Sonntag, 30. November 2025

Absicht und Einfachheit.

K. Malevitch, Schwarzer Kreis, 1923                                   aus Philosophierungen
  
Einfachheit ist kein Attribut des Wirklichen. Im Gegenteil, auszeichnendes Merkmal der Erscheinungswelt ist - von den Eleaten bis Kant - das Mannigfaltige. Das Einfache 'gibt es' immer nur als Erzeugnis einer Denkarbeit. Es ist Ergebnis des Prozesses von Reflexion und Abstraktion. Es handelt sich wohlbemerkt um ein und denselben Prozess: Wer auf das Eine absieht, sieht dabei von dem Andern ab.

Das Ein/fache, das dabei zustande kommt, ist ein Ein/seitiges, gewiss doch: Es ist ja Resul-tat einer Absicht. Ist die Absicht gerechtfertigt, so ist es auch die dazu gehörige Einseitig-keit. Kritisch ist das Denken nicht, wenn es Einseitigkeit vermeidet; denn ohne Vereinfa-chung ist gar kein Denken. Sondern indem es die zu Grunde liegende Absicht ausspricht und ihre Berechtigung prüft. Rechtfertigen kann sich die Absicht aber wieder nur durch ihr Ergebnis.
6. 12. 13 
 
 

Samstag, 29. November 2025

Schrecklicher Vereinfacher.

  Mondrian  Composition No. II with Blue and Yellow                aus Philosophierungen 

Denken heißt vereinfachen.

Wir nehmen keine 'Dinge' wahr. Auf unser Sensorium prasselt ohne Pause eine Sturzflut aller erdenklichen Reize ein. Nicht alle werden wohl an die Zentrale weiter geleitet: Redun-danz betäubt. Und nicht alle kommen in der Zentrale an – weil die nämlich vorab schon filtert, was des Bemerkens wert ist und was nicht.
 
Noch bevor übrigens gedacht wurde. Die Stammesgeschichte hat unser Gehirn mit Regio-nen ausgestattet, die nur bei Homo sapiens vorkommmen – weil die dort verarbeiteten In-formationen für die Lebenswirklichkeit von Homo sapiens von Belang sind, aber für andere Lebensformen nicht. Und jeder von uns bringt eine ganze Masse von Verschaltungen zwi-schen den Regionen fix und fertig mit auf die Welt, teils als die materialisierte Kollektiver-innerung unserer Gattung, teils – und keiner weiß, in welchem Maße – als individuelle Erb-schaft. 

Sie alle sind mit Vereinfachung beschäftigt.

Aber nun erst das Denken selbst! Es handelt sich – nach der unwillkürlichen, genetisch vor-gegeben Auslese – um die willkürliche Anordnung der wahrgenommenen Gegebenheiten auf eine vorgängige Absicht hin. Nichts wird "nur so" wahrgenommen. Auch die zweckfreie ästhetische Betrachtung geschieht "um etwas willen" – um ihrer selbst willen, anders fände sie nicht statt. Für wahr wird nur das genommen, was in einem irgend erkennbaren Verhält-nis zur Absicht steht; und im Erkennen unerwarteter und verborgener Verhältnisse zeichnet sich Intelligenz aus (Humor
+Gedächtnis).

Das gilt für das alltägliche Denken des gesunden Menschenverstands nicht minder als für die Wissenschaft. Und namentlich die Philosophie. Man kann, ohne einen allzu großen Schnitzer zu riskieren, sagen: Philosophieren heißt vereinfachen. Die subtilen Distinktionen der Schulphilosophie sind nicht der Zweck des Philosophierens, sondern sein Mittel. Die historisch-philologische Arbeit bereitet der Philosophie 'nach dem Weltbegriff', wie Kant es nennt, das Material zu. Der Sinn ist immer: Ordnung in das Mannigfaltige bringen; festle-gen, was das Wichtige sein soll und was hintan gestellt werden darf. Und zwar so, dass im Idealfall eine einfache Frage übrigbleibt, die mit ja oder nein zu beantworten wäre. Es ist, in einem Akt, das Abstrahieren vom Zufälligen und das Reflektieren auf das Notwendige.
 
Eine Anwort auf eine philosophische Frage von Erheblichkeit kann erst dann richtig sein, wenn sie einfach ist. (Sie kann allerdings auch dann noch falsch sein.)

24. 7. 14 
 
 

Freitag, 28. November 2025

Schrecklicher Vereinfacher, II.

Klee                                                       aus Philosophierungen

Irritiert ist der philosophisch vorgebildete Leser durch die Schlichtheit meiner Darstel-lungen. Das soll Transzendentalphilosophie sein? Die ist doch berühmt und berüchtigt als eine Hirnfolter. 

Das ist sie aber bloß, weil sie notwendigerweise hinterher kam, als Kritik. Sie musste unter dem angehäuften Berg der Begriffe und ihrem dialektischen Schein die zu Grunde liegen-den Anschauungen* hervor holen. 

Nachher kann sie den gesunden Menschenverstand - sensus communis - wieder in seine Rechte einsetzen.
1. 10. 15 

*) Heute würde ich von Vorstellungen reden. 
 
 
 

Donnerstag, 27. November 2025

Schrecklicher Vereinfacher, III.

                                  zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Denken heißt, die Mannigfaltigkeit der Erscheinung reduzieren auf ihre Bedeutung. Trans-zendentalphilosophie heißt, die Vorstellung von der Mannigfaltigkeit der Erscheinung auf ihre Bedeutung reduzieren.
20. 12. 20 

Teifi.  

Nota. Das obige Foto gehört mit nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Mittwoch, 26. November 2025

Die Welt ist Eine, weil das Ich Eins ist.

                                aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Wenn man die Verrichtungen des menschlichen Geistes systematisch in einem letzten Grunde vereinigen wolle, müsse man Dieses und Jenes als Handlungen desselben anneh-men; jedes vernünftige Wesen, das es versuchen würde, werde in diese Notwendigkeit ver-setzt werden; dies und nichts weiter behauptet der Philosoph.

Jene ursprünglichen Tathandlungen haben dieselbe Realität, welche die Kausalität der Dinge in der Sinnenwelt aufeinander und ihre durchgängige Wechselwirkung hat.
______________________________________________
J. G. Fichte, Grundlage der Naturrechts..., SW III, S. 25


Nota. - Das ist ein Zirkel, um nicht zu sagen: eine Tautologie. Will man die Verrichtungen des menschlichen Geistes als in einem Grunde vereinigt annehmen, muss man dieselben als Handlungen dieses letzten Grundes auffassen; wenn ich für die Handlungen des menschli-chen Geistes einen gemeinsamen Grund postuliere, muss ich ihn mir als ein einig handeln-des Subjekt vorstellen. Eins bedeutet soviel wie das andere.

Warum ist es dennoch keine Tautologie? Weil unsere Vorstellung einer verbindlichen Ver-nunft eben darauf beruht und sich anders als tautologisch gar nicht in Worte fassen lässt.

Um die Vorstellung von der Kausalität steht es nicht viel anders. Nicht nur ist sie auch eine Tautologie, die sich nicht sinnvoll in Worte fassen lässt; sondern sie ist auch dieselbe Denk-figur: Will ich die Welt als ein Ganzes betrachten, muss ich sie als Analogon meiner Ver-nunft auffassen (was sie, transzendental verstanden, auch ist.)
16. 7. 18

Nota II. - Das unverhoffte Ansinnen manch gegenwärtiger Kosmologen, angesichts der unüberwindlichen Unvereinbarkeit von Relativitätstheorie und Quantenphysik wolle ihnen die Philosophie unter die Arme greifen, ist nicht so bescheiden, wie es klingt. Denn heim-lich mögen sie hoffen, die käme dem Geheimnis auch nicht auf die Spur, und ihre Grenzen hätten sich als die schlechthinnige Grenze menschlichen Wissens erwiesen. Andere wären auch nicht klüger.

Andere sind klüger, nämlich die kritischen Philosophen, die sie immerhin dahin belehren können, dass sie gar nicht von derselben Sache reden. Jene reden von etwas, das ist und von dem man Erfahrungen hat, doch die Philosophen reden nicht von einer Gegend, zu der man der Zugang sucht, um sie mathematisch zu entschlüsseln; sondern von einem Hori-zont, der je so weit weicht, wie man ihm näher kommt. 

Jene meinen nämlich, zuerst sei da ein Ganzes, zu dem die Menschen sich als seine Be-standteile verhalten; diese meinen aber, die Welt sei ein Entwurf der Menschen, in den sie sich hineinprojizieren. Sie schauen in entgegengesetzte Richtungen, weil ihre Standpunkte entgegengesetzt sind.
JE 




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Dienstag, 25. November 2025

System und Totalität.

startblock-f                                                                        aus Marxiana 

Es ist zu bedenken, daß die neuen Productivkräfte und Productionsverhältnisse sich nicht aus Nichts entwickeln, noch aus der Luft, noch aus dem Schooß der sich selbst setzenden Idee; sondern innerhalb und gegensätzlich gegen vorhandne Entwicklung der Production und überlieferte, traditionelle Eigenthumsverhältnisse. 

Wenn im vollendeten bürgerlichen System, jedes ökonomische Verhältniß das andre in der bürgerlich-ökonomischen Form voraussezt und so jedes Gesezte zugleich Voraussetzung ist, so ist das mit jedem organischen System der Fall. Dieß organische System selbst als To-talität hat seine Voraussetzungen und seine Entwicklung zur Totalität besteht eben [darin], alle Elemente der Gesellschaft sich unterzuordnen, oder die ihm noch fehlenden Organe aus ihr heraus zu schaffen. Es wird so historisch zur Totalität. Das Werden zu dieser Totalität bildet ein Moment seines Prozesses, seiner Entwicklung. – 

Andrerseits, wenn innerhalb einer Gesellschaft die modernen Productionsverhältnisse, d. h. das Capital zu seiner Totalität entwickelt ist, und diese Gesellschaft sich nun eines neuen / Terrains bemächtigt, wie z. B. in den Colonieen, so findet sie, namentlich ihr Repräsentant, der Capitalist, daß sein Capital aufhört Capital zu sein ohne Lohnarbeit und daß eine der Voraussetzungen hiervon nicht nur Grundeigenthum überhaupt, sondern modernes Grund-eigenthum ist; Grundeigenthum, das als capitalisirte Rente theuer ist, und als solches die un-mittelbare Benutzung der Erde durch die Individuen ausschließt.
____________________________________________________
K. Marx, Grundrisse, MEGA II/1.1, S. 201f. [MEW 42, S. 203f.]


Nota. - Wir sind hier noch in Heft II des Ms.; noch ist Marx weit entfernt von der Einsicht in die "
ursprüngliche Akkumulation des Kapitals", die in Wahrheit nur die Enteignung des werktätigen Landvolks von seinem Grund und Boden war. Noch meint er auch, mit einer - womöglichen kritischen - Vollendung des Klassischen Systems der Politische Ökonomie be-fasst zu sein, statt mit seiner Sprengung

System - das ist das Schlüsselwort. Die Klassische Politische Ökonomie gerierte sich als ein (theoretisches) 'System', weil sie behauptete, das treue gedankliche Abbild eines realen Sy-stems zu sein: der auf dem Wertgesetz beruhenden bürgerlichen Gesellschaft. 

Das ist die Grundmystifikation: Lässt sich die bürgerliche Gesellschaft theoretisch darstel-len als eine um den Äquivalententausch kreisende Totalität, dann erscheint sie nicht nur lo-gisch begründet, sondern auch politisch-moralisch gerechtfertigt. Denn dies war das Ziel der Politischen Ökonomen seit den Physiokraten: die bürgerliche Gesellschaft darzustellen als die endlich gefundene 'organische' Form der Arbeitsteilung, der das menschliche Zusam-menleben "von Natur aus" zustrebt, wenn es nur einmal von seinen feudalen und klerikalen Schlacken befreit sein würde. Der - buchstäblich - springende Punkt ist aber gerade das "Werden zu dieser Totalität", das Marx (im sog. Formenkapitel) schließlich wird darstellen müssen. 
JE, 4. 9. 15

Montag, 24. November 2025

Die Wissenschaftslehre ist keine Metaphysik.

                                                aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Die Wissenschaftslehre ist keine logische Metaphysik. Sie stellt nicht die Welt, wie etwa Hegel, dar als ein systematisches Verzeichnis der denkbaren Begriffe. 

Sie ist die Genealogie der notwendigen Vorstellungen.

Notwendig aber nicht aus einem gegebenen Grund, sondern für einen gegebenen Zweck: das tatsächliche Bewusstsein zu erklären.
Weil  jenes zum Ergebnis der wirklichen Entwick-lung der Vorstellungen geworden ist, muss jene Entwicklung diesen Weg genommen und an diesem Punkt begonnen haben.

Die Wissenschaftslehre ist immanent, aber so bleibt sie nicht. Sie wird transzendental, in-dem sie unter den wirklichen Vorstellungen deren notwendige Prämissen aufsucht.

