Sonntag, 3. November 2024

Vernunft ist keine Sache, sondern ein Verhalten.

Matisse, La danse II                                                        zu Philosophierungen

Mit der Frage, wie die Vernunft (der Geist, der Sinn...) in die Welt gekommen ist, hat es  eine ähnliche Bewandtnis wie mit der Frage, wie der Wert (das Kapital) in die Welt gekom-men ist. 

Im ersten Falle brauchte, da aus nichts nichts wird, Fichte sein vorgeschichtliches Normal-volk, das dann wie die Abderiten in alle vier Winde zerstreut ward, um unmerklich hier und da und schließlich überall das Licht unter den Leuten anzuzünden. Wie als Echo darauf führt Max Scheler den "Genotyp des Bourgeois", d. h. den Juden ein, der den Kapitalismus als Naturanlage "mitgebracht" und dann über die Erde verstreut hat.

Tatsächlich sind beide Fragen im Wesen verwandt. Sie lösen sich, wenn man aufhört, Wert und Vernunft als seiende Sachen aufzufassen, sondern als Verhältnis begreift - das als sol-ches allerdings erst "in Erscheinung tritt", sobald es 'entwickelt' ist. Aber eben: Es ent
wik-kelt sich aus vorangegangenen Verhältnissen.
 
Und da erhellt plötzlich, dass es sich beidemal wirklich "irgendwie" um dasselbe handelt: nämlich um das Setzen dessen, was vor allem andern gelten soll. Vernunft nennen wir ein solches Verhalten der Menschen zu sich und den Dingen, das sich an den wahren Werten der Dinge orientiert. (Und welches der wahre Wert der Dinge ist, lässt sich immer nur - ex post - praktisch ermitteln aus dem vernünftigen Verhalten...) 

Ist das ein verbaler Trick, Verhältnis aus Verhalten abzuleiten? Mitnichten; nur solche, die sich zueinander verhalten, haben ein Verhältnis. Von Verhältnis ist gar nicht zu reden, als wenn die Teilnehmer als Handelnde vorgestellt werden. Richtig, Teilnehmer: Denn an einem Verhältnis nehme ich teil - oder ich habe keines. Vernünftig nennen wir Verhältnisse, in denen die wahren Werte den Ausschlag geben. Wie wir die Werte setzen, bestimmt je-weils unser Urteil über die Vernünftigkeit (oder andersrum - aber das erst, wenn sich die Werte zu einem "System" sozialisiert haben, dessen Kohärenz Maßstab für die Gültigkeit einzelner Werte wird.)

Aber in der Wirklichkeit erscheinen 'Werte' zuerst individuell - und zwar im Gegensatz zu den physiologischen Erhaltungserfordernissen. Jedes Handeln, das sich an Anderem als den Bedürfnissen der Selbst- und Arterhaltung orientiert, ist ipso facto werthaft. Denn es wählt.

In der Geschichte erscheint es punktuell, nämlich kultisch

Die erste Stelle, wo regelmäßig ein Verhalten aufgetreten ist, das keinerlei Bezug zu den physiologischen Erhaltungsfunktionen mehr hat - und das darum als Abschluss der Ho-minisation gilt -, ist die Haltung zum Tod.

Die Menschen wissen, dass sie sterben werden; vorher waren sie keine. Man kann über-haupt sagen: Es ist ihr erstes Wissen. Sobald sie es wissen, hört der Tod auf, ein bloßes Naturgeschehen zu sein - und sie setzen einen Fuß aus der Naturgeschichtlichkeit ins Reich der Freiheit. Nur weil sie sterben müssen, bekommt ihr Leben einen Sinn.

31. 12. 1994


Nachtrag I. - Hier ist die Frage realphilosophisch, d. h. anthropologisch gestellt, nämlich: wie die Vernunft in die Welt gekommen ist. Noch nicht die Rede ist davon, worin sie be-steht. Das ist erst eine Frage der Transzendentalphilosophie. 
21. 3. 17

Nachtrag II. - Ein Verhältnis 'gibt es' gar nicht. Was 'es gibt', ist lediglich, dass Eines sich zu einem Andern verhält. Von dem, was der eine mit dem andern tut, kann ich, wenn ich einen Grund dafür habe, absehen. Das ändert aber nichts an dem Sachverhalt: dass einer etwas tut. 'Es gibt' nicht Vernunft als objektive Eigenschaft dessen, was einer tut; es gibt nur Ver-nünftigkeit seines Tuns: Er selbst handelt vernünftig oder nicht. 

Alles weitere wäre Abstraktion und fiele in die Verantwortlichkeit des außenstehenden Be-trachters. Nur für ihn 'gibt es' ein Verhältnis. 'An sich' verhält sich immer nur Eines zu einem Andern, siehe oben. Anthropologie und Transzendentalphilosophie gehen nicht in-einander über oder gar ineinander auf. Sie sind zweierlei Gesichtspunkte - Perspektiven, aus denen man etwas sehen kann -, aber alternierend entweder dieser oder der andere.

Zusammenfassend gesagt: Vernünftigkeit ist ein (tätiges) Verhalten.

Denn die wahren Werte, die - siehe oben - das Verhalten der Menschen bestimmen, sind die Zwecke, die sie verfolgen. Gültig sind nicht schon die Zwecke, die ich oder ein anderer wirklich erstrebt, sondern solche, die geeignet sind, zu Zwecken aller zu werden. Das kann und muss man vorab erwägen. Doch erweisen kann es sich immer erst in der Tat. Ohne Wagemut keine Vernünftigkeit.
JE, 25. 7. 21

 

 

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