Freitag, 24. November 2023

Die ästhetische Ansicht ist der Angelpunkt.

jpletarte                        aus Wissenschftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Ich mache mich deutlicher. Auf dem transzendentalen / Gesichtspunkt wird die Welt ge-macht, auf dem gemeinen ist sie gegeben: auf dem ästhetischen ist sie gegeben, aber nur nach der Ansicht, wie sie gemacht ist. Die Welt, die wirkliche Welt, die Natur, denn nur von ihr rede ich, - hat zwei Seiten: sie ist [1.] Produkt unserer Beschränkung; sie ist [2.] Produkt unseres freien, es versteht sich, idealen Handelns (nicht etwa unserer reellen Wirksamkeit). In der ersten Ansicht ist sie selbst allenthalben beschränkt, in der letzten selbst allenthalben frei. Die erste Ansicht ist gemein, die zweite ästhetisch. ... 

Wer der ersten Ansicht nachgeht, der sieht nur verzerrte, gepreßte, ängstliche Formen; er sieht die Häßlichkeit; wer der letzten nachgeht, der sieht kräftige Fülle der Natur, er sieht Leben und Aufstreben; er sieht die Schönheit. So bei dem Höchsten. Das Sittengesetz ge-bietet absolut, und drückt alle Naturneigung nieder. Wer es so sieht, verhält sich zu ihm als Sklav. Aber es ist zugleich das Ich selbst; es kommt aus der inneren Tiefe unseres eige-nen Wesens, und wenn wir ihm gehorchen, gehorchen wir nur uns selbst. Wer es so an-sieht, sieht es ästhetisch an. 

Der schöne Geist sieht alles von der schönen Seite; er sieht alles frei und lebendig. ...  Wo ist die Welt des schönen Geistes? Innerlich in der Menschheit, und sonst nirgends. Also: die schöne Kunst führt den Menschen in sich selbst hinein, und macht ihn da einhei-misch. Sie reißt ihn los von der gegebenen Natur, und stellt ihn selbständig und für sich allein hin. ... 

Ästhetischer Sinn ist nicht Tugend: denn das Sittengesetz fordert Selbständigkeit nach Be-griffen, der erstere aber kommt ohne alle Begriffe von selbst. Aber er ist Vorbereitung zur Tugend, er bereitet ihr den Boden, und wenn die Moralität / eintritt, so findet sie die hal-be Arbeit, die Befreiung aus den Banden der Sinnlichkeit, schon vollendet. Ästhetische Bildung hat sonach eine höchst wirksame Beziehung auf die Beförderung des Vernunft-zwecks. 

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J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, SW Bd. IV, S. 353ff.


Nota. - Wir haben eine Welt nur als Vorstellung; aber die haben wir gemacht: Das ist der Standpunkt der philosophischen Reflexion. Fürs bürgerliche Leben dagegen sind Welt und Vorstellung gleichermaßen gegeben. Das ist eine geschäftige, prosaische und enge Welt. Sie ist hässlich. 

Das Sittengesetz gebietet absolut. Aber es lautet in seiner schlichtesten Form: Handle nach eigenem Urteil. Formal drückt es nieder, material lehrt es uns, auf eigenen Füßen zu stehen. "Wenn wir ihm gehorchen, gehorchen wir nur uns selbst." 

Wer vom Standpunkt der philosophischen Reflexion ins wirkliche Leben zurückkehrt, mag die transzendentale Ansicht beigehalten: Sie wird ihm zur ästhetischen. Auf der an-dern Seite bildet die ästhetische Ansicht den Übergang vom gewöhnlichen Standpunkt zum transzendentalen, und ohne ihn wäre die kritische und Transzendentalphilosophie gar nicht möglich geworden.

Ästhetischer Sinn sei nicht Tugend, sagt er des öftern: Das Sittengesetz fordere Selbst-ständigkeit nach Begriffen. Nach Zweck
begriffen, setze man erläuternd hinzu: Nach einem Urteil um/zu, und da das Sittengesetz immer momentan und unmittelbar gebietet, nach einem Urteil ad hoc. Urteile ad hoc sind die ästhetischen Urteile auch. Nach Begrif-fen werden sie nicht gefällt, sondern aus bloßer Anschauung. Doch auch so, als wären sie mir absolut geboten, einen Raum zum Deliberieren habe ich nicht.

Er hätte gut daran getan, das Sittengesetz und den ästhetischen Sinn phänomenal in einem Komplex zusammenzufassen. Sein abtrünniger Schüler Herbart hat diesen Schritt konsquenter Weise getan und das Ethische als Schönheit im Reich der Willensakte dem Ästhetischen als dessen Teilbereich untergeordnet. Ethische Urteile haben streng genom-men ebenso wie ästhetische Urteile keinen Gegenstand; ihr Zweck ist nämlich nicht, die-ses oder jenes so oder anders zu bestimmen. Sondern eine eingetretene Bestimmung mei-nes Zustands zu bestätigen oder zu verwerfen.

Und dies nun macht die gemeinsame Besonderheit des ethischen und ästhetichen Urteils aus: Es geschieht nicht stückweise, 'quantifizierend', synthetisch a posteriori, sondern ganz und auf einmal: synthetisch a priori.  


"Erfassen" ließe sich mein ganzer Zustand nur, soweit er von einem Teilstück zum andern übergehe und sie nach einander verknüpft. "Wenn unser Zustand auf einmal aufgefasst würde, so würde nicht übergegangen, und so würde nichts Ganzes aufgefasst. Was ist nun das Ganze dieses Zustandes? Nach dem soeben Gesagten ist es Synthesis des Wollens und des Seins, Beziehung beider auf einander, welches beide nicht zu trennen ist." Nova methodo, S. 155

Der springende Punkt: Ästhetische wie ethische Urteile werden nicht gefasst, aufgefasst wie das Vernunfturteil nach Deliberation, nicht bestimmt durch 'mein Ich', sondern ange-schaut als ein Zustand, in dem ich bin. Es tritt zwischen Wollen und Sein eine Scheidung gar nicht erst ein. Und wenn ich zu einem Verstandesurteil komme, dann immer erst hin-terher.
27. 8. 18 

Nota II. - Lies weiter >hier.

JE

 

 

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