Für Fichte ist der Begriff lediglich Medium der Vorstellung. Er selbst leistet gar nichts. Es bleibt immer der Vorstellende, der leistet.

Und was ist das 'tatsächliche Bewusstsein'? Es ist nicht mehr und nicht weniger als alles, was über Dinge - Gegenstände, Begriffe, Bilder - tatsächlich gedacht wird, vom gesunden Men-schenverstand bis hin zu Teilchenphysik, Molekularbiologie und spekulativer Kosmologie: wirkliches Wissen und Wissenschaft. Wissenschaftslehre dagegen ist - die Genealogie der Vorstellungen, die auf dem Weg dahin notwendig wurden.

22. 12. 14



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Sonntag, 23. November 2025

Abstraktes Modell und Geschehen in der Zeit.

                                                                    zu Marxiana 
            
Wir haben gesehn, daß der Productionsproceß im Ganzen betrachtet Einheit von Produc-tions- und Circulationsprozeß ist. Bei der Betrachtung des Circulationsprozesses als Repro-ductionsprozeß (ch. IV Buch II) wurde dieß näher erörtert. Worum es sich in diesem Buch handelt, kann nicht sein allgemeine Reflexionen über diese „Einheit“ anzustellen. Es gilt vielmehr die konkreten Formen aufzufinden und darzustellen, welche aus dem Proceß des Capitals – als Ganzes betrachtet – hervorwachsen. (In der wirklichen Bewegung der Capita-lien treten sie sich in solchen konkreten Formen gegenüber, für die die Gestalt des Capitals im unmittelbaren Productionsprozeß, wie seine Gestalt im Circulationsprozeß nur als be-sondre Momente erscheinen. Die Gestaltungen des Capitals, wie wir sie in diesem Buch entwickeln, nähern sich also schrittweis der Form, worin sie auf der Oberfläche der Gesell-schaft, im gewöhnlichen Bewußtsein der Productionsagenten selbst, und endlich in der Action der verschiednen Capitalien auf einander, der Concurrenz auftreten.) 
______________________________________________________  
K. Marx, Ökonomisches Manuskript 1863-65,  MEGA II/4.2.; S. 7 


Nota. - So beginnt der II. Band des ersten Versuchs von Marx, das in den Grundrissen ge-sammelten sachlichen und logischen Stoff in eine intelligible Form zu bringen. Doch schon in diesem geplanten zweiten Band läuft er ihm aus dem Ruder: Denn was folgt, sind viele Seiten voller mathematischer Formeln ohne irgendeine begriffliche Entwicklung. Insofern muss obige Einleitung erstmal für sich stehen. 


Das kann sie aber auch. Man muss sie nur wörtlich nehmen: Im I. Band wurde keineswegs die Bewegungen des Kapitals beschrieben, so wie sie in Raum und Zeit vorkommen, son-dern wurde ein abstraktes Modell entworfen, das anzeigt, worauf die wirklichen Bewegun-gen der Marktakteure hinauslaufen, wenn man sie in ihrem Gesamtzusammenhang betrach-tet. Diesen Zusammenhang hat der Autor für unser besseres Verständnis vorab in Begriffen dargestellt, damit wir verstehen, worin der Sinn des ganzen kapitalistischen Systems be-steht. 

Was wirklich geschieht, soll dagegen erst ab diesem II. Band beschrieben werden. Denn tatsächlich wäre andersherum gar nicht zu verfahren. Faktisch ist das Geschehen auf dem Markt ein unübesichtliches Durcheinander, wo eine Aktion die andere durchkreuzt. Was man in diesem Satz gesagt hat, muss man im nächsten schon wieder zurücknehmen. In der rein empirischen Beschreibung wäre der Prozess der kapitalistischen Produktion ein bloßes Chaos ohne Anfang und Ende. Wie gut er es auch selber verstanden haben möchte - rein empirisch kann der Wissenschaftler, der erklärtermaßen kritische zumal, die kapitalistische Wirtschaftsweise in ihrem zeitlichen Verlauf gar nicht beschreiben.

Das ist der theoretisch springende Punkt: Das Modell war jenseits von Raum und Zeit, im bloßen Begriff sozusagen, und ob es zur Darstellung des wirklichen Geschehens taugt, muss sich erweisen, indem man die Zeit in das statische Modell einführt.

Und damit beschäftigen sich Marxens endlose mathematischen Formeln auf den folgenden Seiten.
JE, 28. 2. 20



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Samstag, 22. November 2025

Spekulieren heißt ein Schema entwerfen.

service-wissen                       aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Vernunft hat sich selbst zur Voraussetzung. Wie könnte sie sich also beurteilen? Sie müsste sich im Kreise drehen, denn sie stieße überall nur wieder auf sich als Prämisse von allem.
Denn davon, wie sie wurde - nämlich wie sie wurde -, haben wir noch keine Erfahruung machen können - die Vernunft ja immer schon zu ihrer Bedingung hat. Wir können aber im Gedankenspiel so tun, als ob wir einen Gegenstand - Sache, Ding - erfahrungssmäßig ken-nen gelernt hättenen, und ihn dann im Spiel das tun lassen, was er tun müsste, um schließ-lich Vernunft als sein Produkt hervorzubringen. Das wäre experimentieren mit einem Sche-ma.

Es wird sich dann erweisen, ob der pp. Gegenstand sich in diesem Experiment bewährt. Da könnte man freilich ewig suchen und wäre auf den bloßen Zufall angewiesen, der selbst im Denkexperiment nichts beweist.

Die Wissenschaftslehre fängt darum nicht bei einer beliebigen phantasmagorisch frei einge-bildeten Prämise an, sondern bei dem unvermeidlich anzunehmenden Grund der Vernunft, den der erste, kritisch-analytische Gang der Transzendentalphilosophie freigelegt hatte: ein freies Wollen, das sie Ich nennt. Dies war zwar aufgefunden worden; aber nicht in der Er-fahrung, sondern selbst nur spekulativ: als ein Schritt hinter das erste/letzte Erfahrbare zu-rück. Das Experimentieren mit dem Schema muss hier an die Stelle der Erfahrung treten.

Allerdings verfährt auch die positive empirische Wissenschaft im Prinzip nicht anders. Auch ihre Versuche beginnen mit einem spekulativ konstruierten Sachverhalt alias Hypothese, und sie fügt ihn ein in ein vorgedachtes Schema; doch eines, das sich in füheren Erfahrun-gen schon bewährt hat. Aber damit ist auch sie nicht fertig. Ob alles klappt, muss sie in je-dem Fall erst noch versuchen. In der Mathematik nennt man das, wenn ich nicht irre, eine Vollständige Induktion. Ihre Vollständigkeit macht ihren spekulativen Anteil aus, um des-sentwegen sie - wie übrigens auch alle Erfahrung - nicht einfach reell ist.

PS. Etymologisch wäre es korrekt, auch dieses Verfahren empirisch zu nennen. Denn gr. εμπειρια heißt lediglich 'auf e. Versuch beruhend'; von πειρα-. Auch im Denken versucht man; vielleicht öfter als im wirklichen Leben...
29. 2. 20

 
 
 

Freitag, 21. November 2025

Die Vernunft ist dargestellt in mehreren Individuen, die sich in der Welt durchkreuzen.

verkehren                             zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik 

Bemerkung: Beides, die theoretische und praktische Philosophie ist Wissenschaftslehre, bei-de liegen auf dem transzendentalen Gesichtspunkt; erstere, weil ja hier auf das Erkennen ge-rechnet wird, also auf etwas in uns, und nicht geredet wird von einem Sein; letztere, weil überhaupt gar nicht das Ich, das Individuum betrachtet wird, sondern die Vernunft über-haupt in ihrer Individualität. Die erstere Lehre ist konkret, die letzte ist die höchste Abstrak-tion: der des Sinnlichen zu dem reinen Begriffe als einem Motiv.

3) Es wird in der Ethik nicht das eine oder andere Individuum betrachtet, sondern die Ver-nunft überhaupt. Nun ist die Vernunft dargestellt in mehreren Individuen, die sich in der Welt durchkreuzen. Soll der Zweck der Vernunft erreicht werden, so muss ihre
[=deren] phy-sische Kraft gebrochen und die Freiheit jedes eingeschränkt werden, damit nicht einer des andern Zwecke störe und hintertreibe.

Daraus entsteht die Rechtslehre oder Naturrecht. Die Natur dieser Wissenschaft ist sehr lange verkannt worden; sie hält die Mitte zwischen theoretischer und praktischer Philoso-phie, sie ist theoretische und praktische Philosophie zugleich. Juridische Welt muss vor der moralischen vorhergehen.
____________________________________________
J. G. Fichte,Wissenschaftslehre nova methodo, S. 242


 

Nota. - Die Vernunft 'ist dargestellt in mehreren Individuen, die sich in der Welt durchkreu-zen'... Sie ist nicht bloß "dargestellt in...", sondern ist buchstäblich nichts anderes als das vernünftige Handeln dieser mehreren Individuen, 'die sich in der Welt durchkreuzen'. Vor-her jedenfalls 'ist' sie nicht.

Der große Zweck der Vernunft sei Übereinstimmung, sagt F. an anderer Stelle (aber zur selben Zeit); und hier genauer: dass "nicht einer des andern Zwecke störe und hintertreibe". Von welchen Zwecken hier die Rede ist, unterscheidet er nicht. Wenn Zweie um dieselbe Schöne buhlen, gebietet ihnen die Vernunft da etwa 'Übereinstimmung'? Oder überhaupt irgendwas? Nein, das ist etwas - und das dürfte F. kaum anders gesehen haben -, wozu die Vernunft gar keine Meinung hat, ja wovon sie nicht einmal Notiz nimmt.

Ein jedes Individuum hat tausend Zwecke, die 'eine Reihe vernünftiger Wesen' gar nichts angehen, sondern nur ihn und die, denen er persönlich verbunden ist; und sicher sehr viel mehr, als Zwecke, die das öffentliche Interesse berühren. Da hat er es nur mit seinem Ge-schmacksurteil zu tun (und moralische Urteile sind Geschmacksurteile, die auf Willensakte bezogen sind); das muss er mit sich ausmachen und mit denen von seinen Nächsten, denen er Zugang zu seinem Privatleben gewährt. Und nur jene andern Zwecke, deren Realisierung öffentliche Folgen haben würde, sind dem Richtspruch der Vernunft unterworfen und be-rühren das Reich des Rechtlichen und daher auch das Politische.

Fichte lehrte zu einer Zeit, als die Scheidung der bürgerlichen Welt in einen öffentlichen und einen privaten Raum noch kaum begonnen hatte - weil die vielen Privaten vom Recht-lichen und Politischen noch ausgeschlossen waren; seine Lehre hatte ja nicht zuletzt den Zweck, ihnen solchen Zutritt erst zu verschaffen. Wie die Freiheiten der leidenschaftlich sinnlichen Individuen gegen die Ansprüche der 'Reihe vernünftiger Wesen' zu wahren sind, lag noch nicht in seinem Gesichtsfeld. Das ist, wie gesagt, historisch verständlich, aber ein theoretischer Fehler war es doch.
20. 5. 16

 

Nota II. - Nach F.s Darstelluung am Schluss der Nova methodo ist 'das Ästhetische' die Brücke vom 'gemeinen', dogmatischen und realistischen Bewusstsein zum transzendentalen Gesichtspunkt. Wie aber das? Indem die an die Dinge verfallene Vernunft an einer Stelle - welcher?  - sich nicht mehr genügt - wieso? - und über sich hinausgeht - wie?.

Das erklärt er gar nicht. Er sagt lediglich: Es ist so. Der Beweis, dass es so ist, sind die Schö-nen
Künste, genauer, die Künstler, denn sie tun es ja, und wenn es nicht möglich wäre, könn-ten sie es nicht.

Es ist wahr, die Transzendentalphilosphie sagt nicht, dass es so kam, weil es so kommen musste, und sie wisse, warum. Das Warum stand ohnehin fest: Was immer in der Vorstel-lung geschieht, geschieht durch Freiheit. Die Transzendentalphilosophie zeigt immer nur die Bedingungen der Möglichkeit auf; um die Möglichkeit zu realisieren, braucht es dann nur noch einen Willen.

Was aber ist die Bedingung der Möglichkeit des ästhetischen Erlebens? Dass die Reflexion sich überbietet? Nein, im Gegenteil: dass sie ihrer enträt. Die Reflexion - das, was regulär als vernünftig gilt - kommt immer nicht weiter als bis zum Verhältnis von Ursache und Wir-kung. Sie hat nichts anderes, wovon sie ausgehen könnte, als das, was sie vorfindet - als sei-end. Und das sind immer Begriffe; genauer: Begreifliche und Begriffene; Erfahrungsbegrif-fe - phainomena - so gut wie reine Verstandesbegriffe - noumena; als da wären Ich, Welt, Grund und - nun ja: Sein. 

