Mittwoch, 15. November 2023

Die individuelle Vernunft lässt sich aus sich selbst nicht erklären.

dreamstime                 aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Dies ist eine Erkenntnis, wie wir sie suchten, in welcher das Wollen gleich drinnen läge; mit ihrer Erkenntnis ist ein Wille begleitet. Sinnlich betrachtet ist es so: Entweder ich handle nach dem Willen oder nicht; habe ich die Aufforderung verstanden, so entschließe ich mich doch durch Selbstbestimmung, nicht zu handeln, der Aufforderung zu wider-streben, und handele durch Nichthandeln.

Freilich muss die Aufforderung verstanden sein, dann muss man aber handeln, auch wenn man ihr nicht gehorchet; in jedem Falle äußere ich meine Freiheit. So müssten wirs uns jetzt denken. Aber kann man höher fragen: Welches ist der transzendentale Grund für diese Behauptung? Der Zweck wird uns mit der Aufforderung gegeben, also: Die indi-viduelle Vernunft lässt sich aus sich selbst nicht erklären - ist das wichtigste Resultat, es besteht nur im Ganzen durchs Ganze und als Teil des Ganzen; denn wie soll sonst Kennt-nis eines Vernunftwesens außer ihm zu erklären sein, wenn in ihm kein Mangel ist? 

Dies ist so dargetan worden: Wir haben uns Mühe gegeben, den Zweckbegriff zu erklä-ren, da kamen wir in einen Zirkel. Nun aber ist sie beantwortet, denn im Fortlaufe der Vernunft ists damit nicht schwer, es ist nur darum zu tun, den ersten Zweckbegriff dar/- zulegen: Den ersten bekommen wir, doch wird uns der Zweck nicht als Bestimmtes, son-dern überhaupt der From nach gegeben, etwas, woraus wir wählen können (vide in der Rechtslehre Folgerungen daraus). Kein Idividuum kann sich aus sich selbst erklären. Wenn man also auf ein erstes Individuum kommt, worauf man kommen muss, so muss man auch ein noch höheres unbegreifliches Wesen annehmen.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 175f.
   


 
Nota I. - Das ist nunmal ein dicker Hund. Lange schwankt er, ob die Vernunft gedachte Summe wirklicher Vernünftigkeit sein soll, oder vielmehr wirkliche Vernünftigkeit nur die Individuation eines unbegreiflichen vorgegebenen Ganzen. An dieser Stelle nun sieht er der Frage direkt ins Auge - und entscheidet sich für die dogmatische Antwort.

Wobei ihm den Obersatz niemand abstreiten kann: Vernunft 'gibt es' nur als die Gesamt-heit vernünftiger Wesen. Ein isoliert lebendes Individuum muss nicht nur nicht, sondern kann auch gar nicht vernünftig sein, denn Vernünftigkeit ist kein Verhältnis, das er zu sich selbst, sondern eines, das er zu Anderen hat. Seine Vernünftigkeit besteht aber in nichts als der Suche nach den Zwecken, über die er mit Anderen übereinstimmt; Fortschreiten im gemeinsamen Bestimmen des Bestimmbaren. 

Dann mag man immer das Terrain des gemeinsam Bestimmten als (seiende) 'Vernunft' bezeichnen; es bleibt aber das vorläufige Resultat eines aktualen Bestimmens, das anders als unendlich gar nicht vorgestellt werden kann.

10. 2. 17 


Nota II. - Ein 'höheres unbegreifliches Wesen' als erstes Individuum muss er annehmen, weil er einen Gründungsakt annehmen muss, und den kann er sich nicht als Abstraktion von einem systemischen historischen Geschehen vorstellen, weil ihm erstens systemisches Denken noch fremd ist, aber vor allem, weil er zweitens alles Historische aus dem Gang der Wissenschaftslehre ausgeschieden wissen will. Ersatzweise schiebt er einen Schöpfer-gott ex machina ein, den er anderswo nicht her deduzieren, auf den er an dieser Stelle aber nicht verzichten kann.

Rationell ist die Aufforderung zum eigenen Zwecksetzen, die an das zur Vernunft be-stimmte individuelle Ich aus der Reihe vernünftiger Wesen ergeht, nichts anderes als die historische Gegebenheit der bürgerlichen Gesellschaft zu verstehen, in die ein Mensch hineingeboren wird. Aus der eigenen Vorstellungsabeit des einzelnen Ich, die er reale Tätigkeit nennt, konnte ihm die wirkliche Zwecksetzung (gedacht als eine Auswahl aus der Mannigfaltigkeit aller möglichen Zwecke) nicht eingefallen sein; wenn sie aber doch in reale Tätigkeit eingehen soll, muss sie ihre Realität von Hause aus mitbringen. Sie muss realiter stattfinden, und das heißt: historisch.

Dass er die historische Generatio aequivoca der bürgerlichen Gesellschaft nicht genetisch darlegen konnte, wird man Fichte kaum zum Vorwurf machen wollen.
JE
29. 5. 19

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