GG-magazin zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik
Der Zweck wird uns in der Aufforderung gegeben, also die individuelle Vernunft lässt sich aus sich selbst nicht erklären - [dies]
ist das wichtigste Resultat, es besteht nur im Gan-zen durchs Ganze und
als Teil des Ganzen. Denn wie soll sonst Kenntnis eines Vernunft-wesens
außer ihm zu erklären sein, wenn in ihm kein Mangel ist?
Dies ist so dargetan
worden: Wir haben uns Mühe gegeben, den Zweckbegriff zu erklä-ren, da
kamen wir in einen Zirkel; nun aber ist sie beantwortet, denn im
Fortlaufe der Vernunft ists damit nicht schwer, es ist nur darum zu tun,
den ersten Zweckbegriff dar/- zulegen;
den ersten aber bekommen wir, doch wird uns der Zweck nicht als
Bestimmtes, sondern überhaupt der Form nach gegeben, etwas, woraus wir
wählen können. (Vide in der Rechtslehre Folgerungen daraus.)
Kein Individuum kann
sich aus sich selbst erklären. Wenn man also auf ein erstes Indivi-duum
kommt, worauf man kommen muss, so muss man auch ein noch höheres
unbe-greifliches Wesen annehmen.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo,Hamburg 1982, S. 177f.
Nota. - Wieso aber sollte man das Individuum in und aus der Transzendentalphilosophie erklären wollen? Die Transzendentalphilosophie beschäftigt sich mit dem, was an den In-dividuen Ichheit ist. Außer Ichheit sind sie auch noch Leib, Stoffwechsel, Leidenschaft und vieles mehr. Reicht das nicht aus, um aus abstrakten Vernunft- wesen lebendige Indi-viduen zu machen?
Es ist wahr, in einem großen Quantum - um im Bilde zu bleiben - von Leib, Stoffwechsel und gar Leidenschaft hat Vernunft nichts zu suchen, es sei denn als ihre Grenze. Und eben darum sind die wirklichen Menschen in der 'Reihe vernünftiger Wesen' unaustausch-bare Individuen. Denn
historisch ist es ja andersrum: Leib, Stoff- wechsel und Leiden-schaften
verfolgen vor jeder Vernunft in der sinnlichen Welt ihre Zwecke ohne
allen Be- griff. Vernunft und die Erfordernis, ihre Zwecke in Begriffe
zu fassen, ergeben sich erst daraus, dass sich in der sinnlichen Welt
ihre Wege kreuzen und schon immer gekreuzt haben.
Die individuelle Vernunft entsteht daraus, dass das sinnliche
Individuum von der Reihe der andern freien Wesen zur Vernunft
aufgefordert wird; aufgefordert wird, seine Freiheit gegen seine
Sinnlichkeit geltend zu machen. Die Individualität ist in der Welt das, was am wenigsten der Erklärung bedarf.
Dass er in der
Wissenschaftslehre ein "noch höheres unbegreifliches Wesen" unterbringen
will, ist im Übrigen aus dem längst ausgebrochenen Atheismusstreit zu erklären; biogra-phisch, aber nicht logisch.
23. 8. 15
Nota II. - Obiges ist der Kommentar von einem, der noch nicht weit genug in die Wissen-schaftslehre eingedrungen war. Auch
das Individuum ist in der Wissenschaftslehre nicht das, was in Biologie
oder Psychologie so heißt. Es ist vielmehr das bestimmte einzelne
vernünftige Wesen in seinem Verhältnis – und Gegensatz – zu den anderen
vernünftigen Wesen. Was nicht zu seiner Vernünftigkeit gehört –
Sinnlichkeit, Leidenschaft, Irrtum – , kommt noch nicht in Betracht.
Individuum
im Sinne der Wissenschaftslehre ist derjenige, der auf dem Weg der
Bestim-mung seines Wollens in der Reihe all der andern vernünftigen
Individuen schon ein ge-wisses Stück zurückgelegt hat.
Und genau besehen ist vernünftig überhaupt erst seine Wechselwirkung mit jenen.
im Feb. 2016
Nota III. - Das erste, "unbegreifliche" Individuum hat zwar wohl durch die Zeitumstände seinen Weg in die Vorlesung nova methodo gefunden. Doch in Fichtes Vorstellung dürfte es schon ein Weile sehr unruhig geschlummert haben.
Die Frage bleibt doch, wie, nämlich woher die Vernunft in die Menschen ursprünglich ge-kommen ist. Ausdrücklich formuliert er das Problem erst später - um es auf eine haar-sträubende Weise zu lösen, nämlich durch die Erfindung des Normalvolks. Immerhin leuchtet ihm inzwischen ein, dass die Vernunft nicht von einem Individuum unter die Menschen gestreut worden sein, sondern in einer Reihe von zur Vernunft bestimmten Wesen überhaupt erst entstanden sein kann.
Aber eben von von außen
dazu bestimmten Wesen. Die historische Erklärung, dass nicht die
Entwicklung gemeinsamer Zwecke, nämlich des tätigen Verkehrs der
Menschen unter-einander aus der Vernunft hervorgeht, sondern umgekehrt
die Vernunft aus dem wirkli-chen gesellschaftlichen Verkehr
hervorgegangen ist und die wirklichen historischen Men-schen sich zu ihr selbst-bestimmt haben, stand ihm noch nicht zu Gebote. Sie wurde erst durch die materialistische Geschichtsauffassung möglich; und zwingend notwendig durch die daraus folgende Kritik der Politischen Ökonomie.
18. 4. 21
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