Das Ästhetische ist möglich, weil es der Vernunft aus Freiheit möglich ist, sich des Begrei-fens zu enthalten. Dann ist die Welt nicht gegeben, sondern wird angeschaut - als ein Ge-schehen, so, als ob sie eben gemacht würde, und ich bin mittenmang dabei. Das Paradox ist: Es wird lediglich angeschaut - aber geurteilt wird doch. Nicht nach Gründen, die kennt erst die Reflexion; sondern danach, was ohne Interesse gefällt und was nicht. 

So kommt das Ich außer, neben und über sich zu stehen. So wird der transzendentale Ge-sichtspunkt möglich. Und was für das Geschehende überhaupt gilt, gilt besonders für das, was willentlich geschieht. Moralität besteht in ästhetischen Urteilen über Willensakte.
JE,
11. 6. 19  

 

 

Donnerstag, 20. November 2025

Der Glaube an die Wirklichkeit der Welt.

                              aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

5) Der Widerspruch ist leicht zu vereinigen. Das producirende Ich wurde selbst als leidend gesetzt, so auch das gefühlte in der Reflexion. Das Ich ist demnach für sich selbst in Bezie-hung auf das Nicht-Ich immer leidend, wird seiner Thätigkeit sich gar nicht bewusst, noch wird auf dieselbe reflectirt. – Daher scheint die Reali/tät des Dinges gefühlt zu werden, da doch nur das Ich gefühlt wird.

(Hier liegt der Grund aller Realität. Lediglich durch die Beziehung des Gefühls auf das Ich, die wir jetzt nachgewiesen haben, wird Realität für das Ich möglich, sowohl die des Ich, als die des Nicht-Ich. – Etwas, das lediglich durch die Beziehung eines Gefühls möglich wird, ohne dass das Ich seiner Anschauung desselben sich bewusst wird, noch bewusst werden kann, und das daher gefühlt zu seyn scheint, wird geglaubt. – An Realität überhaupt, sowohl die des Ich, als des Nicht-Ich, findet lediglich ein Glaube statt.) ______________________________________________________________________
J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, Siebenter Lehrsatz, Hamburg 1979, S. 217f. 

 
Nota. - Entgegen einer landläufigen Auffassung lehrt der Fichte'sche Kritische Idealismus keineswegs die Irrealität der Welt; und nicht einmal, dass man 'darüber nichts wissen kann'. Er lehrt jedoch, dass die Frage selbst in wissenschaftlichem Verständnis ohne Sinn ist. Denn unser Wissen besteht lediglich aus dem, was in unserem Bewusstsein vorkommt - egal, ob wahr oder falsch. Und in unserem Bewusstsein kommen keine Dinge vor, sondern nur Vorstellungen. Wissenschaftlich sinnvoll ist lediglich die Frage, wie wir dazu kommen, einigen unserer Vorstellungen eine Existenz auch außerhalb unseres Bewusstseins zuzu-schreiben und andern nicht; und warum wir glauben, beides unterscheiden zu können. 

Der Sinn dieser Frage liegt auf der Hand. Wenn wir für unsere Annahme überzeugende - uns überzeugende, wen denn sonst? - Gründe finden, dürfen wir vorläufig in unserm Han-deln darauf bauen. Doch wenn nicht, wäre all unser Tun ein bloßes Glücksspiel, und der Weise wäre nicht besser dran als der Narr.

Wenn ja, können die so gewonnen Unterscheidungsmerkmale uns im weiteren Verlauf dabei dienen, falsch und richtig voneinander zu scheiden - und begründet und unbegründet.

Dass wir aber an die Wirklichkeit der Welt glauben, ist die Voraussetzung unseres Zusam-menlebens in der Welt; und daher die Voraussetzung der Vernunft.
JE,
23. 10. 18



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Mittwoch, 19. November 2025

Die Annahme der Wirklichkeit der Welt ist denknotwendig.

                              zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Wird die reale Tätigkeit des Ich beschränkt,* so entsteht notwendig, da die ideale Tätigkeit immer bleibt, eine / Anschauung, vor der Hand nur die des Beschränkenden. Dieses ist so-nach ein ganz bestimmter Zustand des Ich. Von ihm aus kann eine genetische Einsicht in das jetzt Gesagte gegeben werden. 

