henrich. Nicht nur hat er sie nie angestrebt: Er ist ihr aus dem Weg gegangen. Besser, als aus zusammengerafften Bruchstücken freihändig 'was Eigenes' zusammenzuzimmern, gewiss. Doch ohne Systematik, nämlich ohne Horizont im Blick, kommt bei all dieser Gelehrsamkeit nur Buchstäbliches zustande, und wenn sich die amerikanischen Sprachanalyiker keck als Systematiker bezeichnen, dann ist das der Sa-che nach absurd, aber als Intention begreiflich.
Kantianer sei er in Marburg geworden, schreibt Jürgen Kaube. Doch wie alle Neukantianer hat sich auch deren Marburger Schule die Transzendentalphilosphie als von Kant in der Sa-che abgeschlossen vorgestellt. Was sie als Kritizismus übrigbehielten, mag en détail - philo-logisch! - denkbar fruchtbar geworden sein. Aber sie fingen an Einzelnem an und gingen auf Einzelnes aus, und wo sie es - wie etwa Paul Cassirer - zu positiven Ergebnissen brach-ten, da jenseits des Transzendentalen auf dem Gebiet der philosophischen Anthropologie.
Dass Henrich über den Philologismus nicht hinauskommt, liegt daran, dass er nicht zum Grund vorstößt, und folglich den ganzen (unendlichen) Horizont nicht zu Gesicht be-kommt. Bei ihm endet es beim Ich, aber sein Ich ist nicht das transzendentale, noumenale Ich der reinen Vernunft, sondern immer und immer wieder Selbstbewusstsein; womit nicht die elementare Reflexivität des Bestimmens als Sich-selbst-Setzens gemeint ist, sondern die Realgeschichte davon,"wie das Ich sich konstituiert".
Doch das Ich der Transzendentalphilosophie konstituiert sich überhaupt nicht. Es muss als reines Gedankending voraus gesetzt werden, wenn Vernunft möglich sein soll. Die wirkli-chen Individuen werden zu Vernunftsubjekten, weil und indem sie mit Anderen ihresglei-chen 'in Wechselwirkung' stehen - im Tauschverkehr im Prozess der Ausbildung einer reel-len Welt. Das transzendentale Ich ist dem kritischen Philosophen bewusst als Bedingung der Möglichkeit der Vernunft. Den wirklichen gesellschaftlichen Individuen kommt dies Ich transfiguriert als leitende Idee zu - als unendliche Aufgabe des Bestimmens durch Selbstbe-stimmen.
Transzendentalphilosophie in diesem Sinne hat es nur gegeben bis zu Fichtes Atheismus-streit.
Kantianismen gab es seither immer nur als mehr oder minder originelle
Nutzanwen-dung Kant'scher Gedanken. Die Transzendentalphilosophie in
ihrer Integrität harrt noch immer ihrer Wiederherstellung. Henrich hat
durch Berge von Philologie viel Wissen ange-sammelt und weitergegeben.
Dem Zugang zum transzendentalen Gedanken scheinen sie mittlerweile aber
im Weg zu liegen.
Kommentar zu ;Dieter Henrichs Autobiographie, JE, 18. 4. 21
Nachtrag.
Die Wissenschaftslehre ist keine Bewusstseinsphilosophie, sondern eine pragmatische Ge-schichte der Vernunft. Darüber, wie ein reelles, nämlich individuelles Bewusstsein entsteht, findet man darin nichts. Na ja, so gut wie nichts. Wenn eine individuelle Intelligenz den Weg der Vernunft einschlägt, kommt sie allerdings mit der Wissenschaftslehre 'in Berührung', in-dem ein Teil ihrer Bestimmungen - "Quantum", würde Fichte sagen - in sie konstitutiv ein-geht. Doch kann sie diesen Teil nur seiner Form nach beschreiben, aber Form ist eine Ab-straktion und nichts Reelles. Die Wissenschaftslehre ist das Schema einer jeden individuel-len Intelligenz, soweit sie vernünftig wird. Wie sie es materialiter wird, kann die Wissen-schaftslehre nicht sagen, denn eben das ist das Individuelle daran. Es ist singulär und kein möglicher Gegenstand begrifflicher Darstellung. Selbst bewusstsein 'gibt es' nicht in abstrac--to. Es 'kommt vor' als phainomenon eines noumenon.
Dieter Henrich hat sich von Hegel aus rückwärts an die Transzendentalphilosophie heran-gerobbt. Aber am kritischen (sic) Punkt ist er steckengeblieben.
Nota. Das
obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie
der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht
wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.JE
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen