Donnerstag, 7. November 2024

Wahrheit ist Wahrhaftigkeit.

                            aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik 

Ich muss das Objekt so oder so vorstellen, wenn ich es richtig vorstellen will: Indem ich das sage, meine ich, ich könnte es auch nicht-richtig vorstellen wollen, und die Notwendigkeit meines Denkens ist nur bedingt und hängt ab von meiner Freiheit. Was ist dies für eine Freiheit und wo kommt sie vor?

Ich bin beschränkt in A; die ideale Tätigkeit, die aus dieser Beschränktheit hervorgeht, ist auch beschränkt. Diese beschränkte ideale Tätigkeit ist die Anschauung Y. Diese ist aber hier der Strenge nach nichts als eine von uns vorausgesetzte Idee, denn sie ist ja nicht für das Ich. Soll sie für das Ich etwas sein, so muss von neuem dar- auf reflektiert werden, das Ich muss von neuem sie setzen.

Man nehme an, diese neue Reflexion soll mit Freiheit geschehen.

Die praktische Tätigkeit lässt sich ganz unterdrücken, so dass gar keine mehr übrig wäre, sondern nur ein Stre- ben nach ihr. Aber der Charakter der idealen Teäigkeit ist, dass sie mir bleibe und nicht aufgehoben werden könne. Sie soll nur in / Y beschränkt sein, aber sie kann nicht aufgehoben werden; sie ist sonach nur zum Teil beschränkt und kann sich von dieser Beschränktheit losreißen; in der Anschauung Y ist die ideale Tätigkeit nur zum Teil beschränkt, sie kann sich losreißen mit Freiheit. Ob sie sich unbedingt losreißen müsse oder nicht, oder falls das letzte stattfinden sollte, unter welchen Bedingungen, werden wir sehen.

Das Ich soll gesetzt werden als das Anschauende, aber das Ich ist nur das Tätige und nichts anderes. Sonach muss die Anschauung als Produkt der freien Tätigkeit gesetzt werden, und nur dadurch wird sie es. Aber Tätig- keit lässt sich nach dem allgemeinen Gesetz der An-schauung nur setzen als ein Übergehen von Bestimmbarkeit zur Bestimmtheit. Ich soll mich tätig setzen heißt, ich soll meiner Tätigkeit zusehen. Dies ist aber ein Übergehen vom Unbe-stimmten zum Bestimmten. Soll die Anschauung also als frei gedacht werden, so muss sie auch in demselben Moment gebunden gesetzt werden. Freiheit ist nichts ohne Gebunden-heit et vice versa. Das Losreißen ist nicht möglich ohne etwas, wovon gerissen wird. Nur durch Gegensatz entsteht Bestimmtheit des Gesetzten.

Wie kann nun Freiheit und Beschränktheit der idealen Tätigkeit beisammen sein? So: Wird auf die Bestimmtheit des praktischen (realen) Ich reflektiert, so muss auch Y notwendig so gesetzt werden, also nur die Synthesis ist notwendig. Oder: Soll die Vorstellung wahr sein, so muss ich den Gegenstand so vorstellen, ob aber diese Synthesis vorgenommen werde, dies hängt von der Freiheit des Vorstellenden ab, welches [sic] in sofern keinem Zwange un-terworfen ist. 
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 97f.



Nota. - Der Eintrag schließt unmittelbar an den gestrigen an. Es ging darum, wie 'das Ding außer uns der Wahrheit gemäß dargestellt' werden kann. Ist nun etwa doch die Rede davon, was das Ding "an sich" sei? Wahrheit bezieht sich hier offenbar nicht auf das Ding, sondern auf die Vorstellung vom Ding. Es geht darum, dass in der Vorstellung sich schließlich nichts vorfindet, als was im Verlauf der vorstellenden Tätigkeit wirklich gesetzt und bestimmt wor-den ist; es geht um die Wahrhaftigkeit des Vorstellenden. Eine andere Wahrheit kann es für die Transzendentalphilosophie nicht geben. 



Als vernünftig soll gelten ein Denken, das dem Schema der Wissenschaftslehre folgt. Nach ihm konstituiert sich die Reihe vernünftiger Wesen. Jene ist die Vernunft in ihrer Wirklich-keit. So weit sie dem Schema folgen - so weit sie vernünftig denken -, müssen sie alle in der Darstellung der Dinge außer uns übereinstimmen: Das bedeutet Wahrheit. 

Sie müssen, sofern sie die Eingangsbedingung gewählt haben und ihr treu geblieben sind: Das Ich setzt sich, indem es sich ein/em Nichtich entgegensetzt - reale Tätigkeit - und be-stimmt sich, indem es sich sich-selbst entgegensetzt - ideale Tätigkeit; daraus folgt alles. Die Notwendigkeit dieses oder jenes Denkens, der Denkzwang tritt ein lediglich unter dieser Bedingung; sie wurde durch Freiheit gewählt und wird durch Freiheit erhalten. Jeder, der spinnen will, mag spinnen.
JE, 26. 10. 18

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