Donnerstag, 16. November 2023

Das Individuum ist die Grenze der Vernunft.

GG-magazin                         zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Der Zweck wird uns in der Aufforderung gegeben, also die individuelle Vernunft lässt sich aus sich selbst nicht erklären - [dies] ist das wichtigste Resultat, es besteht nur im Gan-zen durchs Ganze und als Teil des Ganzen. Denn wie soll sonst Kenntnis eines Vernunft-wesens außer ihm zu erklären sein, wenn in ihm kein Mangel ist? 

Dies ist so dargetan worden: Wir haben uns Mühe gegeben, den Zweckbegriff zu erklä-ren, da kamen wir in einen Zirkel; nun aber ist sie beantwortet, denn im Fortlaufe der Vernunft ists damit nicht schwer, es ist nur darum zu tun, den ersten Zweckbegriff dar/- zulegen; den ersten aber bekommen wir, doch wird uns der Zweck nicht als Bestimmtes, sondern überhaupt der Form nach gegeben, etwas, woraus wir wählen können. (Vide in der Rechtslehre Folgerungen daraus.) 

Kein Individuum kann sich aus sich selbst erklären. Wenn man also auf ein erstes Indivi-duum kommt, worauf man kommen muss, so muss man auch ein noch höheres unbe-greifliches Wesen annehmen.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo,Hamburg 1982, S. 177f.


Nota. - Wieso aber sollte man das Individuum in und aus der Transzendentalphilosophie erkläre
n wollen? Die Transzendentalphilosophie beschäftigt sich mit dem, was an den In-dividuen Ichheit ist. Außer Ichheit sind sie auch noch Leib, Stoffwechsel, Leidenschaft und vieles mehr. Reicht das nicht aus, um aus abstrakten Vernunft- wesen lebendige Indi-viduen zu machen? 

Es ist wahr, in einem großen Quantum - um im Bilde zu bleiben - von Leib, Stoffwechsel und gar Leidenschaft hat Vernunft nichts zu suchen, es sei denn als ihre Grenze. Und eben darum sind die wirklichen Menschen in der 'Reihe vernünftiger Wesen' unaustausch-bare Individuen. Denn historisch ist es ja andersrum: Leib, Stoff- wechsel und Leiden-schaften verfolgen vor jeder Vernunft in der sinnlichen Welt ihre Zwecke ohne allen Be- griff. Vernunft und die Erfordernis, ihre Zwecke in Begriffe zu fassen, ergeben sich erst daraus, dass sich in der sinnlichen Welt ihre Wege kreuzen und schon immer gekreuzt haben. Die individuelle Vernunft entsteht daraus, dass das sinnliche Individuum von der Reihe der andern freien Wesen zur Vernunft aufgefordert wird; aufgefordert wird, seine Freiheit gegen seine Sinnlichkeit geltend zu machen. Die Individualität ist in der Welt das, was am wenigsten der Erklärung bedarf.

Dass er in der Wissenschaftslehre ein "noch höheres unbegreifliches Wesen" unterbringen will, ist im Übrigen aus dem längst ausgebrochenen Atheismusstreit zu erklären; biogra-phisch, aber nicht logisch.

23. 8. 15

Nota II. - Obiges ist der Kommentar von einem, der noch nicht weit genug in die Wissen-schaftslehre eingedrungen war. Auch das Individuum ist in der Wissenschaftslehre nicht das, was in Biologie oder Psychologie so heißt. Es ist vielmehr das bestimmte einzelne vernünftige Wesen in seinem Verhältnis – und Gegensatz – zu den anderen vernünftigen Wesen. Was nicht zu seiner Vernünftigkeit gehört – Sinnlichkeit, Leidenschaft, Irrtum – , kommt noch nicht in Betracht.

Individuum im Sinne der Wissenschaftslehre ist derjenige, der auf dem Weg der Bestim-mung seines Wollens in der Reihe all der andern vernünftigen Individuen schon ein ge-wisses Stück zurückgelegt hat. 

Und genau besehen ist vernünftig überhaupt erst seine Wechselwirkung mit jenen.
im Feb. 2016

 

Nota III. - Das erste, "unbegreifliche" Individuum hat zwar wohl durch die Zeitumstände seinen Weg in die Vorlesung nova methodo gefunden. Doch in Fichtes Vorstellung dürfte es schon ein Weile sehr unruhig geschlummert haben. 

Die Frage bleibt doch, wie, nämlich woher die Vernunft in die Menschen ursprünglich ge-kommen ist. Ausdrücklich formuliert er das Problem erst später - um es auf eine haar-sträubende Weise zu lösen, nämlich durch die Erfindung des Normalvolks. Immerhin leuchtet ihm inzwischen ein, dass die Vernunft nicht von einem Individuum unter die Menschen gestreut worden sein, sondern in einer Reihe von zur Vernunft bestimmten Wesen überhaupt erst entstanden sein kann. 

Aber eben von von außen dazu bestimmten Wesen. Die historische Erklärung, dass nicht die Entwicklung gemeinsamer Zwecke, nämlich des tätigen Verkehrs der Menschen unter-einander aus der Vernunft hervorgeht, sondern umgekehrt die Vernunft aus dem wirkli-chen gesellschaftlichen Verkehr hervorgegangen ist und die wirklichen historischen Men-schen sich zu ihr selbst-bestimmt haben, stand ihm noch nicht zu Gebote. Sie wurde erst durch die materialistische Geschichtsauffassung möglich; und zwingend notwendig durch die daraus folgende Kritik der Politischen Ökonomie.
18. 4. 21

 

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