Dienstag, 28. November 2023

Jeder vernünftige Mensch glaubt an die Wirklichkeit der Welt.

                                                              
Jacques Linard, Fünf Sinne und vier Elemente                                                  zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Nun ist man aber, inwiefern man sich bewusst ist, ein vorstellendes Wesen, man kann also nur sagen, man sei sich der Vorstellung von Dingen außer uns bewusst, und weiter wird eigentlich auch nichts behauptet, wenn man sagt, es gebe Gegenstände außer uns. Kein Mensch kann unmittelbar behaupten, dass er Sinne habe, sondern nur, dass er notgedrun-gen sei, so etwas anzunehmen. Das Bewusstsein geht nur auf das, das in ihm vorkommt, aber dies sind Vorstellungen. -

Damit begnügen wir uns aber nicht, sondern machen schnell einen Unterschied zwischen Vorstellungen und dem Objekt, und sagen, außer der Vorstellung liege noch etwas Wirk-liches. Sobald wir auf den Unterschied der Vorstellung und des Objekts aufmerksam wer-den, sagen wir, es sei beides da. Alle vernünftigen Wesen (auch der Idealist und Egoist, wenn er nicht auf dem Katheder steht) behaupten immerfort, dass eine wirkliche Welt da sei. 

Wer sich zum Nachdenken über diese Erscheinung in der menschlichen Seele erhoben hat, muss sich verwundern, da hier eine scheinbare Inkonsequenz ist. Man werfe sich also die Frage auf: Wie kommen wir dazu anzunehmen, dass noch außer unsrer Vorstellung wirkli-che Dinge da seien? Viele Menschen werfen sich diese Frage nicht auf, entweder weil sie den Unterschied nicht bemerken, oder weil sie zu gedankenlos sind. Wer aber diese Frage aufwirft, der erhebt sich zum Philosophieren; diese Frage zu beantworten ist der Zweck des Philosophierens, und die Wissenschaft, die sie beantwortet, ist die Philo-sophie.

________________________________________________________
______________J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 3f.



Nota I. - Die Wissenschaftslehre hebt nicht an bei der Frage, ob es eine Wirklichkeit gäbe außer der Vorstellung, sondern warum jeder vernünftige Mensch davon ausgeht, dass es so sei. Die erste Frage wäre metaphysisch, die zweite ist transzendental. Und nur die zwei-te ist daher vernünftig. Dass es so sei ist also die Voraussetzung, aus der die Transzenden-talphilosophie nicht heraustreten kann, ohne die Vernunft zu verlassen. Auf der ersten se-mantischen Ebene ist auch sie realistisch. Idealistisch ist sie erst auf der zweiten Ebene, der Reflexion der Vernunft auf sich selbst.

27. 5. 16

Nota II. - Transzendentalphilosophie ist nicht metaphysische Spekulation, sondern Ver-nunftkritik. Sie beginnt bei der historischen Tatsache, dass irgendwo auf der Welt Ver-nunft herrscht, und fragt, ob dies berechtigt ist; fragt, ob die vorgefundene Vernunft ihren Anspruch begründen kann. Die Annahme der Wirklichkeit der Welt ist nicht bloß Be-standteil, sondern Grundlage der Vernünftigkeit. Die philosophische Aufgabe besteht lediglich in der Prüfung, wie die Vernunft zu dieser Voraussetzung kommt, und ob ihre Begründung hinreichend ist. 

Diese Prüfung kann nicht mit den Mitteln der Vernunft geschehen: Begriffe und Logik; damit würde das, was zu prüfen ist, als gültig vorausgesetzt. Sie muss daher die Ausbil-dung der Vernunft aus der Vorstellung selbst herleiten. Das gelingt Fichte mit seinem 'analytisch-synthetischen Verfahren', das als Dialektik in die Geistesgeschichte eingehen sollte.

JE, 21. 9. 20 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Noumena.*

                                        zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik    Ein Begriff, der uns in die intelli...