Montag, 22. April 2024

Genetisch und organisch, oder Dependenz und Wechselwirkung.

                     zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Das Mannigfaltige wurde von uns angesehen als im Verhältnisse der Dependenz; erst durch den Zweckbegriff hindurch sehen wir das Objekt; bloß dadurch, dass der Zweckbegriff ein gefärbtes gespaltenes Glas ist. So bei der Kategorie der Substanz. In Rücksicht des[sic] letz-tern bloß mit dem Unterschiede, dass das Bestimmte durch diese Synthesis nicht erst wur-de, wie bei der Kausalität, sondern dass ein reines Denken, wodurch das Bestimmen erst entstanden wäre, vorausgesetzt wurde. -

Bisher war nur etwas das Vermittelnde, ein anderes in derselben Rücksicht das Vermittelte. Hier ists anders, das Mannigfaltige wird gedacht neben einander, ohne Dependenz in Wech-selwirkung, aber es liegt nicht zerstückt als etwas, das einander fremd sei, sondern beide greifen ineinander ein und sind gleichsam vermittelt, aber nur so, dass beide Prädikate bei-den zukommen [und] dass beide durch einander hindurch gesehen werden. Der ursprüngli-che Akt der gegenwärtigen Synthesis ist gleichsam ein doppelter, wie es mit dem ursprüng-lichen Akt des Ich, das immer ein doppeltes ist, sich nicht anders verhalten konnte.

Erläuterung. Ich stehe bei einer Bestimmung des Gemüts, in welcher das ganze Bewusstsein seine[m] Grundfaden und [seinen ] Grundbestimmungen nach enthalten ist. Dies ist der Wis-senschaftslehre eigentümlich, in anderen Philosophien liegt ein einfaches Denken in bloßer mechanischer Reihe, nicht aber in organischer Reihe. Ebenso verhält sich Fichtes Physik zu den gewöhnlichen. In letzteren herrscht überall Mechanismus, in Fichtes liegt keine einfache Kraft A, sondern jedes A ist eine Sammlung mehrerer Kräfte in Wechselwirkung.

So ist die / Wissenschaftslehre organisch und diskursiv. Sie enthält lauter Synthesen. Gegen-wärtige ist die Grundsynthesis, in der erst das diskursive Denken entsteht. Der Baum be-steht z. B. in einer organischen Kraft, nicht in Blüte, Rinde, Stamm pp.; so hier mit dem Be-wusstsein. Das Denken ist in der Zeit, die Ursache und Wirkung ins Unendliche ist nicht das Innere des Bewusstseins; es sind gleichsam Blätter, Blüten, Früchte. 

Das Innere ist urprünglich eins. In dieser Synthesis sind zu finden zwei Reihen; von A, Be-stimmen meiner selbst, geht sie aus, von einer Seite entsteht Bestimmtsein, dadurch wird ein Produkt in der Sinnenwelt erblickt; von der anderen Seite ist es auch ein Selbstbestim-men, welches als Agilität erblickt [wird], hindurchgeblickt durch die Mannigfaltigkeit dessen, zu dem ich mich bestimmen könnte.

Beide Ansichten vereinigen sich in einem Moment: Hier ist keine Dependenz; Vermittlung wohl, aber nicht so, dass nur eins durchs andere erblickt würde und das erste nicht durch das zweite; sondern durch Wechselwirkung. Hier ist ein A, wodurch B, und B auch in der-selben Rücksicht wieder A ist und durch einander hindurchgesehen wird. 
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982,
 
S. 209f.
 

Nota. - Dies ist der Wissenschaftslehre eigentümlich: In anderen Philosophien liegt ein ein-faches Denken in bloßer mechanischer Reihe, nicht aber in organischer Reihe. Die Wissen-schaftslehre ist nicht nur (in der Sache) systematisch, sondern verfährt (in der Form) syste-misch. Das ist ja die größte Hürde für die Darstellung: Die Darstellung kann nicht anders als diskursiv verfahren, und da knüpft immer nur eines an ein vorangegangenes an; mecha-nisch, als handle es sich um ein Nebeneinader einzelner Handlungsstränge, nicht aber um das auseinander-Hervorgehen von sich entwickelnden Systemzuständen. Was im zeitlichen Längsschnitt als Dependenz erscheint, tritt im Querschnitt, in rein logische Betrachtung außerhab der Zeit, als Wechselwirkung auf. Man muss 'die eine durch die andere sehen': Diese Betrachtungsweise ist genetisch, weil sie organisch ist, oder organisch, weil sie gene-tisch ist.
JE


Nota. Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

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