Sixtinische Kapelle zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik
Die Frage nach dem Grunde gehört
selbst zu den notwendigen Vorstellungen.
Man sucht nur den Grund
von zufälligen Dingen. Die Philosophie überhaupt sucht den Grund von
notwendigen Vorstellungen; diese müssen also als zufällig gedacht
werden.
Es wäre Unsinn, nach
dem Grund eines Dinges zu fragen, das ich nicht für zufällig hielte. Ich
halte etwas für zufällig heißt: Ich könnte denken, dass es gar nicht
oder dass es ganz anders wäre. So sind die Vorstellungen vom ganzen
Weltsystem; wir denken uns die Erde füglich als anders sein könnend, und
uns selbst können wir auf einen andren Planeten ver-setzt denken. Ob wir
ohne solche Vorstellungen sein könnten, belehrt uns die Philosophie;
aber dass wir das Weltsystem für zufällig halten, ist gewiss, denn nur
darum können wir nach einem Grund fragen.
Dieses Faktum enthält
die ganze Erfahrung; aus dieser geht man heraus, mithin auch aus der
gesamten Erfahrung heraus, und dies ist Philosophie und nichts anderes.
_______________________________________________________________________J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, II. Einleitung, Hamburg 1982, S. 13
Nota I. - Der
gesunde Menschenverstand sieht das ganz anders. Was zufällig geschieht,
scheint ihm nicht hinreichend begründet, und was hinreichend begründet
ist, kann eigent-lich gar nicht anders sein. - Doch der gesunde
Menschenverstand ist ein Metaphysiker, für ihn sind logische Gründe und
reelle Ursachen dasselbe. Aber notwendig ist nur das Logi-sche, alles
Faktische ist nur mehr oder minder wahrscheinlich, und also mehr oder
minder kontingent. Für das metaphysische Denken sind indessen beides
'Kräfte' aus einem 'Stoff', denen ein und dieselbe Substanz 'zu Grunde
liegt'. Und die stellen sie sich unweigerlich als einen Schöpfer vor - der selber aber 'ganz anders' hätte schöpfen können!
Die kritische
Philosophie macht es möglich und recht eigentlich notwendig, sich das
bloß Seiende, das lediglich ist, weil es ist, als einen Zufall
vorzustellen. Erst dann kann und muss man immer fragen: warum? Und keine
Antwort kann je die letzte sein, man muss immer weiter fragen: warum
nun aber dies? Einen Anfang wird man nie finden, man müsste ihn schon postulieren. Doch auch nur die Kritische Philosophie erlaubt, einen Akt der Freiheit zu denken.
10. 6. 16
Nota II. - Nein: Der gesunde Menschenverstand glaubt gar nicht an den Zufall. Verstand, nämlich kein Aberglaube, ist er eben wegen
seiner Gewissheit des Gesetzes von Ursache und Wirkung. Wenn eine
Ursache nicht offenkundig ist, nimmt er eine an, die so vielfältig
vermittelt ist, dass sie ihn - den gesunden Menschverstand - übersteigt. Chaostheorie ver-steht er vielleicht nicht, aber er glaubt
sie gern. Die Vorstellung, dass etwas einfach nur so ist, wie es eben
ist, und keinen hinreichenden Grund dafür hat, ist ihm gar nicht möglich
- so wenig wie dem Aberglauben: Auch der nimmt immer eine Ursache an,
und gern auch eine okkulte.
Genauer gesagt, einen
Verursacher. Den hat auch im Vernunftzeitalter noch das Kirchen-dogma
verbürgt, im Deismus der Aufklärer wurde er lediglich aus der Welt
heraus vor deren Anfang versetzt, als Uhrmacher und Anstoßgeber.
Fichte schrieb schon in der Epoche der Naturgesetze. Auch hinter denen steht die Annah-me von einem, der gesetzt hat. Für die hinreichende Ursache ist a priori gesorgt; auch dann noch, wenn ich mir das Naturgesetz ohne gesetzgebenden Schöpfer als unerschaffene, von sich aus wirkende Kraft vorstelle (die dann freilich selber ohne Grund wäre). Zufällig ist nun das, was nicht offenkundig unters Naturgesetz fällt; das bedarf einer Begründung. So etwa die Welt, die schon war, bevor ein Gesetz in ihr wirken konnte.
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Fichte geht es hier um die notwendigen Vorstellungen und den ganzen Komplex der Denknotwendigkeit. Es gibt ein Denken, das uns als notwendig vorkommt. Um das erklä-ren zu können, müssen wir es im Gegenteil als zufällig denken: so, als ob es auch anders sein könnte. Da sagt er mehr, als er sich ausdrücklich zu formulieren wagt: Es muss selber aus Freiheit notwendig geworden sein; aus Freiheit notwendig. Das ist der einzige Grund, der selber keinen hat und daher in unserer Welt von Ursachen und Wirkungen als Zufall er-scheint. Aber auch nur, weil er in unserer Welt gar nicht stattgefunden hat, sondern in der Vorstellung, und in unserer Welt erst wirklich wirkt, wenn er sich zu einem Ich bestimmt und Zwecke gesetzt hat.
4. 10. 18
Nota III. - In logischer Hinsicht ist alles, was in Raum und Zeit geschieht, zufällig: Es könnte immer auch anders sein. - Aber doch nur, wenn die Naturgesetze andere wären! - Ja, aber dass die Naturgesetze so und nicht anders sind, ist in logischer Hinsicht zufällig. Und je weiter oder tiefer Makro- und Mikrophysik vorstoßen, um so zweifelhafter wird - gerade in forschungspragmatischer Hinsicht - die Vorstellung vom Naturgesetz selber. Es bleibt nur das Faktum von Vorgängen, sie häufiger, und solchen, die seltener sind. Begrifflich reicht das nicht weiter als bis zur Vorstellung von Wahrscheinlichkeiten; und auch dies nur auf Widerruf. - Und nur darum könnten wir, sagt Fichte, nach einem Grund des Weltsy-stems fragen! Doch in faktischer Hinsicht kommen wir nicht weiter oder tiefer, als bis zum Urknall. Und ab da schwirrt uns der Kopf
In logischer, nämlich onto logischer Hinsicht nach einem Weltgrund fragen ist schlicht ge-dankenloser Mutwille.
JE, 23. 4. 21
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