Freitag, 8. November 2024

Vom Begriff abwärts oder aus der Erfahrung aufwärts?

Stebchen, pixelio.de            aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Ich habe bisher im Gegenteile geglaubt, daß Schwärmerei, Wahnsinn, Raserei darin bestehe, daß man seine Erdichtungen für wirkliche Gegenstände hält, und der gesunde Verstand da-rin, daß man nichts für wirklich hält, das sich nicht auf eine innere oder äußere Wahrneh-mung gründet. ...

Diesem System ist das unsrige darin gerade entgegengesetzt, daß es die Möglichkeit, ein für das Leben und die Wissenschaft gültiges Objekt durch das bloße Denken hervorzubringen, gänzlich ableugnet und nichts für reell gelten läßt, das sich nicht auf innere oder äußere Wahrnehmung gründet. In dieser Rücksicht, inwiefern die Metaphysik das System reeller, durch das bloße Denken hervorgebrachter Erkenntnisse sein soll, leugnet z. B. Kant, und ich mit ihm, die Möglichkeit der Metaphysik gänzlich. Er rühmt sich, dieselbe mit der Wur-zel ausgerottet zu haben, und es wird, da noch kein verständiges und verständliches Wort vorgebracht worden, um dieselbe zu retten, dabei ohne Zweifel auf ewige Zeiten sein Be-wenden haben.                                                                                                                     _______________________________________________ 

J. G. Fichte, Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 113f.]  

 

Nota I. - Vom Ich, das sich setzt als sich selbst vorausgesetzt, werden in der Wissenschafts-lehre abenteuerliche Dinge berichtet. Nun kann man dem Ich, das zugegebenermaßen ein reines Gedankending ist, nicht bei seinem Tun zusehen; nämlich nicht bei einem Andern. Man muss es an sich selbst beobachten: im Vollzug.

 

 
"In diesem Collegio wird experimentiert, das heißt, die Vernunft wird gezwungen, auf ge-wisse planmäßige Fragen zu / antworten, die Resultate unserer Experimente fassen wir dann in Begriffe zum Behuf der Wissenschaft und des Gedächtnisses." WL nova methodo, S. 34f. 

So unkritisch Wolff und Baumgarten mit ihren Begriffen hantierten, so apodiktisch be-schreibt Kant in den Kritiken das Verfahren der Vernunft: So ist es, Punkt. Fichte treibt die Vernunftkritik auf die Spitze und kehrt von dort aus Schritt für Schritt zur Vernunft zurück. Er fordert seine Hörer auf, einen jeden Schritt mitzutun und stets darauf zu achten, wie sie dabei vorgehen. So war keiner vor ihm verfahren.

Zu bemerken ist noch die Bestimmung der Begriffe: Sie sind tatsächlich Resultat der Ge-dankenexperimente; gefasst werden sie lediglich "zum Behufe der Wissenschaft und des Gedächtnisses." Zum Quell neuer Erkenntnisse werden sie selber nicht.
26. 7. 18 
 
 
Nota II. - Die Wissenschaftslehre beobachtet, wie in ihrem Gedankenexperiment ein Ich, wenn es wirklich wäre, verfahren müsste, um zu bestimmten (sic) Vorstellungen zu gelan-gen. Dies hypothetische Verfahren des hypothetischen Ichs ist die Erste semantische Ebe-ne. Die Resultate ihrer Beobachtung fasst sie zum Behufe der Wissenschaft und des Ge-dächtnisses in Begriffe: das ist die Zweite semantische Ebene. Im Verfahren des hypothe-tisch beobachteten Ichs kommen die Begriffe nicht vor und werden nicht zu Anhaltspunk-ten seines fortschreitenden Vorstellens. Sie sind die Werkzeuge, mit denen der kritische Philosoph auf das hypothetische Verfahren des lediglich angenommenen Ich reflektiert.

Dieser Gedanke ist an sich nicht schwer zu fassen. Die Schwierigkeit ergibt sich erst aus dem diskursiven Fortschreiten der Darstellung, wo beim Beschreiben der ersten Ebene stets die zweite, und auf der zweiten Ebene stets die erste im Hinterkopf zu behalten ist - ohne sie versehentlich zu vertauschen. Es ist aber eigentlich nur ein Exerzitium in Fleiß und Auf-merksamkeit; die Vorstellungskraft selbst wird gar nicht beansprucht. 
 
Der eigentliche Kraftakt des transzendentalen Verfahrens musste gleich am Anfang erbracht werden, wo man sich auf die Fiktion eines Reinen Ichs einlässt, das man handeln lässt, als ob es wirklich wäre - eine Erste semantische Ebene, die nicht real ist. Wer das nur halbher-zig zuwege bringt, dem helfen nachher auch Fleiß und Aufmerksamkeit nicht.
JE, 22. 11. 20
 
 

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