zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik
Bemerkung: Beides, die theoretische und praktische Philosophie
ist Wissenschaftslehre, bei-de liegen auf dem transzendentalen
Gesichtspunkt; erstere, weil ja hier auf das Erkennen ge-rechnet wird,
also auf etwas in uns, und nicht geredet wird von einem Sein; letztere,
weil überhaupt gar nicht das Ich, das Individuum betrachtet wird,
sondern die Vernunft über-haupt in ihrer Individualität. Die erstere
Lehre ist konkret, die letzte ist die höchste Abstrak-tion: der des
Sinnlichen zu dem reinen Begriffe als einem Motiv.
3) Es
wird in der Ethik nicht das eine oder andere Individuum betrachtet,
sondern die Ver-nunft überhaupt. Nun ist die Vernunft dargestellt in
mehreren Individuen, die sich in der Welt durchkreuzen. Soll der Zweck
der Vernunft erreicht werden, so muss ihre [=deren]
phy-sische Kraft gebrochen und die Freiheit jedes eingeschränkt werden,
damit nicht einer des andern Zwecke störe und hintertreibe.
Daraus
entsteht die Rechtslehre oder Naturrecht. Die Natur dieser Wissenschaft
ist sehr lange verkannt worden; sie hält die Mitte zwischen
theoretischer und praktischer Philoso-phie, sie ist theoretische und
praktische Philosophie zugleich. Juridische Welt muss vor der
moralischen vorhergehen.
____________________________________________
J. G. Fichte,Wissenschaftslehre nova methodo, S. 242
Nota. - Die
Vernunft 'ist dargestellt in mehreren Individuen, die sich in der Welt
durchkreu-zen'... Sie ist nicht bloß "dargestellt in...", sondern ist
buchstäblich nichts anderes als das vernünftige Handeln dieser mehreren Individuen, 'die sich in der Welt durchkreuzen'. Vor-her jedenfalls 'ist' sie nicht.
Der große Zweck der Vernunft sei Übereinstimmung,
sagt F. an anderer Stelle (aber zur selben Zeit); und hier genauer:
dass "nicht einer des andern Zwecke störe und hintertreibe". Von welchen Zwecken hier die Rede ist, unterscheidet er nicht. Wenn Zweie um dieselbe Schöne buhlen, gebietet ihnen die Vernunft da etwa 'Übereinstimmung'? Oder
überhaupt irgendwas? Nein, das ist etwas - und das dürfte F. kaum anders
gesehen haben -, wozu die Vernunft gar keine Meinung hat, ja wovon sie
nicht einmal Notiz nimmt.
Ein jedes Individuum hat tausend Zwecke, die 'eine Reihe vernünftiger
Wesen' gar nichts angehen, sondern nur ihn und die, denen er persönlich
verbunden ist; und sicher sehr viel mehr, als Zwecke, die das
öffentliche Interesse berühren. Da hat er es nur mit seinem
Ge-schmacksurteil zu tun (und moralische Urteile sind Geschmacksurteile, die auf Willensakte bezogen sind);
das muss er mit sich ausmachen und mit denen von seinen Nächsten, denen
er Zugang zu seinem Privatleben gewährt. Und nur jene andern Zwecke,
deren Realisierung öffentliche Folgen haben würde, sind dem Richtspruch
der Vernunft unterworfen und be-rühren das Reich des Rechtlichen und daher auch das Politische.
Fichte lehrte zu einer Zeit, als die Scheidung der bürgerlichen Welt in
einen öffentlichen und einen privaten Raum noch kaum begonnen hatte -
weil die vielen Privaten vom Recht-lichen und Politischen noch ausgeschlossen waren; seine Lehre hatte ja nicht zuletzt den Zweck, ihnen
solchen Zutritt erst zu verschaffen. Wie die Freiheiten der
leidenschaftlich sinnlichen Individuen gegen die Ansprüche der 'Reihe
vernünftiger Wesen' zu wahren sind, lag noch nicht in seinem
Gesichtsfeld. Das ist, wie gesagt, historisch verständlich, aber ein
theoretischer Fehler war es doch.
20. 5. 16
Nota II. - Nach F.s Darstelluung am Schluss der Nova methodo ist
'das Ästhetische' die Brücke vom 'gemeinen', dogmatischen und
realistischen Bewusstsein zum transzendentalen Gesichtspunkt. Wie aber
das? Indem die an die Dinge verfallene Vernunft an einer Stelle - welcher? - sich nicht mehr genügt - wieso? - und über sich hinausgeht - wie?.
Das erklärt er gar nicht. Er sagt lediglich: Es ist so. Der Beweis, dass es so ist, sind die Schö-nen Künste, genauer, die Künstler, denn sie tun es ja, und wenn es nicht möglich wäre, könn-ten sie es nicht.
Es ist wahr, die Transzendentalphilosphie sagt nicht, dass es so kam, weil es so kommen musste, und sie wisse, warum.
Das Warum stand ohnehin fest: Was immer in der Vorstel-lung geschieht,
geschieht durch Freiheit. Die Transzendentalphilosophie zeigt immer nur
die Bedingungen der Möglichkeit auf; um die Möglichkeit zu realisieren, braucht es dann nur noch einen Willen.
Was
aber ist die Bedingung der Möglichkeit des ästhetischen Erlebens? Dass
die Reflexion sich überbietet? Nein, im Gegenteil: dass sie ihrer
enträt. Die Reflexion - das, was regulär als vernünftig gilt - kommt
immer nicht weiter als bis zum Verhältnis von Ursache und Wir-kung. Sie
hat nichts anderes, wovon sie ausgehen könnte, als das, was sie
vorfindet - als sei-end. Und das sind immer Begriffe; genauer:
Begreifliche und Begriffene; Erfahrungsbegrif-fe - phainomena - so gut wie reine Verstandesbegriffe - noumena; als da wären Ich, Welt, Grund und - nun ja: Sein.
Das Ästhetische ist möglich, weil es der Vernunft aus Freiheit möglich ist, sich des Begrei-fens zu enthalten. Dann ist die Welt nicht gegeben, sondern wird angeschaut - als ein Ge-schehen, so, als ob sie eben gemacht würde, und ich bin mittenmang dabei. Das Paradox ist: Es wird lediglich angeschaut - aber geurteilt wird doch. Nicht nach Gründen, die kennt erst die Reflexion; sondern danach, was ohne Interesse gefällt und was nicht.
So
kommt das Ich außer, neben und über sich zu stehen. So wird der
transzendentale Ge-sichtspunkt möglich. Und was für das Geschehende
überhaupt gilt, gilt besonders für das, was willentlich geschieht.
Moralität besteht in ästhetischen Urteilen über Willensakte.
JE, 11. 6. 19
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen