Der Faden der Betrachtung wird an dem hier durchgängig als Regulativ herrschenden Grundsatze: nichts kommt dem Ich zu, als das, was es in sich setzt, fortgeführt. Wir legen das oben abgeleitete Factum zum Grunde, und sehen, wie das Ich dasselbe in sich setzen möge. Dieses Setzen ist gleichfalls ein Factum, und muss durch das Ich gleichfalls in sich gesetzt werden; und so beständig fort, bis wir bei dem höchsten theoretischen Factum an- kommen; bei demjenigen, durch welches das Ich (mit Bewusstseyn) sich setzt, als bestimmt durch das Nicht-Ich. So endet die theoretische Wissenschaftslehre mit ihrem Grundsatze, geht in sich selbst zurück, und wird demnach durch sich selbst vollkommen beschlossen.
_______________________________________________________________________
§ 1. Erster, schlechthin unbedingter Grundsatz.
Wir haben den absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wis-sens aufzusuchen.
Beweisen oder bestimmen lässt er sich nicht, wenn er absolut-erster Grundsatz seyn soll.
Er soll diejenige Thathandlung ausdrücken,
welche unter den empirischen Bestimmungen un-seres Bewusstseyns nicht
vorkommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Be-wusstseyn zum
Grunde liegt, und allein es möglich macht. Bei Darstellung dieser Thathand-lung ist weniger zu befürchten, dass man sich in etwa dabei dasjenige nicht
denken werde, was man sich zu denken hat – dafür ist durch die Natur
unseres Geistes schon gesorgt – als dass man sich dabei denken werde,
was man nicht zu denken hat. Dies macht eine Reflexion über dasjenige, was man etwa zunächst dafür halten könnte, und eine Abstraction von allem, was nicht wirklich dazu gehört, nothwendig.
Selbst vermittelst dieser abstrahirenden Reflexion nicht – kann Thatsache des Bewusstseyns werden, was an sich keine / ist; aber es wird durch sie erkannt, dass man jene Thathand-lung, als Grundlage alles Bewusstseyns, noth- wendig denken müsse. ...
Die Gesetze,
nach denen man jene Thathandlung sich als Grundlage des menschlichen
Wissens schlechterdings denken muss, oder – welches das gleiche ist –
die Regeln, nach welchen jene Reflexion angestellt wird, sind noch nicht
als gültig erwiesen, sondern sie werden stillschweigend, als bekannt
und ausgemacht, vorausgesetzt. Erst tiefer unten wer-den sie von dem
Grundsatze, dessen Aufstellung bloss unter Bedingung ihrer Richtigkeit
richtig ist, abgeleitet. Dies ist ein Cirkel; aber es ist ein
unvermeidlicher Cirkel.
____________________________________________________________
J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW Bd. I, S. 91f.
Nota. - Wenn es aber zirkulär ist, dann ist es kein Wissen. Wenn am oberen Ende genau-soviel steht wie am unteren, dann ist nichts hinzukommen - und das Wissen folglich leer.
Dies,
wenn die Wissenschaftslehre eine logische Herleitung aus gegebenen
Begriffen wäre - so wie die metaphysischen Systeme vor Kant. Die
Wissenschaftslehre ist dagegen ein retro-aktives Postulat. Sie ist keine
Konstruktion der Wirklichkeit aus Prämissen, sondern eine eine
experimentelle Unterschung des Gangs unserer Vorstellungstätigkeit. Es
wird der Un-tersuchung eine problematische Behauptung zu Grunde gelegt -
und nur, wenn nach Ab-schluss der Untersuchung nicht mehr und nicht
weniger und schon gar nichts anderes steht als am Anfang; nur, wenn
nichts hinzugekommen und der Zirkel lückenlos geschlossen ist, hat sich
die problematische Eingangsbehauptung bewährt.
Was immer es tut: Das Ich 'setzt sich', indem es sich ein/em Nichtich entgegensetzt - und zwar immer fort. Alle
Tätigkeit des Ich ist Fortschreiten in der Bestimmung von Unbe-stimmtem.
Von nicht anderem kann es wissen. Das ist - zusammenfassend - leicht
gesagt. Doch um es einzusehen, war die hirnbrechende Ochsentour der Wissenschaftslehre unum-gänglich. Der sachliche Gehalt der realen
Wissenschaften wird davon um keinen Deut er- weitert. Aber sie können
nun ihres Wissens gewiss sein - wenn anders Wissen überhaupt möglich sein soll.
*
Die Frage Was ist Wissen? - oder:
Was ist wahr? - formuliert Fichte um in: Wie kommen wir zu der Annahme,
dass einigen unserer Vorstellungen Dinge außerhalb unserer
Vorstellun-gen entsprechen? Das ist der prosaische Kern, der in der
pompösen Frage nach der Warheit drinsteckt.
JE 29. 7. 18
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen