Jacques Linard, Fünf Sinne und vier Elemente zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik
Nun ist man aber, inwiefern man sich bewusst ist, ein vorstellendes Wesen, man kann also nur sagen, man sei sich der Vorstellung von Dingen außer uns bewusst, und weiter wird eigentlich auch nichts behauptet, wenn man sagt, es gebe Gegenstände außer uns. Kein Mensch kann unmittelbar behaupten, dass er Sinne habe, sondern nur, dass er notgedrun-gen sei, so etwas anzunehmen. Das Bewusstsein geht nur auf das, das in ihm vorkommt, aber dies sind Vorstellungen. -
Damit
begnügen wir uns aber nicht, sondern machen schnell einen Unterschied
zwischen Vorstellungen und dem Objekt, und sagen, außer der Vorstellung
liege noch etwas Wirk-liches. Sobald wir auf den Unterschied der
Vorstellung und des Objekts aufmerksam wer-den, sagen wir, es sei beides
da. Alle vernünftigen Wesen (auch der Idealist und Egoist, wenn er nicht
auf dem Katheder steht) behaupten immerfort, dass eine wirkliche Welt
da sei.
Wer sich zum Nachdenken
über diese Erscheinung in der menschlichen Seele erhoben hat, muss sich
verwundern, da hier
eine scheinbare Inkonsequenz ist. Man werfe sich also die Frage auf: Wie
kommen wir dazu anzunehmen, dass noch außer unsrer Vorstellung
wirkli-che Dinge da seien? Viele Menschen werfen sich diese Frage nicht
auf, entweder weil sie den Unterschied nicht bemerken, oder weil sie zu
gedankenlos sind. Wer aber diese Frage aufwirft, der erhebt sich zum
Philosophieren; diese Frage zu beantworten ist der Zweck des
Philosophierens, und die Wissenschaft, die sie beantwortet, ist die
Philo-sophie.
______________________________________________________________________J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 3f.
Nota I. - Die Wissenschaftslehre hebt nicht an bei der Frage, ob es eine Wirklichkeit gäbe außer der Vorstellung, sondern warum jeder
vernünftige Mensch davon ausgeht, dass es so sei. Die erste Frage wäre
metaphysisch, die zweite ist transzendental. Und nur die zwei-te ist
daher vernünftig. Dass es so sei ist also die Voraussetzung, aus
der die Transzenden-talphilosophie nicht heraustreten kann, ohne die
Vernunft zu verlassen. Auf der ersten se-mantischen Ebene ist auch sie realistisch. Idealistisch ist sie erst auf der zweiten Ebene, der Reflexion der Vernunft auf sich selbst.
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Nota II. - Transzendentalphilosophie ist nicht metaphysische Spekulation, sondern Ver-nunftkritik. Sie beginnt bei der historischen Tatsache, dass irgendwo auf der Welt Ver-nunft herrscht, und fragt, ob dies berechtigt ist; fragt, ob die vorgefundene Vernunft ihren Anspruch begründen kann. Die Annahme der Wirklichkeit der Welt ist nicht bloß Be-standteil, sondern Grundlage der Vernünftigkeit. Die philosophische Aufgabe besteht lediglich in der Prüfung, wie die Vernunft zu dieser Voraussetzung kommt, und ob ihre Begründung hinreichend ist.
Diese
Prüfung kann nicht mit den Mitteln der Vernunft geschehen: Begriffe und
Logik; damit würde das, was zu prüfen ist, als gültig vorausgesetzt.
Sie muss daher die Ausbil-dung der Vernunft aus der Vorstellung selbst herleiten. Das gelingt Fichte mit seinem 'analytisch-synthetischen Verfahren', das als Dialektik in die Geistesgeschichte eingehen sollte.
JE, 21. 9. 20
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