An diesem Zustand soll eine Veränderung erfolgen, wie und woher wissen wir nicht, wir haben sie wirklich postuliert. Das Ich wird durch diese Veränderung in seiner Beschränkung beschränkt. Im ersten Zustand (voriger Paragraph) ist das Ich und ist es irgend etwas, es ist fixiert, gehalten; ein bestimmtes Streben in ihm, weil es beschränkt ist. Oder Tätigkeit ist in ihm negiert, welches der Charakter des Seins ist.

Das Ich ist aber noch nichts für sich; es ist auf jenem Gesichtspunkte keine Reflexion des Ich auf sich selbst abgeleitet. Es wird sich finden, dass das Ich zu diesem Anschauenden ein Sein für sich haben wird. Dieses Sein ists nun, welches durch diese Veränderung beschränkt wird, durch B im Gegenstatze zu A, wo nur ein Streben beschränkt wurde. Das Sein des Ich ist das Beschränkte. Das Gefühl B als Gefühl überhaupt ist auch Beschränkung des Strebens, hat dies mit A gemein; aber wir abstrahieren hier davon und sehen nur darauf, dass es das Gefühl B ist, wir sehen nur auf die Veränderung.

Ein Sein ist nur für die ideale Tätigkeit. Nun geht auf alles Sein des Ich noch nicht die ideale Tätigkeit, insofern kann also das Sein und die ideale Tätigkeit nicht beschränkt sein, aber die ideale Tätigkeit geht in der Anschauung Y auf das Sein von Y; wird nun, wie es dem Erwie-senen nach geschehen muss, das Sein des Ich beschränkt, so würde das Sein im Anschauen des Y beschränkt, verändert.

Aus der Beschränktheit und Veränderung meines Seins folgt auch die Beschränktheit und Veränderung des Seins außer mir. Zufolge der Beschränkung meiner realen Tätigkeit in A entsteht notwendig die Anschauung Y eines Beschränkten (voriger Paragraph); wird diese Beschränktheit A als Grund der Beschrän-kungY wieder beschränkt, so folgt eine Beschrän-kung des Gegründeten [sic], dies gibt die Anschauung Y. Beschränktheit der realen Tätigkeit gibt Anschauung (voriger Paragraph).

Ein bestimmtes Quantum jener Beschränktheit gibt ein bestimmtes Quantum Anschauung. Wird der Grund be/schränkt, so wird es auch das Begründete (Ich bin in der Anschauuung beschränkt heißt: Ich bin in der Vorstellung
Y gebunden, das Mannigfaltige darin so zu ord-nen und nicht anders; jede Beschränktheit erregt ein Gefühl, sonach auch die Beschränkt-heit der idealen Tätigkeit in der Anschauung Y.)
___________________________________________________________
J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S.
93ff. 


Nota. - Was Fichte in den Rückerinnerungen mit spitzfindiger Zurichtung der Philosophie gemeint haben mag - hier wird es deutlich. Der Sinn ist, die Beschränktheit der seienden Dinge außer mir zurückzuführen auf eine Beschränktheit im Sein des Ich: "Aus der Be-schränktheit und Veränderung meines Seins folgt auch die Beschränktheit und Veränderung des Seins außer mir." Was eine 'beschränkte Beschränktheit' und eine 'Beschränkung des Seins' (in welchem bereits 'alle Tätigkeit negiert' war) sein soll, leuchtet mir nicht ein; und ich kann mir nicht einmal die Trivialität verkneifen, an der Verlässlichkeit des Protokollan-ten zu zweifeln

Der Zweck der Spitzfindigkeit ist aber immer noch, unsere Annahme der Realität der Dinge außer uns als denknotwendig zu demonstrieren: "Ein bestimmtes Quantum jener Beschränkt-heit gibt ein bestimmtes Quantum Anschauung." Ob ihm das an dieser Stelle gelungen ist, ist diskutabel. Wer aber seine folgenden Ausführungen verfolgen will, muss vorläufig an-nehmen, dass.

PS. Ich glaube - mehr traue ich mich einstweilen nicht zu sagen -, dass die Annahme der Wirklichkeit der Welt nicht - positiv - denknotwendig ist, sondern dass - negativ - unter umgekehrter Annahme alles wirkliche Denken schlicht unmöglich wäre. Denn ohne Wirk-lichkeit der Welt gäbe es für ein Ich nicht einmal in der Vorstellung Platz.
 JE, 27. 10. 18 
 
 
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE 

Wie verhält sich die Wissenschaftslehre zur Logik?

René Burri                          zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik [65] Die Wissenschaftslehre soll für all...